peter.mahr

 

<2010.3>: Zur sinkenden Wahlbeteiligung in Österreich. Überlegungen zu Massenmedien, Meinungsumfragen, Wortbedeutungen, Maßnahmen und Kulturen von Wahlen im Ausgang von den Wahlergebnissen der letzten Jahre. 36.418 Zeichen. html

 

Zwei Stimmungsbilder

 

Zwei Berichte von vielen zeigen die zunehmende Sorge um sinkende Wahlbeteiligung an:

Erstens: "Wahl-Reise 2002: Politikverdrossenheit. - Die Wahlbeteiligung in Deutschland sinkt seit Jahren. Den Volksvertretern läuft das Volk weg. Politikverdrossenheit heißt das Schlagwort. 'Die da oben machen doch sowieso was sie wollen.' Immer mehr Deutsche gehen deshalb nicht zur Urne, die Nichtwähler sind bei einigen Wahlen zur stärksten politischen Kraft aufgestiegen. Besonders drastisch hat sich dies bei der letzten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt gezeigt. Und dort vor allem in der Kleinstadt Lützen <Nietzsches Geburtsort>. Die Stadt mit rund 4.000 Einwohnern hält einen Rekord: Mit lediglich 41,7 Prozent weist Lützen die niedrigste Wahlbeteiligung landesweit auf. - DW-Reporter Alexander Scheibe" (http://www.dw-world.de/dw/article/0,2144,609732,00.html)

Zweitens: „Verantwortlich gemacht wurden bei der Gemeinderatswahl Wien 2005: "Mangelnde Spannung im Wahlkampf und das – schöne – Wetter ... FPÖ konnte Wähler mobilisieren ... ‚Faulsten’ Wähler in Wien ... In Tirol und Vorarlberg nutzten bei der jeweils letzten Landtagswahl jeweils nur mehr knapp 61 Prozent ihr Stimmrecht. Dort war allerdings jeweils kurz zuvor erst die Wahlpflicht abgeschafft worden. Wien, Tirol und Vorarlberg sind die einzigen Länder, die unter 70 Prozent liegen. ... Ein leichtes Plus in der Wahlbeteiligung - dort erstmals seit 1974 - hatte es vor drei Wochen in der Steiermark gegeben. 76,19 Prozent nutzten dort ihr Wahlrecht." http://wien.orf.at/stories/65966/ 23.10.2005)

Was steckt dahinter? Zunächst einige Zahlen.

 

Nationalratswahl 2006

 

Zur Nationalratswahl am 1. Oktober 2006 waren 6,107.892 wahlberechtigt, das sind 195.300 mehr als 2002. Abgegeben wurden 4,793.735 Stimmen. Somit beträgt die nominelle Wahlbeteiligung 78,48%, 2002 waren es noch 84,27%. Es sind also 1,314.157 Personen also nicht zur Wahl gegangen. Dazu kommt: Von den abgegebenen Stimmen waren 2006 4,708.281 gültig, das sind 98,20%, also haben 85.454 ungültig gewählt, fast so viele Menschen, wie Klagenfurt heute Zählt. Damit haben 1,399.611 Wahlberechtigte nicht gewählt. Zählt man die nichtwahlberechtigten Unmündigen dazu – das sind bei einem Stand von 8,265.925 Einwohnern im ersten Quartal 2006 2,158.033 Personen – , dann haben de facto 3,557.644 Personen nicht gewählt. (http://www.wienerzeitung.at/bilder/pdf/wahl06/Endergebnis1.pdf http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=4682&Alias=wahlen http://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/bevoelkerungsstand_jahres-_und_quartalswerte/bevoelkerung_zu_jahres-_quartalsanfang/023582.html) Frage: Laufen diese Zahlen darauf hinaus, dass die NichtwählerInnen ihre Verantwortung über die Nichtwahlberechtigten mehr abschieben, als ihnen bewusst ist, und dass sie an diese Verantwortung noch weniger denken als ohnehin sonst schon. Wählen daher die WählerInnen noch mehr für Nichtwahlberechtigte mit, als es diesen ihrerseits bewusst ist? Wie auch immer: es erhöht sich angesichts dieser Zahlen nicht nur das Gewicht der gültigen Wahlstimmen, sondern auch die Verantwortlichkeit der wahlberechtigten Nichtwähler. Wenn in Österreich 1,399.611 Menschen, also 25 %, nicht wählen, dann läuft etwas sehr falsch.

Vorzeigebundesland punkto Wahlbeteiligung ist Burgenland. Bei der Nationalratswahl haben 2006 86,90%, 2002 87,57% gewählt. Auch für den Landtag blieb die Wahlbeteiligung relativ konstant: 2005 lag sie bei 82,72 %, 1996 bei 81,52 %. Vielleicht gibt es neben historischen Ursachen eine Wahlkultur, von der sich Gesamtösterreich etwas abschneiden kann. Auch andere Gründe wären hier zu beleuchten und zu ermitteln, wenn sie nicht schon ermittelt wurden. Was auch immer davon zu halten ist: Weil die SPÖ im Burgenland so groß ist, kann sie sich als große Firma geben. So wurde berichtet, die „SPÖ werde bis zur Gemeinderatswahl am 7. Oktober für eine hohe Wahlbeteiligung unter den Jugendlichen werben – ein wesentlicher Impuls davon geht auch vom Videowettbewerb ‚16 Sekunden für dein Burgenland’ aus, der diese Woche in die Zielgerade einbiegt. Die Siegerehrung findet am Freitag, den 28. September, bei der ‚Future Dance Attack’ in der Mattersburger Meidl-Halle statt. Beginn: 21 Uhr. Bei diesem Mega-Clubbing ist nicht nur tolle Live-Musik garantiert – es sind auch sämtlichen alkoholfreien Drinks gratis; ebenso der sichere Transfer mit dem ‚Discobus’. Außerdem läuft seit diesem Wochenende ein Radiospot zu ‚Wählen ab 16’ auf HitFM." (http://www.unserburgenland.at/spoe/aktuell/meldungen/5534 24.9.2007)

In Wien waren 1,130.346 wahlberechtigt, gewählt haben 817.792 Personen, also 72,35% (2002: 77,6 %). Mit 808.571 gültigen Stimmen waren nicht weniger als 8.589 Stimmen ungültig. Im Wahlkreis Wien-Süd waren 222.935 Personen wahlberechtigt, abgegebene Stimmen 143.012, ungültig 1.777, Wahlbeteiligung 63,35 %. Im Bezirk Simmering waren 56.102 Personen wahlberechtigt, abgegebene Stimmen 36.356, ungültig 458, Wahlbeteiligung 63,99 %. In der Wiener Innenstadt lag die Wahlbeteiligung bei 51,06 %. Im Sprengel Gasometer waren 668 Personen wahlberechtigt, abgegebene Stimmen 466, ungültig 6, Wahlbeteiligung 68,86 %. Zum Vergleich mit den Gemeinderatswahlen 2005: Während 2001 66,6 %, 1996 68,5 % und 1987 63,70 % wählen gingen, waren es 2005 nur noch 60,8 % (http://www.wienerzeitung.at/bilder/pdf/wahl06/Endergebnis2.pdf http://innere-stadt.oevp.at/9130/?MP=61-4323 http://hubert.schoelnast.at/wahl/ http://www.wien.gv.at/statistik/daten/wahlen.html). -- Von Wahlen in Wien zwischen 1996 und 2006 ist bekannt für den Gemeinderat eine Beteiligung von 60,8 % (2005), 66,6 % (2001), 68,5 % (1996), für die Bezirksräte von 58,5 % (2005), 65,8 % (2001), 67,8 % (1996), für den Nationalrat von 72,3 % (2006), 77,6 % (2002), für den Bundespräsidenten von 64,7 % (2004), 63,4 % (1998)(http://www.wien.gv.at/statistik/daten/wahlen.html).

Graz entzieht sich dem Trend: 2006 71,87%, 2002 72,17%, 1999 67,40% (zum Vergleich: Landtagswahlen 2005 65,39%, 2000 63,01%, 1995 79,46%; Gemeinderatswahlen 2008: 57,90, 2003: 58,37, 1998 61,72%) (http://www.graz.at/cms/ziel/694955/DE/). -- Von Wahlen in Graz zwischen 1995 und 2008 ist bekannt für den Gemeinderat eine Beteiligung von 57,90% (2008), 58,37% (2003), 61,72% (1998), für den Nationalrat von 71,87% (2006), 72,17% (2002), 67,40% (1999), für den Landtag von 65,39% (2005), 63,01% (2000), 79,46% (1995), für die Europawahlen von 30,79% (2004), 35,99% (1999) und für den Bundespräsidenten von 58,35% (2004), 62,15% (1998)(http://www.graz.at/cms/ziel/694955/DE/).

Die Linzer Wahlbeteiligung betrug 70,1 %, die in Innsbruck ging auf 65,8% zurück (http://www.linz.at/zahlen/100%5FWahlen/100%5FNR2006/SEITE%5F1/ http://www.innsbruck.at/io30/download/Dokumente/Content/Politik/Wahlen/Wahlergebnisse/Nationalratswahl-2006-text.pdf?disposition=inline).

Ob sich auswirkte, dass es eine höhere Wahlbeteiligung im Osten und Norden und weniger im Westen und Süden Österreichs gibt? Der ländliche Tourismusort Lech am Arlberg verzeichnete bei der Nationalratswahl 2006 ein Minus von 20,34%. Welche Faktoren spielten dafür eine Rolle? Eine konkrete Vermutung: Waren die Wahlberechtigten (ohne schulpflichtige Kinder) am Wahltag des 1. Oktober auf einem Urlaub, der auf das Philosophicum Lech vom 14.-17. September folgte (anders als zu Beginn des Symposiums vor zehn Jahren hatten fast alle Hotels und Gasthäuser geöffnet)? Die Wahlbeteiligung in Lech ging mit Schwankungen über die letzten Jahrzehnte nach unten: 1983 gab es 86,54 Wahlbeteiligung, 1986 90.99%, 1990 76,17%, 1994 70,04%, 1995 87,72%, 1999 64,68%, 2002 79,44%, 2006 59,10%. Auch die unregelmäßigen Nationalratswahlbeteiligungen in Vorarlberg zeigen, dass wie auch immer medial vermittelte externe (politische?) Ereignisse keinen eindeutigen und strukturellen Abwärtstrend bedeuten: 1995 83,18 %, 1994 72,41 %, 1999 74,08 %, 2002 84,17 %, 2006 70,04 %. (http://www.vorarlberg.at/wahlen/hitlisten/hlwb-48.htm)

 

ÖH-Wahlen 2007

 

Die Beteiligung an den ÖH-Wahlen 2007 ist bei offensichtlich großen Verschiedenheiten an den einzelnen Universitäten bundesweit relativ konstant geblieben. Sie "sank von 30,5 auf 28,7 Prozent" (http://derstandard.at/druck/?id=2894687). 2009 sollten es dann nur mehr 25,70 % sein.

An der Universität Klagenfurt ist sie von 40,4 auf 28,1 % gesunken (Grafik http://pluspunkt.at/aktuelles/presseaussendungen/oeh_wahlen_wahlbeteiligung_stuerzt_in_klagenfurt_deutlich_ab).

Auf der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz gab es nur eine Liste, die KUPO (Kunst und Politik), mit einer Wahlbeteiligung von 26,16%. Noch weniger Wahlbeteiligung gab es an den Musikuniversitäten in Salzburg mit 21,97% für 244 Stimmen und einer Liste sowie in Wien mit 400 Stimmen oder 20,49%. (http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=4810&Alias=wahlen&cob=286004&currentpage=0) Ist auf ein Verständnis von Politik als "Verwaltung" oder, wie es heute an Universitäten heißt, „Service“ zu schließen?

Dagegen gab es auf der Veterinärmedizin in Wien 38,1 % Wahlbeteiligung bei immerhin sechs antretenden Listen.

Die Musikuniversität in Graz verdient besondere Beachtung. Bei 49,37% Wahlbeteiligung und zwei Listen setzte sich die stimmenstarke unabhängige Liste "Delphin & Drache" durch. Sie orientierte sich an der Basis, wurde von ihrem 7 Jahre lang den Vorsitz führenden Ulfried Staber in einen Wahlkampf um jede einzelne Stimme geschickt und durch eine eigene Zeitung, mehrsprachige Email-Aussendungen und eine effektive Homepage unterstützt. Wahrscheinlich spielte auch ein Programm 'gesellschaftunpolitischer' Äußerungen eine Rolle, ohne dass dies notrwendigerweise 'unpolitische' Arbeit bedeutete (http://oeh.kug.ac.at/oeh/uv http://fachschaftsliste.at/weblog/archive/2007/05/25/hochste-wahlbeteiligung-durch-unabhangige-vertretung).

 

Weitere Zahlen

 


Weitere alarmierende Zahlen für die Wahlen des Bundespräsidenten, des Nationalrats, der Landtage und Gemeinderäte in Österreich seit 1945, die Parlamentswahlen im United Kingdom seit 1979, die Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen in Deutschland seit 1949 und die Europawahlen im Ländervergleich seit 1979 sind versammelt in: Werner T. Bauer , Wenn die Wähler weniger werden . Überlegungen zum Problem der sinkenden Wahlbeteiligung , Wien, August 2004. Paper von Österreichische Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung, 1230 Wien, Gregorygasse 21-27/7/1, 0664/1427727 http://www.politikberatung.or.at/wwwa/documents/wahlbeteiligung.pdf)

 

Filzmaier 2007. 1. Politische Beteiligung im Ganzen

 

Auch Peter Filzmaier bringt eine Reihe drastischer Zahlen zur Kenntnis, etwa die Abnahme der Beteiligung bei den beiden letzten Landtagswahlen in Tirol um minus 19,7 % und in Vorarlberg um minus 27,2 % – ein klares „demokratiepolitisches Warnsignal“ (Peter Filzmaier, Ein unaufhaltbarer Sinkflug? Wahlbeteiligung in Österreich und anderswo, aus: Der WählerInnenwille, herausgegeben vom Forum Politische Bildung. Informationen zur Politischen Bildung Bd. 27, Innsbruck-Bozen-Wien 2007, = http://www.politischebildung.com/fpb/pdfs/27_wahlbet.pdf, S.45-51, 46).

Filzmaier meint, dass sich ein Bild erst im Blick auf politische Beteiligung im Ganzen ergibt. Er denkt kurz an, ob große ökonomische und soziale Zufriedenheit wie in Österreich zur Folge hat, das weniger Personen zur Wahl zu gehen.

Hier wäre ein scharfer Blick auf verschiedene nicht-einmal-Interessengruppen in Österreich erforderlich, die sich zum Teil wenig Gehör verschaffen und zum Teil nicht einmal wahlberechtigt sind wie MigrantInnen. Außerdem stellt sich die Frage nach politischer Beteiligung zunehmends für Bereiche, die den Einsatz hoher Expertise erfordern, wie die Computerisierung von Medien und Telekommunikation, die Gentechnik in der Lebensmittelwirtschaft oder die Klonierung in der Medizin. Schließlich drängen immer mehr politische Entscheidungen in den Vordergrund, die nur mehr in einer kontinentalen oder globaln Demokratie getroffen und legitimiert werden können. Ob überhaupt etwas zu erwarten ist angesichts der Ent(demokratie)politisierung in vielen Lebensbereichen?

 

Filzmaier 2007. 2. Große Konflikte

 

Nachdenklich stimmt Filzmaiers Befund, dass nur bei großen Konflikten die Wählerzahl steigt (a.a.O, 47).

In der Tat. Das jüngste Beispiel dafür war die angeheizte Stimmung vor den niederösterreichischen Landtagswahlen 2008. Die Wahlbeteiligung betrug 73,10%, was sogar ein Plus gegenüber den 71,79% von 2003 bedeutet (http://www.orf.at/noewahl08/).

 

Filzmaier 2007. 3. Profil der NichtwählerInnen

 

Das Profil der NichtwählerInnen charakterisiert Filzmaier so: "Die typischen NichtwählerInnen der Nationalratswahl 2006 <wie auch schon, so Filzmaier, der Europäischen Parlamentswahlen in Österreich 2004> waren tendenziell unter 30 Jahre alt, männliche Arbeiter mit Pflichtschulausbildung und aus dem städtischen Bereich. ... Nahezu jede/r zweite NichtwählerIn gab an, aus Frust über das Parteien- und PolitikerInnenangebot nicht teilzunehmen. Es folgen gleichauf persönlich verhindert gewesen zu sein, aus Protest nicht wählen zu gehen sowie kein Interesse für Politik zu haben." (S. 48) Wie sehr also auch die „Entscheidung“, nicht wählen zu gehen, von den Beroffenen reflektiert worden sein mag, im klaren sind sich NichtwählerInnen über ihre Absenz nicht. Immerhin, nur jede/r zehnte Nichtwähler/in ist in seiner/ihrer Haltung verfestigt. (S. 48)

Das verweist auf eine dringend notwendige Anknüpfung aller Politik Treibenden wie auch der Medien, generell tiefergehende Diskussionen betreffend eine Politik über Politik zu machen und darzustellen. Wie könnte das aussehen? Zuallererst müsste öffentlich-rechtliches Fernsehen als Plattform hier seine Verantwortung übernehmen und das in einer geeigneten Weise tun, um nicht gleich als altvaterisch abgestempelt zu werden. Ein besonderes Sorgenkind ist hier der ORF Fernsehen. Hier abzuwägen sind auch Inhalt und Form etwa von ARD versus RTL.

 

Filzmaier 2007. 4. Das Bild der Politik bei NichtwählerInnen

 

Nach Filzmaier (mit Klaus Poier, Nichtwählerstudie. Demokratiepolitische Aspekte, Ausmaß und Ursachen des Nichtwählens sowie mögliche Gegenstrategien mit besonderem Schwerpunkt auf Österreich und die Steiermark. Forschungsbericht des Instituts für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft der Universität Graz, Juni 2004, S. 94-97; wieder in: Schriftenreihe für öffentliches Recht und Politikwissenschaft 2, Wien: NWV - Neuer Wissenschaftlicher Verlag 2005) haben NichtwählerInnen heute ein Bild von einer Politik, die generell weniger dringlich ist und wenig Kompetenz erfordert. Sie glauben an die oberflächlichen und mehr auf Mißstände als auf Leistungen zielende Darstellung der Boulevard-Medien, fühlen sich vom ständigen Zuviel an Information abgeschreckt und fühlen sich durch die Abschaffung der Wahlpflicht bestätigt – sie sind damit Teil einer allgemein abnehmenden BürgerInnenverantwortung (Poier, Nichtwählerstudie, 2004).

Das ist ein wichtiger Teil der Analyse des Problems. Nur, Filzmaier (und Poier) müssen hier in der geringen Breite ihres Herangehens vergessen, dass Bilder immer auch mit dem zusammenhängen, was sie abbilden. Schon an der Existenz und dem geringen Ausmaß der Schärfe von solchen Bildern ist zu vermuten, dass Politik zu wenig „politisch“ ist.

Wenn es an Universitäten an Präsenz der ÖH-Politik mangelt – und vielleicht ist das in der Bundespolitik nicht anders – , dann fällt es der Politik und ihren Kernaufgaben heute vielleicht überhaupt schwer, die richtige Präsenz in der Öffentlichkeit zu finden. Immer mehr treiben die Medien Politiker vor sich her. Medienleute machen sich eine Hetz, wie „ernst“ auch immer sich „Berichterstattung“ gibt. Selbstredend kommt das den Sachintentionen der PolitikerInnen nicht entgegen. „Sach“-Politik muss den Kürzeren ziehen oder wird in den halb-öffentlichen Bereich von Interessengruppen abgedrängt.

Vielleicht ist die jeweilige Wahlbeteiligung auch Ausdruck praktisch realisierter Mitbestimmung. Sie erweist sich immer im Kleinen und hängt von einzelen Personen und Kommunikationen ab – egal, wieviel nun demokratisch delegiert ist. Etwa bei den Senatsvertretungswahlen 2003 an der Universität Wien. Was immer dort die Gründe für die 12% Wahlbeteiligung waren, hier muss wohl von Pseudodemokratie gesprochen werden. Wenn es hier jemals eine Demokratie gegeben hat, die ihren Namen verdient, dann war eine Entdemokratisierung vorausgegangen, die nur in ihrer letzten Phase mit der zunehmenden Privatisierung öffentlicher Bereiche wie des Bildungswesens zu tun hat.

 

Filzmaier 2007. 5. Erreichen einer hohen Wahlbeteiligung

 

Filzmaier fallen folgende Mittel einer hohen Wahlbeteiligung auf: a) Kampagneorientierung mit Techniken der Bindung potentieller WählerInnen etwa hin zu größeren Wahlkampfgeschenken, b) mehr oder weniger technische Reformen des politischen Systems – wenn auch ohne nachweislichen Zusammenhang mit Wahlbeteiligung – wie etwa Touchscreens, Briefwahlen, e-Voting im Internet, early voting sowie eine stärkere Ausrichtung auf Persönlichkeiten und Projekte, c) Initiativen für politische Bildung.

Welcher Art auch immer Filzmaiers Hoffnungen sein mögen – , die Wirkung der drei Mittel erscheint ihm vielleicht zu sehr begrenzt durch "gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, Konflikt- und Krisensituationen bzw. deren Ausbleiben, allgemeine Einstellungen zur Politik, (in-)effiziente Parteistrukturen und nicht zuletzt Spannungsmomente vor Wahlgängen." (S. 50)

Denkt man an eine Kampagnisierung wie im Tiroler Wahlkampf 2008 – 65,84 % Wahlbeteiligung gegenüber 2003 60,91 % – , kommen einem tatsächlich Zweifel: Geht’s nicht anders? Eines ist jedenfalls klar: stärkere Kampagneorientierungen von Wahlkämpfen gehen nicht nur auf Kosten der Darstellung komplexerer politischer Vorhaben, sondern bringen zwei Effekte mit sich. Eine stärkere Nähe könnte eine à la longue eine schädliche Entdiskursivierung oder eine Schrumpfung von Öffentlichkeit überhaupt zur Folge haben. Andererseits könnte auch ein Derepräsentierungseffekt durch stärkere Persönlichkeitsbindungen die repräsentative Demokratie aushöhlen (vgl.: Negative Campaigning und Wahlbeteiligung in Österreich. Forschungspraktikum: Die Stimme abgeben?, LV Rosenberger/Seeber, Universität Wien, WS 2004, http://www.politischebildung.com/pdfs/27_wahlbet.pdf)

Man muß wohl vorsichtig sein, nicht durch zu laute Klagen über geringe Wahlbeteiligung die Legitimation zum Beispiel der Studierendenvertreter zu unterlaufen. Der Vorwurf hat sich über die Jahre zur Geisel ausgewachsen. Die Vorstellungen des Noch-ÖH-Vorsitzenden und Spitzenkandidaten der 2009 dann bundesweit verlierenden Aktionsgemeinschaft, Samir Al-Mobayyed, über eine größere Wahlbeteiligung sind schwach (zum Thema Wahlbeteiligung gab es in diesem Chat denn auch nur eine Frage und kein Posting unter den vielen): "Die Zusammenarbeit mit den einzelnen Universitätsvertretungen muss gestärkt werden. Mehr Informationen in Studienzeitungen z.B. und verstärkt auch in den einzelnen Beratungen auf Studienvertretungsebene. Eine negative Kampagne ist keine gute Idee, sondern man muss die Leute mit einer positiven Kampagne zum Wählen bewegen. Es sollten auch öfter Hinweise in Studierendenzeitungen geben wo Studierende Hinweise finden, dass man seine Vertretung alle 2 Jahre wählen kann." (http://derstandard.at/?url=/?ressort=uniwahlen)

Besonders seitens der Computersozialisierten wie etwa von Studenten kommt der Vorschlag des e-Voting. Inzwischen hat er auch Eingang ins aktuelle Regierungsprogramm gefunden. Eine Umfrage an der WU Wien besagt, "dass 84% der Befragten bei einer ÖH-Wahl übers Internet mitmachen würden." (http://oeh.ac.at/oeh/presse/news/100868530300) Wird aber so dem Konsumismus nicht auch noch beim Wählen der Weg bereitet? Politische Bewusstheit wird dadurch sicher nicht gesteigert. Man wird also einer Expertise aus Estland mißtrauen, die Wahlbeteiligung mit Jungen übers Internet aufrecht zu halten (Richard Brem, "E-Voting - Zwischen Trial und Error", in: "matrix - computer & neue medien", Ö1, 4.3.07). Der erste Versuch 2009 ist bei einer Beteilung von 0,9 % neben einer allgemeinen Beteiligung von nur 25,8 % technisch und juristisch mißlungen (siehe dazu: Vorläufiges Aus für E-Voting in Österreich, auf: heise online, 03.04.2010 13:23, http://www.heise.de/newsticker/meldung/Vorlaeufiges-Aus-fuer-E-Voting-in-Oesterreich-969992.html mit Link auf http://www.oeh-wahl.gv.at/Content.Node/dateien/Evaluierung_OeH-Wahl_E-Voting.pdf )

Die Bundeswahlrechtsreform 2007 unter SPÖ-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer brachte bessere Briefwahlmöglichkeiten – erstmals Inland! – und das Wahlalter ab 16 Jahren.

Die gesetzlich beschlossene Erleichterung der Briefwahl im Ausland und Inland ist natürlich zu begrüßen. Andererseits erscheint diese Verbesserung als weiterer Teil einer wenig tiefgehenden Reform. Was ist denn so schlimm, wenn man, ohnehin schon im Inland sich aufhaltend, den Wahlsonntag zuhause verbringt?

Zu den „technischen“ Reformen gehört, dass das aktive Wahlalter von 18 auf 16 vor kurzem herabgesetzt wurde. Das ist problematisch, wie die Stadt Salzburg zeigt: "Von den 5.901 Jungwählern, die erstmals bei einer Nationalratswahl wahlberechtigt waren, gingen 2.555 bzw. 43,3% und von den 25 bis 29-Jährigen 39,7% nicht zur Wahl." http://www.stadt-salzburg.at/internet/stadtverwaltung/kulturschulverwaltun/t2_13715/t2_32187/p2_200647.htm Und im Burgenland: "'Die Wahlbeteiligung der 16 und 17jährigen lag bei den Gemeinderatswahlen 2002 bei etwa 80,7 %. Bei den Landtagswahlen 2005 lag die Wahlbeteiligung der Jungwähler bei 72,83 Prozent'" - also doch nur der Effekt des ersten Mal? http://209.85.135.104/search?q=cache:0u1C58_2eacJ:www.eduhi.at/dl/2007-03-07_OeVP_Burgenland._BM_Kdolsky_und_LHStv._Steindl_-_Enge_Zusammenarbeit_im_Jugendbereich.doc+burgenland+wahlbeteiligung&hl=de&ct=clnk&cd=8&gl=at). Kommt aber hier nicht ein voreiliger kurzfristiger Egoismus von Abgeordneten zutage? Sind sie hier nur Partei ihrer eigenen persönlichen Interessen und eben nicht die einer volksvertretenden Organisation? Weil zum Großteil Jugendliche im Schulalter betroffen sind, hätte unbedingt eine ausreichende Diskussion von stärkeren Maßnahmen von demokratischer Bildung in Schule und Familie mit Eltern- und Lehrervertretern erfolgen müssen. Solange das nicht passiert und konkrete Umsetzungen von Studien als erfolgreich eingestuft wird, hätte dieses de facto „Erwachsenenalter“ nur probeweise für etwa zwei Legislaturperioden eingeführt werden sollen. Bei zu geringem Erfolg hätte dieses Wahlalter automatisch wieder an das Alter des Abschlusses der Reifeprüfung, des Lehrabschlusses oder des A-Führerscheins angeglichen werden sollen.

Ähnliches gilt für die Senkung des passiven Wahlalters von 19 auf 18. Mehr noch als beim aktiven Wahlalter ist zu fragen: Ist die nur punkto politischer Reife abzuschätzende Bildung der Kinder zu Hause, in der Schule und Freizeit besser als früher?

Eine andere Frage ist, wie soziale Webseiten wie etwa http://www.facebook.com oder http://studivz.net/ für eine größere Wahlbeteiligung und von politischen Parteien genutzt werden können. Dies haben inzwischen die bei den Präsidentenwahlen in den USA und Österreich reüssierenden Barack Obama und Heinz Fischer eindrucksvoll gezeigt. (Letzterer musste nach seinem Sieg 2002

bei einer Wahlbeteiligung von 71,60 % sich für seinen Sieg 2010 als überparteilicher Kandidat mit einer Wahlbeteiligung von 53,6 % begnügen, weil die zweite große Partei Österreichs keinen Kandidatur vornahm oder unterstützte.)

 

Geschwindigkeit, Temperatur und Intensität der Massenmedien

 

Was bei Filzmaier zu wenig Erwähnung findet, ist die vielfältige Rolle, die die Massenmedien spielen. Gab man am ÖH-Wahltag auf Google "öh-wahlen 2007" ein, dann kam eine Liste, deren erster Eintrag lautete: "ÖH - Österreichische HochschülerInnenschaft Die Ergebnisse der ÖH-Wahlen 2007 treffen ab sofort ein. Auf wahl07.at werden diese quasi in Echtzeit veröffentlicht." Auch sonst ist auffällig, dass Wahltage von schnellem Auszählen dominiert sind, von einer zu schnellen Bewertung, einem zu schnellen Feiern und Trauern. Damit wird der Wert von Wahlen zu einem Nachrichtenwert mit den Gesetzen des Systems der Massenmedien (siehe Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 3. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S.54f. über den Stil des Sensationellen, genauer: des scheinbar Unmöglichen, nämlich „daß etwas schon passiert, aber gerade erst passiert ist – also weder in den normalen Tempus-Formen der Vergangenheit noch der Gegenwart vorgestellt werden </> konnte. … Ereignisse müssen als Ereignisse dramatisiert – und in der Zeit aufgehoben werden … , die auf diese Weise schneller zu fließen beginnt. Die gesellschaftsweite Beobachtung der Ereignisse ereignet sich nun nahezu gleichzeitig mit den Ereignissen selbst.). Der „News-Wert“ wird immer kürzer, also zu kurz. Zugleich wird er von den Medien immer mehr als Wert gesehen, sodass nun über wenig wichtige ausländische Wahlen berichtet wird, was noch vor wenigen Jahren unüblich war.

Medien haben heute, was Wahlen betrifft, eine zu große Geschwindigkeit angesichts der verschieden schweren Bedeutung von Ereignissen. Sie orientieren sich zu sehr an der Anzahl optisch ergiebiger Bilder (das Fernsehen dominiert strukturell noch immer alle anderen Medien). Wenn schon am nächsten Tag nach einer Landtagswahl wie der Burgenland-Wahl 2005 (Wahlbeteiligung 2005 81,38 %, Wahlbeteiligung 2010 trotz stark populistischer Züge und Aktivierung bundespolitischer Polarisierung nur mehr 77,30 %) kein Beitrag mehr im 1stündigen Ö1-Mittagsjournal gebracht wird, dann stimmt etwas Grundlegendes nicht.

Auch die Anheizung der Stimmung im niederösterreichischen Wahlkampf 2008, die über eine von den Medien ausprobierte Simulation eines Wahlkampfs und eines ausprobierten Stürzens der großen Bundeskoalition verlief, geht in diese Richtung.

Dass die französischen Präsidentschaftswahlen 2007 80,8 % Wahlbeteiligung erreichten, die Parlamentswahlen 5 und 6 Wochen später aber nur 40,8 %, geht ebenso auf eine stark angeheizte Polarisierung von zwei Kandidaten im Verein mit populistischen Wahlkampfinterventionen zur Motivierung des Wahlgangs zurück, zu der Medien nicht nur terminlich im ersten Fall bei trugen, im zweiten nicht. Noch Woche nach dem zweiten Wahlgang der Präsidentenwahlen war zumindest in Paris die Medienschlacht anhand der affichierten Plakate zu spüren.

Wahlen als Show-Wert, Sensationswert, als Event mit steigerbarer Intensität, das scheint vermarktet und zu einem beträchtlichen wirtschaftlichen Faktor aufgemotzt werden zu können. Wenn aber der Markt auch hier aus Nachfrage und Angebot in Ermittlung von Kaufpreisen besteht, dann laufen Wahlgewinne auch auf „Preise“ hinaus. Die Menge der Teilnehmer auf der Seite der Nachfrage ist dann sekundär, solange die „Preis“-Relation stimmt. Demokratien können geringe Zahlen der Wahlbeteiligung nicht egal sein, aber auch nicht primär medial produzierte hohe Zahlen. Die Politik ist gefordert, Regeln für eine gewisse Entmedialisierung und Entökonomisierung des politischen Wählens zu entwickeln und durchzusetzen.

Dazu gehört auch eine tiefgehende Einschätzung des Meinungsumfrage(un)wesens. Man könnte behaupten, das System der Meinungsumfragen und Prognosen in der Öffentlichkeit stellt das Wahlsystem prinzipiell in Frage. Jedenfalls ist es eine – wirtschaftlich und nicht politisch kodierte und über die Medien realisierte – Konkurrenz. Gewiß mag es von den Wahlwerbern als wahlkoextensives Instrument für (politische) Entscheidungen geschätzt sein. Es tritt aber in eine Interferenz mit den Wahlkampfkampagnen selbst. Das führt zu untragbaren Verunsicherungen und Verzerrungen in der Öffentlichkeit. So wurden im Wahlkampf um die Nationalratswahlen 2002 bis zum Schluß die Schüssel-ÖVP und die Gusenbauer-SPÖ als „Kopf an Kopf“ liegend dargestellt. In Wahrheit aber war Schüssel schon seit Wochen deutlich vorangelegen. Indem sich nicht zuletzt die Meinungsumfrageinstitute selbst immer stärker medial vermarkten und damit zur letztlich unkontrollierten Parallelaktion zur Politik geraten, ist mehr als verständlich, wenn bei den italienischen Wahlen 2008 kurz vor dem Wahltag ein Veröffentlichungsverbot von Umfragen verhängt wurde.

Dass bei der Verstärkung des Wahlkampfs die Medien auch positiv mitwirken, zeigten die Europawahlen 2009. Eine stärkere „Politisierung“ Europas zusammen mit einem stärkeren Wir-sind-eins in der Wirtschaftskrise mochte auch zu einer redlichen Zunahme des Aufgreifens europapolitischer Themen geführt haben. Die Wahlbeteilung betrug 46,0% gegenüber 42,4% 2004, jedoch gegenüber 49,4% 1999 und der Beteiligung von 67,2% der Berechtigten an der Abstimmung über den EU-Beitritt 1996.

 

Grammatik von „Wahl“

 

Wir kommen hier nicht darum herum, der Sprache größeres Augenmerk zu widmen. Ungenaues, Tendenzielles und Verschrobenes wie „jeder dritte blieb zu Hause“, „Wahlverdrossenheit“, „Stimmvieh“, „Wahlurne“ zeigen an, dass der frischen Wind einer neuen Sprache gebraucht werden könnte. Das geht nicht ohne Sprachreflexion. Daher im Folgenden einige Überlegungen zum Wort Wahlbeteiligung und seinen beiden Komponenten.

Das Wort Wahlbeteiligung enthält das weiche Wort Wahl und das Wort Beteiligung. Während Wahl hier sich auf (politische) Parteien richten und somit auf Personengruppen mit politischen Programmnen und Leistungen, geht es bei Beteiligung, Partizipation im Fall der Nichtwahl um die Wahl oder den Willen zum Rest, die Wahl der Abstraktion, Subtraktion (sich absentieren, nicht zu einer Stimmenmehrheit addieren wollen), den Status der Abwesenheit, den Akt des sich Verbergens. Das ist eine doppelte Anonymität und als solche eine besondere Ablehnung des Öffentlichen, der Entzug der eigenen Person aus der Öffentlichkeit.

Eine Wahl ist keine Entscheidung. Bei einer Entscheidung geht es um nicht mehr als zwei sich natürlicherweise entgegensetzende Alternativen. Sie sind in Gefahr, in die Entscheidung ja/nein zu kippen, wenn eine der beiden deutlich stärker ist. Deswegen, aus Respekt vor Parteiminoritäten und zur Stützung der Beweglichkeit von Koalitionsbildungen ist das Verhältniswahlrecht abzulehnen. Bei der Wahl geht es nicht darum, sich wie bei der Millionenshow um eine (hoffentlich richtige) von vier alternativ möglichen Antworten zu entscheiden. Es könnte sich nämlich jede gewählte der vier oder fünf Parteien bewähren, ob sie nun Regierungsverantwortung übernimmt oder Opposition bildet. Man möchte hoffen, dass es – ob der Vergleich mit der Damenwahl hinkt oder nicht – um das Glück der Wahl geht (happiness) und nicht um das Glück der Entscheidung (luck). Schließlich muss sich die Pluralität der WählerInnen in einer echten Pluralität, in einer Balance zwischen Parteilichkeit und der durch die Anonymität der Wahl gewahrte Distanz oder Impartialität widergespiegeln.

Eine Beteiligung, Partizipation (an Wahlen) bezieht sich immer auf das Ganze. So ist participere (von lat. capio: ich erfasse, wähle, empfange, eigne an) zugleich teilnehmen/mitmachen sowie mit jemandem etwas teilen. In der gemeinsamen Aktion des Wählens teilen wir uns mit, kommunizieren in mehrfachem, daher besonders wertvollem Sinn – ich kann nicht allein etwas teilen, es sei denn Materielles, etwa Geld. Demokratisch kann die politische Macht nur eine in gewissen Abständen immer wieder aufgeteilte sein, nicht nur im institutionellen Sinn der Gewaltenteilung, sondern auch im politischen Sinn der Bestimmung und Aufteilung von Ämtern. Öfter als nicht werden Ämter von mehreren Parteien besetzt und aufgeteilt. Noch bei absoluten Mehrheiten ist die Macht geteilt: zeitlich begrenzt.

Wie immer nun die Parteien auf Partizipationen angewiesen sind, so ist klar: Einen Teil einer politischen Gesamtheit zu wählen, kann nicht bedeuten, ein Stück, ein Element, eine Person zu wählen, sondern eine Gruppe. Nun ist es nicht notwendig, dieser Gruppe anzugehören, also selber Teil von ihr zu sein. Damit ergibt sich ein teilweises Paradoxon, nämlich einen Teil zu wählen, von dem ich selber ein Teil sein könnte oder sogar bin. Dass ich es nicht sein muss, beschränkt das politische Wesen vor einem Abdriften in das Unwesen von Einheitsparteien oder Ähnlichem.

 

Politische Maßnahmen und Wahlkultur

 

All das Bezifferte, Genannte, Analysierte, Bedachte auf eine zukünftige politische Praxis hin zu diskutieren, kann natürlich nicht nur über die Medien geleistet werden, die ihrerseits von der Politik immer schneller und marktgemäßer bedient werden. Ein Blick auf die Medienabteilungen der Ministerien bestätigt das. Es wird aber auch nicht über eine Bundesstaatsreform funktionieren, deren allererste Aufgabe eine Stärkung der Wahlbeteiligung zu sein hätte. Inzwischen ist das Gefühl leider Realität geworden, dass bei der Bundesstaatsreform viele Jahre lang wenn auch auf hohem Niveau nachgedacht worden sein mag, aber nichts herausgekommen ist.

Muß nicht Wahlpflicht dort wieder eingeführt werden, wo sie abgeschafft wurde (zum Beispiel in Tirol und Vorarberg)? Welche Formen der Kontrolle und Ahndung sind bei der Exekutierung der Wahlpflicht durchsetzbar? Wie kann man ein diesbezügliches Unrechtsempfinden wieder stärken? Würden derartige Sanktionen bei den betreffenden Leuten zum Ungültigwählen, zum Protestwählen und anderen Formen des Ausdrucks (!) von Unzufriedenheit führen, mittelfristig zu neuen Parteien? Jedenfalls wären Erfahrungen zu prüfen aus "Belgien, wo es eine mit (Geld-)Strafen sanktionierte Wahlpflicht gibt." (Filzmaier, 46f.) Die Aufgabe für EthikerInnen ist: Es braucht einen Begriff nicht der juristischen, sondern moralischen und innerlich empfundenen Pflicht.

Weiters sollte man auf die Pflicht zur Wahl eine Kultur der Wahl gründen. Wie kann ein neues Wahlethos geprägt werden, sodass Wählen nicht als Konsumartikel empfunden wird à la „Ich werfe meine Stimme in den Kollektivautomaten, dafür kommt aus dem Fernseher/Radio/Internet eine spannende Reportage“? Finge das mit einer Festlichkeit noch vor dem Feiern oder während des Wahltags an. Was für eine Art des Tages ist ein Wahltag überhaupt – ein Feiertag, ein Sonntag, ein Fenstertag, ein Tag, an dem nur Vormittags gearbeitet wird? Fällt das Wählen durch den Gitterrost allgemein zunehmender Arbeitszeiten und nicht geringer werdender Freizeitbedürfnisse? Und abseits vom Charme leerer Schulgebäude: Wie könnte der Wahltag gestaltet werden? Gibt es da Anregungen von anderswo?

Dem Mißbrauch durch bewusst ungünstig angesetzte Wahltermine – bei den Gemeinderatswahlen 2006 in Innsbruck mit einer Beteiligung von 57,8 % schien es für jede/n Fünfte/n keinen Grund gegeben zu haben, einen Tag früher aus den Osterferien zurückzukommen (posting von winpeace1 auf http://derstandard.at/?page=userposts&pid=2359322) – und Negativkampagnen muß in Zukunft durch Anprangerung begegnet werden.

Welche anderen Kopplungen von Maßnahmen an die Wahlbeteiligung sind möglich und sinnvoll? Die KPÖ forderte nach der Nationalratswahl 2006 folgende Kopplung der Parteienfinanzierung: "Der SPÖ-Werbechef Alois Schober (Young & Rubicom) brüstete sich in einem „ZiB3“-Interview stolz der gelungenen Negativkampagne der SPÖ, mit welcher die Demobilisierung hunderttausender WählerInnen gelungen und die zum Erfolg der SPÖ geführt hatte. Dass dabei auch die SPÖ laut Wählerstromanalyse 183.000 WählerInnen vertrieben hat ist für Schober quasi nur ein politischer Kollateralschaden. Wie die KPÖ schon vor der Wahl wiederholt festgestellt hat, nützt die um rund zehn Prozent gegenüber der vorherigen Wahl gesunkene Wahlbeteiligung den etablierten Parteien, indem die Mandate billiger werden, während die Parteienförderung gleich bleibt." (http://www.kpoe.at/index.php?id=79&tx_ttnews[tt_news]=5&cHash=284aa313c0)

Und noch davor: Sollte die Höhe der Wahlbeteiligung nicht stärker in die öffentliche Bewertung des Ergebnisses, ja vielleicht sogar ins Ergebnis selbst einbezogen werden? Etwa im Vergleich von Wahlkreisen, Wahlbezirken, etc. Was würde das für eine soziale, politische Dynamik bewirken?

Als konkrete Maßnahme wäre die Einrichtung einer nominell und vielleicht auch finanziell vom Parlament und von Räten unterstützten Homepage „wahlbeteiligung.at“ zur Sammlung von Daten und Diskussionen zu fordern.

 

© PM 2010