peter.mahr
<2020.4> Übersetzung. Thierry de Duve, Au nom de lʼart. Pour und archéologie de la modernité, Paris: Minuit 1989, Klappentext. Mit freundlicher Genehmigung von Thierry de Duve am 19. 10. 2020. 1790 Zeichen. online 20. 10. 2020 .html
Man sollte niemals aufhören, sich zu wundern oder zu beunruhigen, was unsere Epoche so vollkommen legitim findet, dass nämlich jemand ein Künstler wäre, ohne Maler zu sein oder Schriftsteller oder Musiker oder Bildhauer oder Filmemacher… Hätte die Moderne die Kunst im Allgemeinen erfunden?
Ist es nicht vielmehr die ganze Zeit der Moderne hindurch die Formel „Das gehört zur Kunst“, die auf irgendeine Sache angewendet wurde in Bevorzugung gegenüber jeder anderen Formel wie etwa „Das ist schön“, jene Phrase, durch die das ästhetische Urteil allgemein ausgedrückt wurde?
Hier also eine Pissmuschel. Sie wurde als bereits vorgefertigte an einem gewissen Tag im Jahr 1917 von einem gewissen Marcel Duchamp ausgewählt. Sie machte seinen Erfolg als Künstler, als Antikünstler oder als Anartist und regte auf Gedeih und Verderb die Hälfte der Künstler nach ihm an. Man hat auf seinen Vorschlag hin gesagt: „Das ist Kunst.“ Dieses Buch sagt es erneut. Und indem es das tut, findet es in seiner Reichweite so manche Elemente einer Antwort auf die Fragen der Moderne.
Auf die theoretische
Frage „Was ist Kunst?“ antwortet der erste Teil
in Schräglage und mit Verzögerung: Die Kunst war ein
Eigenname. Auf die kritische
Frage „Welche Ästhetik für die Moderne?“,
antwortet der zweite Teil frontal und an die Gegenwart gerichtet: Kant gemäß Duchamp. Die ethische Frage
„Was tun, was soll uns die Kunst?“ beantwortet der dritte
Teil nicht, er nimmt aber den
modernen Imperativ Mach was immer! als Leitfaden der Geschichte
auf. Die Landkarte, deren punktierte Kontur
dieses Buch skizziert, ist diejenige einer Epoche, die
danach verlangt, periodisiert zu
werden – ein paradoxer Fleck, der zweifellos ironisch
und durchaus nicht akademisch ist – , um zu vermeiden, dass sie an ihr
frühzeitiges Ende rührt.
Thierry de Duve © 1989
Peter Mahr © 2020 für die Übersetzung
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