peter.mahr

<2019.1> Criticism commented. Nikolaus Geyrhalters Erde und Martin Heideggers Streit zwischen Welt und Erde. 11.399 Zeichen. online 18. 5. 2019 .html


Erde beeindruckt. An diesem zweistündigen Dokumentarfilm fallen auf die langen, statischen Einstellungen auf sieben Bergbaustätten, in denen gerade gearbeitet wird: die großformatigen mitunter verrätselnden Landschaftsfotografien auch mit statischen Drohnenkameras aus großer Höhe, die Fern- und Nahaufnahmen auf Fahrzeuge und Maschinen, die Interviews mit Personen etwa in der Mitte von Panoramen.

Das alles ist ausgestattet mit sorgfältig aufgenommenen Tondokumenten. Von ihnen verrät Geyrhalter in der Podiumsdiskussion von Global 2000 nach der Premiere im Gartenbaukino am 17. 5. 2019 (mit Lisa Kernegger von Global 2000, Harald Egerer vom United Nations Environment Programme und Senior Researcher Philipp Hartlieb von der Montanuniversität Leoben), dass noch eine besondere Abmischung und Montage den reinen Schrift-Credits am Schluss des Films unterlegt wurden. Nicht weniger als fünf TonassistentInnen stehen den sechs Kameraassistenten gegenüber.

Wie schon 2005 in den zwei Bergbau- von fünf Episoden in Workingman’s Death von Michael Glawogger (* 1959 † 2014) – weniger diejenige aus dem Donbass-Kohlerevier als diejenige aus dem Schwefel-Tagbau auf Java – , zeigt sich auch in Erde eine schier unumgängliche Ästhetisierung der Arbeit. Diese Ästhetisierung ist nicht nur der Kamera, dem Format, der Filmlänge und dem Kino-Ort der Rezeption geschuldet. Doch anders als Glawogger klagt Nikolaus Geyerhalter (* 1972) die Ausbeutung und Armut der Arbeiter nicht an. Leitende und auch ‚einfache‘ Arbeiter zeigen sich meist entspannt und stolz, sprechen auch einmal vom guten Geld, das verdient wird. Und anders als Glawogger bezieht sich Geyrhalter stark auf die Sicherheitsvorkehrungen, die heute getroffen werden, auf die dafür eingesetzten Maschinen und Arbeitssettings, die in den Stätten fortgeschrittener Industriegesellschaften Standard sind. Es läuft ein bisschen auf eine indirekte, wiewohl wahrscheinlich von Geyrhalter nicht beabsichtigte Feierlichkeit für die Industrie hinaus. Die Feier mit der Patscher Blasmusik (bei der auch der Tod eines Imre nicht verschwiegen wird) am Eingang des Brenner-Basistunnels bekommt derart ein seltsam katholisches Gepräge.

Diese Ästhetisierung erlaubt aber – neben der gesteigerten Umweltkrise im Vergleich zu vor 15 Jahren in unser aller Hintergrund – heute eine größere Publikumsresonanz. Gerade indem Erde in das Schöne und Erhaben-Monumentale sublimiert und dadurch die Drastik der gegenwärtigen Problematik des Globus zunächst etwas in den Hintergrund drängt, wenn nicht gar verdrängt, spricht Geyrhalter die mitgemeinte untergründige Unruhe an. Dem kommt entgegen, dass die porträtierten Personen selbst erstaunlich viel Kritik, Skepsis, ja Pessimismus gegenüber ihrer eigenen Arbeit äußern, psychisch gespalten, wie wir alle heute bis zu einem gewissen Grad sind.

Tatsächlich überwiegen die schönen Bilder. Das San Fernando Valley, in dem der Boden für eine ganze Stadt planiert wird, Carrara, dessen weiße Steinquader in ihrer geometrischen Perfektion wie fertige Skulpturen aussehen, das kanadische Fort McKay mit seiner bereits weitgehend überwucherten Baustelle von vor Jahrzehnten, die etwas ästhetisch Beruhigendes ausströmt. Selbst der Braunkohletagbau in Gyöngyös und das kupfer-abbauende Minas de Riotinto faszinieren noch optisch durch die landschaftliche Einkerbung, die die Gelände mit der Zeit angenommen haben. Nur das Ungestalte des Erdinneren des Brenner-Basistunnels und der Wolfenbütteler Atommüll-Endlagerstätte in einer aufgelassenen Salzabbaustätte verlagern den Eindruck auf technische Hochleistungen und die Menschen, die in den Berg gehen.

Merkwürdigerweise exkludiert Geyrhalter mit seiner Fokussierung auf den Bergbau (die Podiumsdiskussion unterstrich besonders die Teilnahme des angeblich einzigen wirklichen Experten) die weitgehende Verwobenheit wie Untrennbarkeit des anorganischen Steins mit Bodenschätzen und der organischen Schicht des biosphärischen Erdreichs. Nur am Rand fallen hier die Bewegung von Erdboden im San Fernando Valley auf, die Verwüstung noch nach Jahrzehnten im ölsand-verarbeitenden Fort McKay und die versteinerten Sumpfzedern in Ungarn, die ein Abbauhindernis darstellen und ein museales Ereignis, die für die Wächterin des angegliederten Museum auch die Frage der Verwandlung und Rückführung in die Natur aufwerfen. Geyrhalter kommt hier gerade einmal zur Entgegensetzung des Verweises auf das aggressive biblische Macht-euch-die-Erde-untertan und folgender Äußerung von Jean L’Hommecourt, der First Nations Umweltberaterin indianischer Herkunft: „Für mich in meiner Kultur … sind wir von der Erde und wir brauchen die Erde zum Überleben, um als Mensch zu existieren. In unserer Kultur glauben wir, dass jedes Element der Erde einen Geist hat.“ (aus dem professionellen Presseheft der Film-Website http://erde-film.at/deutsch/download) Auch die wirtschaftlich-technische Dimension kommt zur Sprache, wenn der sein Leben über den Adrenalinspiegel definierende Steinbrucharbeiter erzählt, dass früher für das Heraussschneiden eines Blocks zwei Tage, heute hingegen nur mehr eine Stunde benötigt wird.

Hier erfuhr man vom Podium und vom zu einem sehr geringen Teil am Filmischen interessierten Publikum Interessantes. Eine Endlichkeit der Ressourcen besteht nicht, eventuell nur eine von komplizierter und teurer werdenden Förderanstrengungen. Dagegen steht die Gefahr gleich mehrerer globalen Treibhäuser und dass eigentlich die Landschaft die begrenzte Ressource ist. Und dann kamen beeindruckende Zahlen, bei deren Nennung manche KinozuseherInnen aus anscheinendem Überdruss den Saal verließen: 258 Millionen Tonnen Erdbewegung pro Tag; zur Zeit bis zu 50 Milliarden Tonnen pro Jahr Sandförderung, Tendenz zunehmend; 1 % der Weltfläche durch Bergbau besetzt; 12 Hektar Bodenversiegelung pro Tag in Österreich.

Denkt man genauer über das, was Erde ist, dann wird es schnell kompliziert. Erde hat Geyrhalter geschickt angesprochen, wie auf dem Podium bemerkt wurde, und zwar sowohl als die bewegte Erde als auch als Symbol für die ganze Erde. Das heißt, mit den gewaltigen Bewegungen des Bergbaus und seinen ökologisch weitreichenden Folgen hebt der Film die ökologische Betroffenheit auf eine symbolische Ebene.

Erde ist aber nicht nur die steinerne Erdkruste mit ihren Bodenschätzen und der Erdball als Planet im Weltall. Es gibt noch den Erdkreis, orbis terrarum, das bewohnte Land des Erdbodens (Stein- und Erdboden im engeren Sinn einschließend), die die bewohnte Welt ausmacht. Tatsächlich tritt die Welt – das, was wir zu unserem Leben in einem Raum machen – in eine Verbindung zur Erde, wenn sie nicht immer schon mit ihr in Verbindung sich befindet. Ist dem so, dann ist Erde eine vielleicht nützliche, aber theoretische Fiktion. Vielleicht ist diese Fiktion dem semantisch weiteren ‚earth‘ im Englischen geschuldet, auf dessen Publikum der Film ebenso sehr abzielt wie auf das deutsche. Es lohnt eine Verfolgung dieser Theorie in der Philosophie.

Die Philosophie forderte, gegenüber den Ideologien des Überirdischen der Erde treu zu bleiben. (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Erster Teil, 1883). Sie wies darauf hin, dass bei aller Problematisierung der Relativität des Erdbodens die Erde eine Ur-Arche ist. (Edmund Husserl, Kopernikanische Umwendung der Kopernikanischen Umwendung <1934>, ed. Dünne/Günzel 2006) Wie immer diese Positionen für das Unternehmen Erde einzuschätzen sind, sie forderte auch vor dem Hintergrund des (säkularisierten) In-der-Welt-Seins, die Erde in einen Streit mit der Welt zu bringen, und sei es auch nur in der Kunst. (Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, 1950, Zweiter Teil <1935/36>) Gelingt es, den militärischen (Welt-Krieg), den Phantasy- und den im engeren Sinn kunstphilosophischen Aspekt dieses Streits zwischen Welt und Erde bei Heidegger abzustreifen, dann könnte folgender Kern übrig bleiben.

Heidegger sagt, das Werk stellt eine Welt auf wie eine These, eine Behauptung. Das heißt, das Werk stellt etwas vor und dar. Durch die Materialität des Werks jedoch wird in der Bezugnahme auf die Welt gerade dieser Welt etwas entzogen: es wird etwas hergestellt. Heidegger nennt Stein, Holz, Erz, Farbe, Sprache und Ton. Michelangelo lässt den Stein dem Steinbruch in Carrara entnehmen und zu ihn her stellen. Er stellt ihn zu sich her, und er stellt die Skulptur aus ihm her. Dieses Verhältnis gilt für alle Werkstoffe. Sie entstammen letztlich der Erde, auch die organischen Verbindungen, das Licht der Verbrennung, der elektrische Strom. Von der Kunst fordert Heidegger, dass das Werk in der ‚Erde‘ verankert ist. Das wiederum gelinge nur durch eine Auseinandersetzung, eine Konfrontation, einen Kampf der Kunstwelt womit? – nicht mit der Gesellschaft (was Heidegger nicht einmal in Erwägung zieht, Schwachpunkt!), sondern mit der Materialität.

Nun müsste man eigentlich sagen, dass das Herstellen der Erde und das Aufstellen der Welt in der Kunstproduktion von Anfang an nicht zu trennen sind. Aber in einem Punkt hat Heidegger recht. Die Künstlerin wägt diesen Prozess – auch – hinsichtlich des Gelingens als einem Fundiert-sein im Material ab, im Objekt. Bin ich dem Material, bin ich der ‚Erde‘ gerecht geworden? Anders gesagt, nur den Stein aus dem Steinbruch herauszubrechen, ist noch nicht die Unverborgenheit, die Alétheia, die Wahrheit des Seienden, die Heidegger vom Kunstwerk fordert.

Hier wird Geyrhalter widersprechen. Er selbst sagte auf dem Podium, dass er mit Erde verborgene Bilder zeigen will, die für ihn ein „gewisses Faszinosum“ darstellen.

Hier würden selbst wir, die wir den Film gesehen haben, widersprechen. Zwar ist das Brechen des Steins im Steinbruch von Carrara kein Selbstzweck. Aber so wie es von außen und aus einer gewissen Distanz beobachtet werden kann und wie es Geyrhalter zeigt, könnte es als ästhetischer Selbstzweck gesehen werden.

Wenn es weiterhin um die Vermittlung von Form und Inhalt geht, von Heidegger umdefiniert um den Streit zwischen Welt und Erde als zwischen Lichtung und Verbergung, dann wohl deswegen, um den landschaftlichen, umweltlichen, weltklimatischen, gesundheitlichen und ausbeuterischen, finanziellen wie ideellen Kosten etwas entgegenzusetzen.

Dieser Streit muss heute weltlich für die Erde Partei nehmen. Wie können wir wieder verbergen, wie können wir in die Erde zurückbringen, was wir für unsere Welt mit vielfältig hohen Kosten aus der Erde herausgeschlagen haben? Den Geist aus der Flasche sozusagen. (Hartlieb wies darauf hin, dass drei der vier Abbaustätten mit Energie und ihren Folgen zu tun haben) Das Werk, das zunächst kein Kunstwerk mehr sein kann, würde dann in einer eher behutsamen Operation bestehen: Konfrontation in eine Konglomeration und Verschwisterung aufzuheben. Zunächst. Denn für die Kunst bedeutet das Zweierlei,

die Lehren der Land-Art radikal wieder aufzunehmen, derzufolge die bergbauenden Einschnitte im Bewusstsein eines Verfalls, einer Auslösung und einer Rückeroberung durch die Natur geschehen: siehe Robert Smithson, Michael Heizer und Walter de Maria, aber auch die FotografInnen der Schule von Bernd und Hilla Becher aus dem Ruhrgebiet, aus der etwa Andreas Gurskys fiktiver Formel-I-Parcours in der arabischen Wüste hervorging,

den Film der Dokumente so anzulegen, dass das Ästhetische seiner Bilder in der Dialektik von zu kritisierender Welt und zu bewahrender Materialität aufgehoben und derart zum Kunstwerk der Zukunft wird.

Peter Mahr © 2019

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