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<2019.2> L’art philosophique. Private Oper. 50 Jahre In the Court of the Crimson King. 7.598 Zeichen. online 2. 10. 2019 .html


Was fasziniert uns an den 1960er Jahren? Die Phantasie? Die Jugend? Das Experiment? Was immer es war, es geschah nirgendwo mehr als in der Popmusik. Im Lauf des Jahrzehnts schossen immer mehr Pop-Bands aus dem Boden. Am 10. Oktober 1969 erschien In the Court of the Crimson King, die erste Platte von King Crimson. So sensationell wie die Rockband live, belegte das Album Platz 5 der britischen LP-Charts, in Japan sogar Platz 1.

Die A-Seite beginnt mit einem anspruchsvollen Riff. In einer hermetischen Kammer setzt es Gitarrenschocks simultan zu Schreien: „Blood rack barbed wire / Politicians’ funeral pyre / Innocents raped with napalm fire / Twenty first century schizoid man“. Heulend hetzen Gitarre und Saxophon im 3/8-Takt einer Bebop-Improvisation davon. Freejazz-Chaos beendet den Horror. Schnitt/zweite Nummer, der Folk-Song „I Talk to the Wind“, harmonisch verfremdet an die Verträumten: „Said the straight man to the late man / Where have you been?“ Flöte und sanft elektrische Gitarre kosten die Idylle in Soli aus, um in einem Paukenwirbel zum langen dritten Song „Epitaph“ anzuschwellen: „Confusion will be my epitaph / As I crawl a cracked and broken path / But I fear tomorrow I'll be crying“. Innig musizierter Weltschmerz. Großes Kino auch das schillernd metallische Mellotron, das mit Tasten einzelne Tonbänder von Violinen in allen Tonlagen abrufen und verfremden kann. Es zieht einen verminderten Dur-Akkord zwei Tonschritte höher zum orchestralen Höhepunkt in Moll (Minute 3:43-3:56). Folgt ein schier unendliches, hymnisches Fade-out.

Die B-Seite besingt in der vierten Nummer ein weibliches „Moonchild“, wie es im gemalten Sternenhimmel der Cover-Innenseite vorkommen könnte. In der Ferne schwebt ein Sinus-Gitarrenton. Assoziativ umgarnen sich dann ruhige Toncluster des funkelnden Vibraphons, der drolligen Gitarre und trockenen Perkussion. Das wuchtige Finale der fast 10-minütigen fünften Nummer „The Court of the Crimson King“ bringt einen mehrstimmigen Refrain aus dem Anfang von Samuel Barbers Essay For Orchestra 1. Das Mellotron führt zu den Strophen einer kunstvoll geschichteten Komposition. Elektrisches Cembalo, Klarinettensätze unterstützen das fast bombastische Pathos. Abrupt endet das Stück mit elektronischer E-Musik wie aus dem Film 2001 A Space Odyssey.

King Crimsons Erstling wird heute als Grundlegung eines ganzen Genres angesehen. Hatten die Beatles mit der LP Sergeant Pepper’s Lonely Heart’s Club Band versucht, politische Inhalte, versponnene Lyrik und Instrumentales zusammenzuschmieden, so gelang das erst King Crimson mit Verbindung exponierter, heterogener Teile. Zum ersten Mal verschmolzen überzeugend Psychedelik, Symphonisches, Folk, Jazz, Elektronik und Improvisation zu einem komplexen Rock. Rhythmische Dynamik wurde zur willkommenen tänzerischen Herausforderung im Club. Nun wurden aufeinander bezogene Kompositionen montiert oder gemischt. Zum ersten Mal verarbeitete eine Band im Studio kollektiv ihre virtuosen Stücke zu einem typischen Sound.

An diese imposante Vorlage knüpften in den nächsten Jahren der sogenannte progressive Rock an, wobei ‚progressiv‘ romantische Klassik bis ins antimoderne 20. Jahrhunderts einschloss. Es entstand Großartiges von Emerson, Lake & Palmer, Jethro Tull, Gentle Giant, Curved Air, Genesis und Yes. Selbst Pink Floyd und Black Sabbath waren damals konzeptuell von King Crimson angeregt.

Für solche Schöpfungen braucht es die richtigen Musiker. Bei King Crimson waren es drei junge, gebildete Freunde aus der Gegend um Bournemouth an der englischen Südküste, die sich mit zwei Londoner Freunden zusammentaten: der sound-bewusste Gitarrist Robert Fripp, der vielseitige Trommler-Perkussionist und Backgroundsänger Michael Giles, der ausdrucksvoll empathische Sänger-Bassgitarrist Greg Lake zusammen mit dem Big-Band-Arrangeur und Tausendsassa Ian McDonald mit Backgroundvocals am Mellotron, Klavier, Harmonium, Cembalo, Vibraphon, Saxophon, an Flöten und Klarinetten und dem Namensgeber der Band, Peter Sinfield, Fantasy-Lyriker, verantwortlich für die Lightshows und die LP-Cover-Aufträge.

Der Cover! Aquarellist Barry Godber lässt einen schlimm aussehenden, leicht comicshaften riesigen roten Kopf blau anlaufen und zerlegt so das rötliche Violett des traditionell majestätischen Karmesinrots. Der Schädel stülpt sich aus einem der roten Sterne auf den beiden Cover-Seiten wie aus einer der Blasen in einer Lavalampe. Augen und Mund sind in einem paranoischen Grauen aufgerissen. Der Schrei bleibt stumm. – Was ist das? Eine Illustration einer Folter im Vietnam-Krieg? Die Veranschaulichung des LSD-Horrortrips eines Hippies? Oder ist es, wiewohl unwahrscheinlich, König Crimson selbst, den weder die Lyrics noch der Cover sonstwo identifizieren?

Diese Ungeklärtheit gehört zu den Stärken der Platte. Der unbeschriftete Plattencover avanciert zum veritablen Bühnenbild für die Phantasie der Hörer*in. Abseits von Rockopern wie Tommy von The Who oder Andy Warhols Multimedia-Show für Velvet Underground handelt es sich hier um eine offene Oper im Rohzustand. Die Hörer*in kann die Stücke, die gut lesbaren Lyrics und die beiden ergreifenden Bilder nach Belieben kombinieren. Sie kann die klanglichen, bildlichen und literarischen Figuren frei zu einer privaten Fiktion assoziieren. Ja, sie kann sich unbeschwert von der altehrwürdigen Kunst der Oper ein eigenes Musikdrama zusammenstellen.

Kein Wunder, In the Court of the Crimson King war erfolgreich. Doch der Band tat der Erfolg nicht gut. Die perfekte Vorgabe der LP mit beträchtlichen Overdubs belastete die intensiven, präzisen Auftritte. Eine USA-Tournee Ende 1969 kostete viel Kraft. Spannungen zwischen den Musikern taten den Rest. Giles und McDonald stiegen aus. Lake liess sich von Keith Emerson für das Band-Projekt mit Carl Palmer abwerben. Beinahe zerbrach die Band.

Aber fabelhaft gespielte Stücke wie das grauenerregende „Mars“ warteten auf die Einspielung. Fripp und Sinfield machten weiter, wenn auch bei ständigen Umbesetzungen der Band. Die folgenden Alben kamen an die souveräne Einheit des Erstlings nicht ganz heran. Einbußen an Stilistik, Sound und Energie waren die Folge, etwas später kam es zu einem härteren gitarrenlastigeren Rock. Der ‚progressive‘ Rock hielt in den 1980er Jahren generell dem Formenschwund nicht stand, den der Aufstieg der CD mit bewirkte. Dieser Rock ging beinahe unter wie die Vinyl-Longplay und ihre produktiven zwei Mal 20 Minuten Musik und 30 Mal 30 Zentimeter großen Cover.

Erst in den 1990er Jahren wurde King Crimsons Modell von Bands wie Radiohead, Dream Theater und Porcupine Tree wieder aufgegriffen. Rapper Kanye West beschäftigte sich in „Power“ mit Sample und Lyrics von „21st Century Schizoid Man“. ‚Progressiver Rock‘ mit dem frühen Modell von King Crimson ist zu einer Kategorie aufgestiegen. Selbst die Band um Robert Fripp spielen seit 2004 in langen Konzerten wieder „Schizoid Man“, „Epitaph“ und „The Court of the Crimson King“. Ein großes Album lebt in verschiedener Weise weiter.

Bibliographie:

Covach, John (2006): What’s That Sound? An Introduction to Rock Music, New York: Norton.

Eco, Umberto (1962): Opera aperta. Forma e indeterminazione nelle poetiche contemporanee, = Portico. Critica e saggi 38, Milano: Casa Ed. Valentino Bompiani.

Keeling, Andrew (2009): Musical guide to In the court of the Crimson King by King Crimson, hg. v. Mark Graham, Cambridge-E: Spaceward.

Macan, Edward (1997): Rocking the Classics: English Progressive Rock and the Counterculture, New York-NY/Oxford-E: Oxford University Press.

Smith, Sid (2001): In the court of King Crimson, London: Helter Skelter.


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