peter.mahr

<2017.1.> Miszelle. Prima la scrittura, poi le parole - Sprache gleichzeitig lesen und hören? Zur Uraufführung von "Mondparsifal Alpha 1-8 (Erzmutterz der Abwehrz)" von Bernhard Lang und Jonathan Meese am 4., 6. und 8. Juni 2017 im Theater an der Wien. 3.507 Zeichen  online 10. 6. 2017 .html

Kann Sprache gleichzeitig gelesen und gehört werden? Vielleicht nicht heute, vielleicht morgen, wenn das Gehirn gelernt haben wird,
parallel zu prozessieren. Bis dahin wird das Geschriebene und damit Gelesene dem Gesprochenen/Gehörten zeitlich vorangehen. Aber sollen wir uns das überhaupt wünschen? Die Untertitelung von fremdsprachigen, für taube Menschen lesbar gemachten Filmen und von seit gut zehn Jahren für englische Pubs auf stumm einstellbaren News-Broadcasts will auf die akustische Spur verzichten. Schon anders ist es mit der Nutzung der Erkenntnis, dass Untertitelung die mitunter geringe Verständlichkeit des Operngesangs kompensieren kann. Nun aber, und das hat ein bildender Künstler wie Jonathan Meese erkannt, wird niemand etwas dagegen einwenden, wenn das zur "Übersetzung" verwendete Display der zwei etwas größeren, horizontal länglichen Screens am linken und am rechten Bühnenrand - wie vor Kurzem in Lang/Meeses Mondparsifal Alpha 1-8 - auch zur künstlerischen Gestaltung verwendet wird. Bei Meese sind das unterhalb der weißen Gesangszeilen rote, dichterische Kürzestkommentare, deren typographische Eigenheiten Meese aus seinen so typisch hingekritzelten Privatsprachen übernimmt. Und wieso nicht? Ist doch Schrift immer schon Teil des Bühnenbilds gewesen. Aber, selbst wenn das Publikum das Heraustreten der Schrift aus dem - 'primären' - Bühnenraum in seiner Parallelität/Paratextualität vernachlässigt, bleibt eine Ungenauigkeit. Die zu singenden Worte am Screen scheinen immer simultan auf. "Ich weiß es nicht," singt Parzefool. Und ob das Publikum nun unter Wahrnehmungsdruck steht oder nicht: noch bevor Parzefool Daniel Gloger ausgesungen hat, hat das Auge die Botschaft schon erfasst. Lesen ist schneller als Singen und dieses Hören, es sei denn, das Singen selbst ist so schnell wie das Lesen, womit der Gesang wiederum unverständlich wäre. Die ganze Fragestellung - kann Sprache gleichzeitig gelesen und gehört werden? - wird nicht nur dringlich, weil Schrift heute digital in jede Ritze des Lebens eindringt, sondern auch weil das Ideal der Opernsynästhesie simultane Akte der Wahrnehmung verlangt: Gleichzeitig schauen, lesen und hören; mehr noch, das setzt beinah so etwas voraus wie gleichzeitig produzieren, heißt schreiben, bilden, singen, schauspielen und musizieren wie in einem simultanen Akt der Produktion. So setzt sich schon einmal Meese 'live' in die Parterre-Loge rechts neben den Bühnenrand und schreibt eine Zeichnung mit seinen Symbolen oder blättert mit Leuchtstift durch seine Programmheftvorlage - in die sich das Originalheftchen mit Hakenkreuz von Leni Riefenstahls "Triumph des Willens" verirrt zu haben scheint - , welche Handlung von einer Kamera über Meese vor das sich verwandelnde Bühnenbild projiziert wird. Die Antwort auf die geforderte Kopräsenz von Schrift und Performanz lautete für die Rezipienten traditionell so: Parsifal, ein Bühnenweihfestspiel, in Mainz, London, Paris und Brüssel bei Schott 1877 herausgebracht - zuerst den Klassiker lesen, dann der Uraufführung 1882 beiwohnen und dann die bei Schott um 1883 in Mainz herausgekommene Partitur einsehen. Dazu hatte sich Richard Wagner, der Romantiker - Religion, Märchen, Mittelalter - , immer schon als Klassiker, Grieche, gefühlt hat. Und in Zukunft? Werden die Partituren in der Aufführung selbst präsent und transparent sein? Werden vielmehr noch die Partituren gar live komponiert und in einem ad hoc improvisierten Bühnenbild gespielt und gesungen werden?

Peter Mahr © 2017

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