mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik
10 (2007), Nr.2/June
Übersetzung
Voltaire, Empfindung. Übersetzung von Art. „sensation“,
aus: Dictionnaire Philosophique. Nouvelle Édition. Revue, corrigée, &
augmentée de divers Articles par l’Auteur, Londres
M.DCC.LXV. 3691 Zeichen.
Die
Austern haben, sagt man, zwei Sinne, die Maulwürfe vier, die anderen Tiere so wie
die Menschen fünf; manche lassen dabei einen sechsten zu. Aber es ist
offensichtlich, dass sich die wollüstige Empfindung, von der sie sprechen
wollen, von der Empfindung des Tastens herleitet und dass wir fünf Sinne
teilen.
Es
ist gut möglich, dass es auf anderen Himmelskörpern Sinne gibt, von denen wir
keine Ahnung haben. So ist es möglich, dass sich die Zahl der Sinne von
Himmelskörper zu Himmelskörper vermehrt und dass das Sein mit seinen
unzählbaren und vollkommenen Sinnen die Bedingung aller Wesen abgibt.
Aber
wir mit unseren fünf Organen, wozu sind denn wir in der Lage? Wir empfinden
immer trotz uns und nie, weil wir es wollen; es ist uns unmöglich, nicht die
Empfindung zu haben, zu der uns unsere Natur bestimmt, wenn uns der Gegenstand
begegnet. Die Empfindung ist in uns; aber davon kann es nicht abhängen. Wir
empfangen sie – und wie empfangen wir sie? Man weiß wohl, dass es keinerlei
Bezug zwischen der angeschlagenen Luft, den Worten, die mir gesungen werden,
und dem Eindruck gibt, den diese Worte auf mein Gehirn machen.
Wir
sind von unserem Denken erstaunt. Aber die Empfindung ist genau so wunderbar.
Eine göttliche Macht blitzt in der Empfindung des geringsten der Insekten wie
im Gehirn Newtons auf. Während tausend Tiere vor Ihren Augen sterben, sind Sie
nicht darüber beunruhigt, was aus ihrem Empfindungsvermögen wird, obwohl dieses
Vermögen das Werk des obersten Wesens der Wesen ist. Sie betrachten sie wie
Maschinen der Natur, geboren um einzugehen und anderen Platz zu machen.
Warum
und wie würde sich die Empfindung erhalten, wenn sie nicht mehr existiert?
Welches Bedürfnis hätte der Autor, von allem, was ist, die Eigenschaften zu
bewahren, von dem, dessen Subjekt zerstört ist? Es wäre genauso wertvoll zu
sagen, dass die Macht der empfindlich genannten Pflanze, die Blätter gegen ihre
Zweige zurückzuziehen, noch besteht, wenn die Pflanze nicht mehr ist. Sie
werden mich zweifellos gleich fragen, wie die Empfindung der Tiere bei diesen
eingeht, während das beim Denken des Menschen nicht geschieht. Ich kann auf
diese Frage nicht antworten; ich weiß nicht genug, um sie aufzulösen. Der ewige
Autor der Empfindung und des Denkens weiß allein, wie er sie gibt und wie er
sie bewahrt.
Die
ganze Antike hat daran festgehalten, dass nichts in unserem Verstand ist, was
nicht vorher in unseren Sinnen war. Descartes behauptete in seinen Romanen,
dass wir metaphysische Ideen hätten, bevor wir die Brust unserer Ernährerin
kennen lernen. Eine Fakultät der Theologie schrieb dieses Dogma vor, nicht weil
das ein Irrtum war, sondern weil es eine Neuheit war: in der Folge nahm sie
diesen Irrtum an, weil er von dem englischen Philosophen Locke zerstört wurde
und weil es als nötig erachtet wurde, dass ein Engländer beschädigt würde.
Nachdem sie schließlich so oft ihre Meinung gewechselt hat, ist sie darauf
zurückgekommen, jene alte Wahrheit vorzuschreiben, dass die Sinne die Pforten
des Verstandes sind; sie hat es gemacht wie die verschuldeten Regierungen, die
bald gewissen Schuldscheinen den Weg ebnen, bald sie wieder beschreiben; aber
seit langem will niemand Karten dieser Fakultät.
Niemals
werden die Fakultäten der Welt die Philosophen daran hindern zu sehen, dass wir
mit dem Empfinden beginnen und dass unsere Erinnerung nur eine fortgesetzte
Empfindung ist. Ein Mensch, der geboren würde, beraubt seiner fünf Sinne, wäre
jeglicher Idee beraubt, wenn er überhaupt zu leben imstande wäre. Die
metaphysischen Begriffe kommen nur über die Sinne; denn wie einen Kreis oder
ein Dreieck messen, wenn man keinen Kreis oder kein Dreieck gesehen oder
berührt hat? Wie sich eine unvollkommene Idee des Unendlichen machen, indem man
einen Grenzstein zurücksetzt? Und wie Grenzsteine abziehen, wenn man keine
gesehen oder betastet hat?
Die
Empfindung umhüllt alle unsere Fakultäten, sagt ein großer Philosoph (Seite
128, Band II, Traité des sensations).
Was
aus dem Ganzen schließen? Schließen Sie, die Sie lesen und denken.
© for translation Peter Mahr 2007
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