mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

4 (2001), Nr.1/März

Rezension

11. Annie Becq, Génèse de l'esthétique française 1680 bis 1815. De la Raison classique à l'Imagination créatrice, = Bibliothèque de l'Évolution de l'Humanité 9, Paris: Albin Michel 1994, 950 S., FF 98,00. 39204 Zeichen.

 

Der französische Gegensatz von Klassik und Aufklärung kann den Blick auf kontinuierliche Entwicklungen öffnen. Somit lassen sich auch die hundertfünfzig Jahre französischer Denkgeschichte mit fünfzig Jahren der deutschen vergleichen. Auf Descartes folgt der Cartesianismus von Pascal und Malebranche, auf Kant Fichte (Maine de Biran galt als französischer Fichte), Jacobi und Schelling. Was dem einen der Kodifikateur Boileau, wäre dem anderen der Kant überschreitende Schiller; hier die Querelle des anciens et des modernes, dort der weniger klar umrissene Streit der Weimarer Klassik mit der Jenaer Romantik. Und was in den philosophes und dem Projekt der Encyclopédie eine entschiedene Wende zur Moderne bei der Transzendenz des Baconschen Systems erfährt, findet in der Hegelschen Enzyklopädie und des Comteschen Programms seinen positiven Abschluß. So wäre begreifbar, daß der durchschlagende Erfolg der Kantischen und der Hegelschen Ästhetik im 19. Jahrhundert, dem der platonische Cousin (Parallele: Solger) und der soziologisch-positivistische Taine nichts entgegenzusetzen hatten - bis sich endlich der Neukantianismus in der französischen Ästhetik bei Victor Basch die Bahn brach - wesentlich darauf beruhte, daß die französische Theorie sich als Vorläufer in der deutschen Philosophie nach Kant vielleicht ahnen, nicht aber identifizieren und als eigene festhalten konnte (Idéologie).

Auf solche Ideen bringt ein Werk, das, wenn auch nicht von Descartes weg, die französische Philosophie und Geistesgeschichte bis 1800 so materialreich und minutiös darlegt, daß deutschsprachige Leserinnen sich die Frage gefallen müssen, wieso sie sich - einen Schlußstrich unter die nationalteleologischen Perspektiven Überwegs, Erdmanns und Zimmermanns ziehend - nicht schon längst um eine komplexere europäische Perspektive der modernen, das heißt neuzeitlichen Philosophie bemüht haben (Analoges wäre zur angelsächsischen Philosphie der Periode zu sagen.). Dabei untersucht die Autorin Anni Becq "nur" einen schmalen Bereich jener Geschichte, nämlich die Ästhetik. Wie reichhaltig und breit jedoch die französischen ästhetischen Diskurse waren, ist das Objekt einer faszinierenden Enthüllung, an der uns dieses Buch teilhaben läßt. Der Klappentext: allgemeine Bewegung der Modernität zur neuartigen Konzeption des Schönen und der Kunst; französischer Aspekt von der Querelle des Anciens et des Modernes bis zur Romantik; Geburt und Beschaffenheit der Ästhetik; Emanzipation des Schönen von der Moral; der Künstler als Schöpfersubjekt; der Bezug zur freien Kritik; die autonome Stellung des Künstlers; die Entwicklung des Kunsthandels. Das Werk besteht aus drei Büchern, und das ist wahrlich keine Koketterie an den Sprachgebrauch des behandelten Zeitraums. Eine ausführlichere Wiedergabe:

1. Buch

In ihm nimmt sich Becq des "klassischen Erbes" (1680-1715, S.39-221) an. In Anknüpfung an die Widersprüche des Vernunftbegriffs in der klassisch ästhetischen Doktrin will Becq den Kompromiß entsprechend der feudalabsolutistischen Monarchie dechiffrieren. Es ist ein politischer Kompromiß, der die Renaissance und ihre Theorie (Aristoteles) bremst. Aber zugleich schließen auch die Theoretiker der Zeit, noch unfähig, die Werte und Ziele der Kunst zu bestimmen, mit der "Vernunft" einen Kompromiß.

Gewissermaßen zum Testfall wird Roger de Piles. In der Vermittlung von Schönem und Wahrem geht es de Piles um das einfache ebenso sehr wie das ideale Wahre als ein wesentliches Wahres. Vollkommene Schönheit steht hier auf dem Spiel, aber auch die Nuancierung des Einfachen und der große Geschmack. Dieser Theoretiker der bildenden Künste sieht daher das Genie, das er als Licht des Geistes quasi naturalisiert, als das Erste im Künstler an, als das womit das Werk zu "einer glücklichen Geburt" wird (S.46). Wenn der Maler weiters den großen Geschmack braucht, dann ist es das Vermögen, die gut gewählten Natureffekte anzuwenden, die ebenso außergewöhnlich wie groß, ebenso wahrscheinlich wie überraschend sind. Auf der Suche nach Wirkung lehnt de Piles daher das "Endliche" ab. Thema werden nun auch die Ornamente, das ästhetische Vermögen der Form, Farbe und Design - ohne dem letzteren den Vorrang zu geben - , die Annehmlichkeiten des Unregelmäßigen, aber auch jene Regeln der Zeichnung (Maß, Kontur), die die cosa mentale erfordert. Es ist eine poetische Vernunft, mit der de Piles' coloris dennoch über das exakte Maß (Descartes) reüssieren sollten. Was de Piles mit dem Philosophen der Harmonie Leibniz verbindet, ist neben der Ablehnung der logischen und mechanistischen Aspekte des Cartesianismus, die Auffassung, daß die Grundbegriffe letztlich ästhetischer Natur sind. Anders herum: der rationale Charakter des Kunstwerks erweist sich in der ästhetischen Ordnung auch der Farben.

Doch ist das nur der Auftakt. Denn schon zeichnen sich andere "Horizonte einer Erneuerung" ab. Es sind dabei weniger das je ne sais quoi und die Anmut, deren Potentiale freigesetzt werden, eher schon ein Antiintellektualismus wie bei Bouhours, der die Ordnung des Figurierten mit dem Topos des Scharfsinns und dem sentiment verknüpft. Hier bringt Becq auch Pierre Nicoles wichtiges Vorwort zur Recueil des poésies chrétiennes et diverses de Port-Royal zur Sprache sowie die Thematisierung der Anmut im Verhältnis zum je ne sais quoi - dem ästhetischen Wert - und zum ästhetisches Urteil zur Sprache. Der Begriff des rapport nimmt Bedeutung an. Etwas unterbelichtet erscheint die Querelle des anciens et des modernes, mit der sich Becq in ihren Aufsätzen als Entstehungsort der modernen französischen Ästhetik ausdrücklich beschäftigt (Lumières et modernité: de Malebranche à Baudelaire, 1994). Denn sie ist nicht nur der zumindest oberflächlich maßgebliche Grund, den Beginn einer modernen Ästhetik mit 1685 anzusetzen - die Querelle kam am 27. 1. 1687 in der Sitzung der Académie française mit Charles Perraults Vortrag zum Ausbruch. Es ist auch der Schritt von den klassischen Normen zum Fortschritt der Menschheitsgeschichte im Historismus der historischen Kunstbetrachtung sowie die sich schon abzeichnende Trennung von Wissenschaft und Künsten im 18. und 19. Jahrhundert, die als konstitutive Bedingungen für die Entstehung der Ästhetik stärker hätten herausgearbeitet werden müssen. Es ist aber auch nicht auszuschließen, daß die wenigen Bemerkungen Becs dazu mit der Selbstverständlichkeit zusammenhängen, mit der die Autorin das Gewicht und Ausmaß dieser Kontroverse als bekannt voraussetzt.

Der zweite Horizont kommt von der Seite der Einbildung her, und zwar, wie es scheint, mehr im Sinn der Erkenntnistheorie als der Poetik und Rhetorik. Hier tut sich der ganze Bedeutungshof von imagination auf: Einbildung als Basis des geistigen Lebens, als Zufall des Ichs, im Verhältnis zur Kenntnis, in der Stellung des Bildes bei Descartes (das sichtbare Modell der Kenntnis), als Infragestellung der Kenntnis-Vision und als nominalistische Versuchung. Zur Sprache kommen Malebranche, die jüdisch-christliche theosophische Tradition, aber auch die Metapher der Gußform (Nicole) und des Spiegels.

Und es kommen die englischen Horizonte zur Sprache, wobei Becq klar gewesen sein muß, daß die englische Tradition international die einflußreichere war. Es geht, mit einem Exkurs zum materialistischen Empirismus Hobbes', um die englische Philosophie und die Vorrückung der Einbildung. Becq hebt dabei einen ersten Sinn von fancy - widersprüchlicher Charakter des Bildes: betrügerischer Sinn und Erinnerung, produktive Einbildung der Fiktionen und ihre epistemologische Funktion, die zwei Kategorien der assoziativen Ketten, Zeichenproduktion - von einem zweiten als dem Grundvermögen ab, das in der notorischen Einbildungskraft (Kant) in Richtung einer kreativen Vernunft ausgeprägt wird. Wie heilsam eine französische Lektüre dieser Problematik für die Kentnis des deutschen Kontexts ist, zeigt "imagination", das exakt mit "Einbildung" übersetzt werden kann. In der Lektüre des Becqschen Buchs hat man spätestens beim zehnten Auftauchen von imagination die im Deutschen übliche abwertende Konnotation vergessen! Bei dieser Gelegenheit kritisiert Becq Lockes Minimierung der Einbildung zur Aufwertung der Erinnerung. Dagegen wäre zu fragen, ob nicht engl. idea wegen seiner Stellung zur sensation doch eine stärkere Funktion für die Einbildung einnimmt, wobei dann zu klären wäre, wie Locke auf Malebranches Position reagiert hat. Einbildung und Erfindung, Einbildung und Enthusiasmus eingehender abgehandelt, führt Becq jedenfalls zur Ansicht, daß die Ideenassoziation eine subalterne Stellung einnimmt. Wie aber läßt sich dann der enorme Schub der Steigerung der Imagination in Addisons "The Pleasures of Imagination" von 1712 erklären?

Es ist Shaftesbury und die Schule von Cambridge, denen mehr Platz eingeräumt wird. Sowohl der Enthusiasmus als auch interesselose Kontemplation und Form, sowohl die Identifikation mit dem "großen Genie der Welt" wie die Kritik der Mimesis werden hier ausgebreitet. Dabei will Becq der Versuchung eines ästhetischen Mystizismus widerstehen, wie sie ihn (nach Cassirer) in diesem ficinischem Platonismus am Werk sieht. Immerhin ist diese Strömung, indem sie sich gegen den mechanistischen Cartesianismus und den von Hobbes heraufkommenden Empirismus stemmt, in der Lage, eine Kunst auszumachen - besonders die Musik - , die, indem sie nichts nachahmt, das Übernatürliche nachahmen kann. Damit wird wohl die Schöpfung in den Mittelpunkt der ästhetischen Reflexion eingeschrieben, aber es kommt zu keiner Eingrenzung dieses künstlerischen Schönen beziehungsweise eines künstlerischen Vermögens. Im Blick auf das Werk des "obersten" Künstlers kann der Geschmack weiterhin nur klassisch, die Einbildung nur provoziert und leitungsbedürftig bleiben.

Doch der wichtigste Horizont der Erneuerung, aus den Widersprüchen der klassischen Vernunft heraus, zeichnet sich mit einem Erstarken des Empfindungsbegriffs ab. "Empfindung bei Malebranche" kann zwar nur ein kurzes Kapitel sein. Seine Stellung ist dafür umso komplexer. Es ist übrigens das einzige Kapitel, das ausdrücklich einem Autor gewidmet ist, zugleich das vielleicht philosophischste Kapitel. Und das sogar, wo doch das Referenzwerk von Malebranche deutlich außerhalb der Schwelle von 1685 liegt. Das Datum 1674 der Ersterscheinung von "Von der Suche nach der Wahrheit, wo man von der Natur des Geistes des Menschen handelt und dem Gebrauch, den er von ihr machen muß, um den Irrtum in den Wissenschaften zu verhindern" mag immerhin relativiert werden angesichts der sechs Auflagen, die das Werk zu Lebzeiten Malebranches (+ 1715) erfuhr und die die untergründige, ästhetische Wirkung erahnen lassen.

Malebranche wird also von Becq in bezug zur Ästhetik gesetzt. Dabei geht es um den Unterschied von sentiment und sensation. Das sentiment - im späteren Sprachgebrauch vor allem und schon zu Zeiten Malebranches als Empfindung im Sinn von Gefühl zu verstehen - wird von Malebranche als das seelische Resultat der Formation gewisser Spuren im Gehirn entsprechend den Gesetzen der Leib-Seele-Einheit definiert. Damit ist ein dritter Bereich neben der denkenden und der ausgedehnten Substanz abgesteckt. Alle passions wie sensations gehen damit in die Abbildung von sentiment auf sensation ein - wogegen erst im 19. Jahrhundert die Opposition von sentiment als Gefühlsempfindung und sensation als Sinnesempfindung weit verbreitet ist. Bei Malebranche jedenfalls repräsentieren die Sentimente nur die Modifikationen in unserer Seele von den Dingwahrnehmungen außer uns, geben also nur Informationen über unseren Subjektzustand. Hatte schon Descartes gemeint, daß die Sensationen nicht den Ursachen, den räumlichen Objekten, ähnlich sind, diese nicht "kopieren" - wie es der Unterschied des spontan erfassenden Musikers gegenüber dem die Schallwellen messenden Physikers bezeugt - , so sind es für Malebranche andere als nur äußere Objekte, die auf die Sinnesorgane wirken. Auch der subjektive Aspekt von sensation/sentiment ist eine Realität, wenn auch eine Realität der Seele in ihr selbst. Malebranche reserviert das sentiment für die Seele selbst und wertet es dadurch auf. Damit kommt aber auch diesem inneren sentiment, das nicht nur eine Folge physischer Erschütterungen ist, ein Wissen zu, nämlich daß die Seele derart auch Ideen hat. Es handelt sich nicht um eine taktile Berührung (sensation <analog wäre sapeur>), sondern eine Rührung (ein toucher <analog wäre goût>). Die Vorstellung des Objekts ist vom Affekt begleitet, oder das sentiment kann die Seelensubstanz so tiefgreifend affizieren, daß Vorstellungen unmöglich werden. Malebranche meint, daß diese unvollendete Unmittelbarkeit in sich eingeschlossen bleibt, ohne zur Vorstellungsfähigkeit entwickelt zu sein - es ist dann sentiment im Sinne einer untergeordneten sensation. Dagegen ist das innere sentiment als mit der Vorstellung des Objekts verbundenes in seiner vernunftbezogenen Präsenz es letztlich, das erhellt, vertieft und rührt. Diese Präsenz allein ermöglicht übrigens, dem Oratorianer Malebranche zufolge, eine Beziehung zu Gott. Beide - sowohl sensation wie sentiment - jedenfalls charakterisiert das Erleiden der Präsenz äußerer, materieller oder nichtmaterieller Realität und zwar mit oder ohne Vorstellung. Auch wenn die Freiheit hier keine klare Idee sein kann, wie Malebranche Descartes einräumt, so kann sich die Seele doch als frei erfassen in einem Ungenügen des Bewußtseins vor dem Fertigen, in einer Unruhe, in der sich die Seele als glücksbegehrend enthüllt (jede Affektion ist au fond Gottesliebe).

Daraus resultiert für Malebranche jedoch gerade die Positivität des Vergnügens. "Das wahre Gut ist wirklich angenehm, bringt ein wirkliches Gut hervor." (S.176) In der gelebten Erfahrung erweisen sich also sensation wie sentiment gemäß der Definition der Modifikationen der Seele als immer schon vorgängig. Weiters: grâce (Anmut, Gnade) - auch sie eine Empfindung! Hier kommt herein, daß das sentiment die Erfahrungen über die Bezüge der Dinge mit den Körpern als gottgewollt enthüllt, als eine Ordnung, deren Vollkommenheitsbezüge sie einzuhalten erlaubt. Ein solches Zulassen der Affektivität, verschafft ein "Wissen über das sentiment" (S.179) - in Verbindung mit dem Licht wird, so Becq, das moderne ästhetische Denken ermöglicht. Noch einmal anders: Eine derart im sentiment erprobte Vernunft kann die Bezüge der Vervollkommnung der Ordnung erfassen. Eine "platonisch"-moralische Ästhetik beruht hier also auf Gott und seiner Schöpfung. Dabei wird klar, daß die Trennung der räumlichen Sensation von der Idee das natürliche (Wahrnehmungs)Urteil sowie die artifizielle Kunst der natürlichen Geometrie stärkt, die von den Parteigängern der Empfindung und der "discussion" aber bekämpft werden wird. Die Auswirkungen der Doppelung von sentiment auf das 18. Jahrhundert sieht Becq jedenfalls zurecht als beträchtlich an. Stärker noch wird das theoretische Unvermögen der sensation betont werden, während das sentiment die Rationalisierung des Sinnlichen befördern wird. Beide jedoch erlauben nun, vom vom Verstand auszugehen: die Sensation vom Nichts, das sentiment von der Ordnung, die die Kenntnis in den Bezügen der Größe und der Vollendung verbürgen und den Charakter einer schöpferischen Rationalität annehmen läßt. Das sentiment wird als als Symptom für das theoretische Bedürfnis ästhetischer Phänomene identifizierbar.

2. Buch

Man weiß, daß die Philosophie auf den Universitäten Frankreichs vom Ende des Mittelalters bis zu Victor Cousin keinen namhaften Proponenten hatte. Deswegen tut Becq gut daran, ja, es bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich auf die Diskurse der Akademien, der Dichter und Künstler sowie der vielen "aufgeklärten", theorieinteressierten Geistlichen (Pascal, Malebranche, Lamy, Dubos, Bouhours, Batteux, Condillac) zu stützen. Auch hier liegt eine zumindest soziologisch gestützte Ideengeschichte nahe. Es machen daher die großen Einschübe eine besondere Qualität des Buchs aus, die "an Stelle eines Schlusses" nach oder auch vor einem größeren Abschnitt weite soziologische Ausführungen bieten. Becqs Soziologie des sentiment etwa eruiert für die Zeit nach 1715, dem Todesjahr auch Ludwigs XIV., einen politischen Kompromiß zwischen Feudalabsolutismus und Merkantilismus, der wiederum von einem die soziale Stellung des Künstlers betreffenden Kompromiß der Akademien und einem kunsttheoretischen Kompromiß zwischen Genie und Nachahmung begleitet wird. Dabei kann Becq die Querelle des antiques et des modernes als einen Ausdruck der Krise der absoluten Monarchie deuten, auf die nun ein Kompromiß der klassischen, ästhetischen Ideologie folgt, nämlich die Verbindung der Vernunft und des sentiment im Sinne des bon sens, wobei sich der Topos Einbildung auf dem Rückzug befindet.

Damit sind zugleich die 250 Seiten des zweiten Buchs "Das Zeitalter des Kompromisses: das sentiment und die schöne Natur" eingeleitet. Der hier angedeutete Widerspruch wird von Becq als Motor auch der Verwandlung des Vernunftbegriffs im Jahrhundert der Aufklärung gedeutet. Mit dem Aufkommen von "Geschmacksdiskussionen" und den Theorien der künstlerischen Aktivität in bezug auf Einbildung kann Becq daher nun den historischen Einschnitt von 1715 auf den theoretischen Durchbruch des sentiment gründen, das die Vernunft zu Batteux hin so tiefgehend umwandeln wird. Es geht hier um die "Geschmacksdiskussionen" nach, aber auch noch vor 1715, die zugleich einen Köder für die Einbildungstheorien darstellen. Da die Geschmacksdiskussionen gegen Ende des 17. Jahrhunderts zunehmend wichtiger wurden, muß Becq klären, wie das sentiment - Malebranche! - nun seine Rolle spielen kann, wie das sentiment zum ideologischen Ort des Kompromisses vorrücken kann. Daher auch die Dringlichkeit des Geschmacksproblems, wobei es Becq darauf ankommt, die sozialen Gruppen um 1715 ebenso in den Blick zu bekommen wie die sozioökonomischen Bedingungen der Modernen sowie den damaligen Markt der Kunstwerke, wie er innerhalb der Restauration des Absolutismus beschaffen ist. Wenn nun aber der Empfindung, dem sentiment, eine so große Bedeutung zukommt, dann wird klar, daß das, was als Geschmacksdiskussion zu Beginn des 18. Jahrhunderts firmiert, mit dem Topos des sentiment zusammengedacht werden muß. Becq greift dabei zum Teil wiederum weit ins 17. Jahrhundert zurück, wenn sie die Parteigänger des sentiment, die klassische Tradition und, davon unterschieden, einen Rationalismus bestimmten Typs abhandelt.

Als Anhänger des sentiment läßt sich allen voran der von Shaftesbury beeinflußte und an Malebranches natürliches Urteil anknüpfende Dubos ausmachen. Zwar liessen sich an ihm die englischen Einflüsse deutlicher beschreiben, etwa die Rolle der sekundären Qualitäten, die sie von Locke über Addison auch für ihn spielen. Dafür kommt Dubos in seiner politischen Ausrichtung zur Sprache. Hier kann Becq wie sonst oft auf die gründliche französische Geistesgeschichtsforschung der vergangenen 100 Jahre zurückgreifen, etwa auf die grundlegende Thèse von Alfred Lombard zur Ästhetik Dubos'. Auch die Theoretiker des Herzens, der Geschmacksmodifikation kommen zu Wort, wenn der Geschmack endlich, nicht mehr nur metaphorisch, als ein eigener sechster Sinn zum philosophischen Rivalen der Vernunft avanciert. Die Entwicklung geht also in Richtung eines Begriffs autonomer ästhetischer Ordnung, wobei Becq die Front des sentiment als disparat bleibend charakterisiert.

An der keineswegs verschwundenen klassischen Tradition will Becq, zweitens, die Reaktivierung des theoretischen Kompromisses zwischen Verstand und sentiment politisch deuten. Hier pendelt sich die Geschmacksdiskussion zwischen dem Schönen und Wahren ein, als ein guter Kampf zwischen Schöngeistern. Kein Wunder, daß das platonische, rational zugängliche, ideale Schöne wieder auftaucht, das sentiment in einer unentschiedenen Stellung verharrt. Der Geschmack wandelt sich also zur Kritik des Kenners, woran sich die Überschreitung der Opposition von discussion und sentiment ablesen läßt. Hier hätte Becq vielleicht zeigen können - im Sinn einer internationalen (Wechsel-)Wirkungsgeschichte, die sie kaum verfolgt, aber schon allein durch die in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Übersetzungstätigkeit zwischen vom Französischen, Englischen und Deutschen (Dubos, Burke, Winckelmann, Haller, Home, Gilpin oder Hutcheson, dessen Untersuchungen zur Schönheit und der Tugend von Condillac mitübersetzt wurden) - , daß etwa Hume seine Geschmacksstandards quasiklassisch in einem empirischen Subjekt verankert, was wiederum Kants Ansatzpunkt werden sollte.

Davon unabhängig - was unvollständig begründet bleibt - stellt Becq, drittens, die Position der Rationalisten dar. Sie nehmen den größten Platz von allen dreien ein. Becq kann zeigen, daß die Rationalisierung des Sinnlichen - aus Weimarer Perspektive wäre es Schillers Zugang zur Klassik - schon in diesen ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in großem Maßstab anläuft, auch hinsichtlich einer soziopolitischen Funktionalisierung des sentiment. Das heißt, mit einer Kritik an Boileau geht eine erste Form der Systematisierung des Ästhetischen einher, etwa, wenn das mehrdeutige sentiment als ästhetische Form der sensation definiert beziehungsweise diesem untergeordnet wird (vom "ersten" französischsprachigen Ästhetiker Crousaz, 1715!), wenn die Objektivität des Schönen, ja zum Teil dessen Hegemonie im Sinn einer physisch-universellen Menschennatur sowie die "poetische Vernunft" und ihre Erfordernisse festgesetzt werden, wenn der Geometer Houdar de la Motte das Sinnliche als vernunftbefruchtend und aus der ästhetischen Ordnung eine Ökonomie des Gedichts ableitet, oder wenn Batteux das Geschmacksproblem des Schönen und des Guten in die Ordnung des Empfindens und Kennens, des natürlichen und künstlerischen Schönens einführt. Hier legt Becq schlußendlich den Ort der Möglichkeit einer Wissenschaft der Empfindungen frei. Doch halt! Spätestens hier muß den deutschen LeserInnen Becqs klar werden, daß Baumgartens Meditationen über die Dichtung von 1735, in denen übrigens beim Sinnesurteil vom "goût gallicorum" die Rede ist und eine Wissenschaft vom sensitiven Erkennen (scientia sensitivae quid cognoscendi) gefordert wird, nicht der einzige Anlauf zu einer neuen Disziplin gewesen ist. Becq geht ausführlich auf die Réflexions sur les sentiments agréables et sur la plaisir attaché sur la morale von Lévêque de Pouilly ein, die 1736 und erfolgreich wieder 1747, 1748 und 1749 in umfangreicherer Form aufgelegt wurden. Hier wäre dann auch an Sulzers "Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen" von 1751/52 (frz. 1767) zu erinnern, die das Empfinden mit dem Erkennen und dem Begehren zu den noch für maßgelblichen drei Grundvermögen der Seele gruppieren.

Keine Frage, daß man angesichts dieses komplexen Hintergrunds der "Geschmacksdiskussionen" des ersten Teils von Buch 2 nun auf den zweiten über die Theorien der künstlerischen Aktivität besonders gespannt ist. Da Becq nun einmal das sentiment als eine starke Kategorie herausgearbeitet hat, wird es auch als Umweg für Theorien der künstlerischen Aktivität interessant - wobei die Kategorie der Einbildung auf dem Posten bleibt, wie die Aufklärungsstrategin Becq sagt. Tatsächlich, so ließe sich ergänzen, sollte auch für die deutsche Ästhetik als Kunstphilosophie entscheidend werden, in welchem Ausmaß die aisthesis zur Grundlage einer Theorie der Produktion (Schöpfung) wie Rezeption von Kunst gemacht werden kann, wenn auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Objekt, etwa als sinnliches Scheinen der Idee, kunstphilosophisch den Vorrang bekommen sollte. Die Kapitel sind: "Die 'Geometriker' und die Ästhetik" (1), "die klassische Tradition" (2), "die ästhetischen Anwandlungen des Rationalismus" (3) und "Empirismus, Sensualismus und Einbildung" (4).

Während sich die Geometriker (Kap. 1) auf einen selbständigen, ästhetischen Zusammenhang zubewegen, indem sie für die Dichtung dem gut Gedachten und nicht nur gut Geschriebenen einen ausreichend rationellen Kern zuschreiben, sie aber zugleich die geniale Aktivität auf ein menschliches Maß bringen - die poetische Schöpfung enthält irrationale Faktoren, die man auf das Maß natürlicher Vermögen zurückzuführen hofft - , weiters Vernunft und Einbildung voneinander ablösen, das Genie einem übernatürlichem Einfluß entziehen und, bei gleichzeitiger Einführung einer autonomen ästhetischen Ordnung lebendiger statt präziser Ideen bei allgemeiner Wertschätzung von allem an seinem Ort, die intellektualistische Vernunft als für die Dichtung inkompetent erklären, hat sich die klassische Tradition (Kap. 2) in diesen ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nicht gegen eine allgemeine Kunsttheorie gestemmt, sondern im Intellektualismus die rationalen Erfordernisse mit dem poetischen Ausdruck, die Schöpfung mit der Nachahmung zu vermitteln versucht sowie gegen die Zähigkeit klassischer Kriterien die Nachahmung des idealen Wahren via geniale Eingebung spielen zu lassen. Diese klassischen Versöhnungen von sentiment und Vernunft lassen den ästhetischen Diskurs erneut die klassischen Dispositive reaktivieren, deren theoretische Kompromisse denen in der Monarchie entsprechen.

Und während Becq in einer detaillierten Untersuchung der Dichtungstheorie die "ästhetischen Anwandlungen <avatars> des Rationalismus" (Kap. 3, S.403ff.) im Ausgang von einer Kritik der dichterischen Furors ebenso wie der Nachahmung und des Status der Wahrheit der Fiktionen findet - die "Grotesken" - sowie in Anknüpfung an die künstlerische Erfahrung Michelangelos, Raphaels, der Gotik und der naiven Natur schließlich die Koordinaten des Enthusiasmus aufspürt (Batteux), zugleich aber den künstlichen Charakter der Kunst und die schöpferische Emotion in einer ideellen Ganzheit heroisch rational konzipiert, öffnet sich nun auch (Kap. 4) ein sensualistischer Empirismus, der 1746 folgenreich bei Condillac die praktische Kenntnis und das natürliche Urteil in die durch Wahrnehmung und sentiment hindurchgegangene Künstlichkeit von zeichen- und einbildungerzeugendem Verstand umstülpt und aus seinem ursprünglichen Spalt die différance von Natur und Kultur ermöglicht (Derrida) sowie, bei LaMettrie, die Einbildung in ihren Bezügen zu Erinnerung, Gefühl, Genie/Geist und einer von der Bestie zum Menschen fortschreitenden Vernunft befördert.

Wenn daher das Kunstwerk als Wert, zugleich aber als kulturelles Zeichen qua Einbildung hinsichtlich einer schöpferischen Vernunft begriffen wird, dann bringt dies zugleich die Pseudobefreiung der Nachahmung mit sich. Die schöne Natur ist dann in einem Kompromiß so aufgehoben, daß die Stellung des Künstlers am Markt und die ideologische Plastizität des sentiment mit dem zur Restauration der monarchischen Idee passenden Bild vom 17. Jahrhundert übereinstimmt.

Hier müssen doch einige Bedenken an Becqs Sicht der Dinge ausgesprochen werden. So wird nämlich nicht klar, ob es ausreicht, wenn das Kunstwerk und die künstlerische Aktivität seine Autonomie allein von einer schöpferischen Vernunft bezieht. Was Becq entgeht, ist die bedeutsame Tatsache, daß sich der Begriff jener einen Kunst, wie Kristeller gezeigt hat, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einer folgenreichen Systematisierung der Künste verdankt. Gerade in der französischen Entwicklung der Ästhetik drängt alles von Perrault über Massieu, Crousaz, Dubos, André bis Batteux dahin, die beaux-arts und die Künste der belles lettres unter einen Schirm zu bringen, indem die mechanischen Künste (die métiers) und die (neuen) Wissenschaften deutlich abgegrenzt werden. Diese Tatsache der systematisierenden Vereinheitlichung jener schon Ende des 18. Jahrhunderts gar nicht mehr extra "schön" genannten Künste hätte übrigens Becqs Unterfangen einer Rekonstruktion der dichterischen Vernunft zusätzlich stützen können.

Vielleicht hat Becqs mangelnde Rücksicht auf die sich herausbildende allgemeine Kunsttheorie, wie sie von Sulzer in den Supplementbänden der Encyclopédie von 1776 unterstrichen wird, auch damit zu tun, daß sie den Theorien zur Musik kaum nachgeht. Dabei könnten gerade für das französische 18. Jahrhundert immer öfter statt bei den traditionellen Experten der scientia musicae bei den philosophes der Einzug der neuen Philosophie und Ästhetik festgestellt werden, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts so richtig zum Durchbruch kommen sollte. Ästhetische Streite, ähnlich der Kontroverse zwischen Rubenisten und Poussinisten, gab es auch in der Musik. Auch hier wird, wie etwa John Neubauer gezeigt hat, - Aufschwung der Instrumentalmusik - die Kunst nicht mehr als einer mimesisorientierten Sprache unterworfen angesehen. Auch in der Musik setzten sich die neuen ästhetischen Prinzipien wie Ausdrucks- und Formorientiertheit durch. Der Aufschwung dessen, was als absolute Musik bezeichnet werden sollte, begann mit einer Relativierung von Rameaus "klassischer", wie auch immer mit Newton aufgeklärter Musiktheorie, begann mit der Intelligibilisierung der Affekte durch die Harmonie und die Melodie. So stellen Melodien nun, als reines Werk, Gefühle direkt und ohne Metaphysik dar (Rousseau), während das reale Schöne erst in der reinen Musik quantitativer rapports zum Ausdruck kommt und den Mimetismus etwa im von Becq unberücksichtigt gebliebenen "Neffen Rameaus" zur Referenzlosigkeit verkommen erscheinen läßt (Diderot). Übrigens könnte hier der bei de Piles von Becq angesprochenen kubistischen Lektüre Poussins eine dadaistische des über Schiller von Goethe in die Diskussion des 18. Jahrhunderts hereingebrachten berühmten Dialogs von Diderot an die Seite gestellt werden.

3. Buch

Die nächsten 300 Seiten gelten der Entwicklung zur dichterischen Vernunft, 1747-1797. Sie läuft auf eine Synthese der Vermögen hinaus, auf das, was im 19. Jahrhundert als Genie hypostasiert werden wird. Beqcs Blick richtet sich zunächst auf die kulturelle Politik des feudal-absolutistischen Staats und auf Condillac, Batteux und die Entwicklung des Begriffs der poetischen Vernunft. Ihre Achse ist das ideale Schöne in den ästhetischen Reflexionen der Bourgeoisie von der Jahrhundertmitte bis zu den Anfängen der Restauration mit Napoleon. Nach dem Alptraum von 1793 ist nichts mehr wie vorher. Ab jetzt beginnt sich deutlich die künstlerische Ideologie abzuzeichnen, insbesondere die Sakralisierung der Kunst (Bourdieu), die die politische und soziale Position der Künstler sichert. Becq spricht von einer feudal-religösen Sanktion, die den Markt und die reale Kreation/Schöpfung des Künstlers als Zeichenproduktion in ihrer Kontingenz wie Faktizität verdunkelt. Dabei sind es nicht nur einzelne große Namen wie Diderot, sondern auch Gruppen wie die Akademie française oder, schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts, die "Intellektuellen", wie sie das geistige Leben Frankreichs so sehr kennzeichnen. Becq spricht von einem ästhetischen Absolutismus, wie er die Akademie und die Ausstellungen bis hin zum Projekt eines Nationalmuseums bestimmt, das durch die "Assemblée revolutionnaire" realisiert wird.

Spannend vorgeführt werden die Umschichtungen und die "Agenten" von "sentir" sowie die Spaltungen von sentiment, wie sie zum Schöpfersubjekt und der modernen Ästhetik hinführen. Neben dem Dictionnaire de Trévoux kommt besonders die Encyclopédie zu Wort, mit der sich Becq auch später beschäftigen sollte, in dem von ihr herausgegebenen Symposium Caen 1987 über L'Encyclopédisme (1991) oder in ihrem Artikel L'"Encyclopédie" et l'esthétique, mots et choses: quelques remarques, der in Mélanges Jacques Chouillet (1991) erschien, dessen Buch L'Esthétique des Lumières von 1974 sowie dessen lexikalischer Artikel "Esthétique" in der Histoire littéraire de la France 1715-1794 (V/1, 1976) vielleicht zu den Ausgangspunkten von Becqs Forschungen gehörten. An dem Prozeß, in dem sich die dichterische Vernunft herausbildet, werden zunächst die zwei objektiven Dimensionen des großen Schönen und der poetischen Ordnung verfolgt, dann als Resultat die schöpferischen Subjektivität ausgemacht, das auch für die deutsche Situation seit Herder und Moritz plausibel wäre. Seit den 1740er Jahren hatte sich die Auffassung manifestiert, daß die Kunst und das Schöne gehobene Dinge sind. Dabei stellt sich das Begriffsfeld des idealen Schönen, das Teil des großen Schönen ist - auch wenn die Theoretiker oft dagegen auftreten - , als eine Bedingung heraus, die dem Denken einer autonomen ästhetischen Ordnung und der Theoretisierung der künstlerischen Aktivität als Schöpfung günstig ist. Auch innerhalb der französischen Ästhetik geht es um die Stellung der "ästhetischen" Vermögen, die der Konstituierung des Subjekts dienen wie das sentiment, die Einbildung und die Vernunft, und es geht ums Genie, das diese Konstitution bedroht.

Im Teil über das große Schöne und die ästhetische Ordnung wird - um das 14. der 17 Kapitel (über das große Schöne, 75 Seiten) in wenigen Zügen zu skizzieren - die erneute Rückkehr zur Antike thematisiert, weiters die Tradition des großen Geschmacks und die schöne Natur bei Batteux oder Aristoteles, das Wesen des Primitivismus, Reynolds' Discourses, der Antiplatonismus, die energetische Vorstellung der Natur, Diderots Subversion des idealistischen Begriffs des idealen Schönen, der Leibnizianismus des im Französischen seit den 1750er Jahren präsenten Sulzer, der Moment als Ruhe oder Extremes (Winckelmann, nicht aber Lessing), die Bedeutungsaufsplitterungen und die Kombinationen von sentiment. Es folgen Ausführungen über das Schöne als Form-Wert und die Schöpfung - wie bei "Einbildung" für imagination befreit auch hier eine direkte Übersetzung von création von der theologischen Belastung des deutschen Worts - , in denen es nicht zuletzt um die Destruktion der Nachahmung und um das rationale Erbe der Harmonie des Ganzen geht.

Als quasi selbstverständlich abschließenden Teil behält sich Becq die Diskussion der schöpferischen Subjektivität auf, die sich als eine dichterische Vernunft herauskristallisiert. Gerade beim Kapitel "Einbildungskraft, Empfindung, Vernunft" kommt Becq auf den von Leibniz her gefaßten dynamischen Intellektualismus Sulzers zu sprechen. Ja, wer im Deutschen bisher eher "Antiintellektualismus" im Ohr hat, wird auch in der Ästhetik eine Strömung auszumachen in der Lage sein, die im "nihil est in intellectu ... nisi intellectus ipse" ihren Ursprung hatte (und bei Sulzer sich fortpflanzte). Hier wird der "Einbildung" in einem zweiten Schwung ihr Recht erwiesen, bei Hume, Addison, Diderot, Voltaire, um endlich auf die Entdeckung des Schöpferischen der Einbildung selbst hinzuweisen und darauf, was dies für Konsequenzen für das sentiment und das ästhetische Vergnügen hat (einschließlich seiner kathartischen Funktion).

Somit ist der Boden bereitet, das Genie als eine Kategorie zu verstehen, die über einen wie weit auch immer gefaßten préromantisme hinausgeht. Noch immer dauert in Frankreich der klassische Kompromiß an. Doch kommen jetzt neue Aspekte des Geniebegriffs herein: die geniale Konzentration Youngs, die Annäherung von Genie an die Empfindsamkeit (sensibilité) und der Enthusiasmus, der in seiner unmittelbaren Übertragung zum Meisterwerk der Vernunft avanciert. Was das Werk der Kunst sonst betrifft, läßt sich Becq allerdings kaum darauf ein. Dabei ließe sich gerade anhand des Kunstwerks die ästhetische Ideologie weiter aufklären, hatte doch die Ästhetisierung der Kunst, nach Marquards theologiegeschichtlicher Ansicht, zu einer Rettung der Werkgerechtigkeit beigetragen, indem die Heilsrelevanz guter Werke vom Ästhetischen der Kunstwerke abgelöst beziehungsweise das absolute Werk als Selbsterlösungswerk eingeholt wird - auch wenn das nur für den protestantischen Raum gilt (der aber aus dem britischen Raum hereingewirkt haben könnte).

Hier stellt sich dem persönlichen Subjekt aber bald die Frage der Selbstaneignung, danach, ob es hierin sentiment oder Einbildung ist, aber auch danach, ob es als Genie der großen Kette der Wesen angehört. Es geht nicht zuletzt um die Integration oder Verdrängung "fremdpsychischer" Instanzen der Vernunft, bei der Gefahr, daß das moderne Subjekt oder die ästhetische Erfahrung oder gar die Form wegen der Ablehnung der Proportionen oder der Krise der représentation zersplittert. Wer wollte hier nicht unsere Moderne des späten 20. Jahrhunderts einschließlich der postmodernen Problematik erkennen, ohne daß dies von Becq explizit suggeriert wird. Wie auch immer setzt sich ein quasi-naturphilosophisches bürgerliches Energie-Genie-Begierde-Universum durch, das sich auf Organisation, Arbeit und Erziehung ausdehnt und dem Genuß der Schönheit seine Intensität leiht.

Warum sieht Becq die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als die entscheidende Etappe in der Geschichte der französischen Ästhetik an? Es ist nicht, weil sie hier eine Vorrangstellung des französischen ästhetischen Diskurses vor dem deutschen oder englischen sieht, wie es anhand der Einflüsse bis in die 1760er Jahre leicht zu zeigen wäre. Sondern es sind für sie der überraschend parallele Begriffsgebrauch zwischen diesen Diskursen, die gleichen Fragen und die gleiche Reaktion auf die Bewegung der Empfindsamkeit, die die französische Entwicklung in der europäischen Ideengeschichte bestätigen. Das betrifft, wie Becq sagt, besonders den Bereich der Ästhetik, der als großes Schönes durch eine Rückkehr zur Antike angestrebt wird. Es ist diese Idee unter den privilegierten Arten des idealen Schönen, die zum Entwurf einer autonomen, ästhetischen Ordnung maßgeblich beiträgt.

Und wieder folgt ein soziologischer Über- und Ausblick. So sind für Becq die soziopolitischen Einsätze des Strebens zum großen Schönen und der Rückkehr zur Antike für die Zeit bis 1795 ausschlaggebend. In Unterminierung des monarchischen Kompromisses wurde einmal mehr der soziopolitische Mythos des antiken Griechenlands konstruiert, um ein autonomes intellektuelles und künstlerisches Feld abzustecken. An der Idee des Genies lassen sich deutlicher als zuvor dessen ökonomische Wurzeln erkennen. "L'art doit rester un mystère." (S.776) Denn die soziale Stellung der Künstler wird nun vom sich ausdehnenden anonymen und pseudofreien Markt bestimmt. Der Händler nimmt dem Künstler das Objekt ab - welcher Verlust an Vermittlerfunktion beziehungsweise direkten Kontakts mit dem Kunden durch die Rolle des "autonomen Künstlers" kompensiert wird. Das künstlerische Mäzenatentum - allen voran die königliche Protektion - , verliert gegenüber den privaten Aufträgen an Bedeutung. Es ist Die Nation, die den biennalen Salon ausdrücklich über die Wertung der Patrone stellt und einen ästhetischen Absolutismus in der Formung des öffentlichen Geschmacks durch den Liuvre anstrebt.

(Das 4. Buch)

"Von der Aufklärung zur Romantik: 1795-1814", dieser abschließende Teil - er umfasst dann noch einmal knapp hundert Seiten - hätte dem ersten Buch symmetrisch als ein viertes gegenübergestellt werden können. Für Becq ist es der 9. Thermidor, der den entscheidenden Einschnitt auch in der Geschichte der Ästhetik markiert. Nach ihm erfolgt die irreversible Konsolidierung der Macht des Bürgertums mit der Ästhetik des Schöpfersubjekts. Es sind verschiedene institutionelle Eingriffe oder Projekte, etwa in die Kontrolle des Kunstunterrichts oder im Entwurf eines olympischen Museums oder gar Ministeriums für einen homme esprit, aber auch ein gewisser Aufstieg der Handarbeiter und die Ablehnung der Metaphysik und Begrenzung der genialen Einbildung, die zum Aufschwung der Produktion von Porträts und Landschaften parallel sind. Im Mittelpunkt steht hier Becqs eigene Forschung zur in der deutschen Ästhetikgeischte erstaunlicherweise vollständig ignorierten Gruppe von Coppet, also jenes Kreises mit vor allem August Wilhelm Schlegel, den Madame de Staël um sich scharte und mit sie konsequent eine Einreihung der deutschen Romantik in den französischen Diskurs betrieb.

So kommen nun ein moderner Zugang zum Christentum in der Verneinung des Wirklichen und im Credo an ästhetische Reinheit sowie die romantische Naturphilosophie ins Spiel, die einen Vitalismus der produktiven Naturnachahmung qua Schöpfung vertritt. Entscheidend ist hier die Organismusmetapher (A. W. Schlegels Vorlesungen über dramatische Dichtung, 1814 ins Französische übersetzt). Diese Metapher "vitalisiert" die Vielfalt und Einheit der genialen Schöpfung als eine organische, öffnet auf diese Weise das Genie gegenüber dem Geheimnis des Universums (Schlegel) und verankert das Paar Organismus/Maschine im ästhetischen Diskurs (das Systemprogramm von 1796/97 bezieht Becq leider wie vieles Wichtige der heißen deutschen 1790er Jahre und die Forschungs darüber nicht ein). Nicht ungenannt bleibe das Bemühen der Madame de Staël um die Mischung der Gattungen sowie die Beschwörung des Schwindelerregenden der absoluten Freiheit und das Begehrens. Allgemein zeigt Becq, daß sich in der harmonischen Verschmelzung der Vermögen die Rationalität der Schöpfung erweist. Das ist der Punkt, an dem sich die "moderne" Ästhetik herauskristallisiert. Insofern ist der "Dichter" allgemeiner oder höher anzusetzen als der "Künstler", schreibt Becq. Allein der intimen Notwendigkeit des "Poems" (Poiem) unterworfen (Romantik) und den Werkkosmos nur in einer Einheit von Geist und Kunst jenseits der Künste aufsuchend fühlt sich der Künstler - im Bruch mit den traditionellen Poetiken - dem Mysterium einer Schöpfung unterworfen, die als Verdunklung der Tyrannei des Markts und der anonymen kulturellen Prozesse fungiert.

Damit findet ein Buch einen effektvollen Abschluß, dessen Erscheinen, was die vorliegende Rezension betrifft, schon einige Zeit zurückliegt. Doch sind die sehr guten Bücher nicht immer so neu wie am Tag, da sie vom Buchbinder kommen? Das opus magnum von Annie Bec jedenfalls ist so frisch geblieben, daß das "verwegene Unternehmen" (Becq) sehr wohl auch 2001 noch rezensiert werden kann. Das Werk wurde 1978 als Thèse vor- sowie 1984 (in Pisa (!) bei Pacini, schon auf französisch) und zuletzt 1994 aufgelegt. Becq, inzwischen als Professorin für Literaturwissenschaft an der Université Caen emeritiert, begann die Forschungen zu ihrem Buch zu einer Zeit, als nicht nur in der französischen Forschung zur Geschichte der Ästhetik eine stärkere Zuwendung zur Soziologie stattfand. Ihr Ansatz der Interpretation des längeren historischen Zeitraumes von mehr als 130 Jahren ist denn auch unter anderen Louis Althusser, Krzysztof Pomian und besonders Pierre Bourdieu verpflichtet, der 1967 Panofskys Architecture gothique et pensée scolastique herausgab. Insgesamt fällt die in Frankreich nicht erst in den 70er Jahren durchaus gebräuchliche marxistische Folie angenehm auf. Deutsche Referenzen sind hier Franz Borkenaus Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild (rezensiert von Lucien Febvre, Annales 1935) oder M. Fontius' "Produktivkraftentwicklung und Autonomie der Kunst", eine Studie zur Ablösung der ständischen Voraussetzungen in der Literaturtheorie (1977). Diese gesellschaftsbezogene Methode läßt sich historisch stützen, wurde doch die Ästhetik und ihre Aufnahme in die universitäre Philosophie bei Baumgarten zwar angekündigt, aber zu seinen Lebzeiten sowie noch später nicht wirklich vollzogen. Allein, in der französischen Philosophie sollte das sogar noch länger dauern. So versteht Becq, der französischen Situation entsprechend, Ästhetik mehr als sozialen Diskurs denn als Diziplin. Und so ist es bemerkenswert, wenn auch angemessen und nicht zuletzt für einen metaphysischen Zentrismus heilsam, daß kein einziges Mal die Ästhetik als philosophische Disziplin angesprochen wird.

Das Werk, das sich nicht zuletzt durch ein ausführliches Inhaltsverzeichnis, zwei Register und der Bibliographie aller verwendeten Literatur zum Nachschlagen eignet, verkörpert, summa summarum, die Natur der Thèse aufs beste. Gegen die vorschnelle Falsifikation einer These setzt die französische Doktorarbeit, die den Status einer Habilitation annimmt, auf eine ausführliche Untermauerung der These - wie zum Eintritt in die community of investigators. Gegen die moderne Dialektik ließe sich mit dem institutionellen Element der Thèse einwenden, daß eine These erst einmal entwickelt werden muß, bevor ihr eine "Gegenthese" entgegengesetzt werden kann. Es versteht sich von selbst, daß eine Arbeit, wie sie Annie Becq vorlegt, in einem gewissen methodischen Feld angesiedelt ist. Es ist nicht eine Geschichte der Gedanken, eine Geistesgeschichte, eine Begriffsgeschichte oder eine erwweiterte Philosophiegeschichte. Es handelt sich hier, wie Becq selbst sagt, um eine Ideengeschichte. Es kommt ihr auf Theoretiker allgemein an, auf jene Aussagen, die nicht im letzten begründet, die normativ, semi-philosophisch, belletristisch eingekleidet sind, als Kampfansagen auftreten. Becq versteht sich also als Historikerin der ästhetischen Ideen. Daß diese Ideen - sentiment, Einbildung, Genie, Nachahmung, die Arten des Schönen, Vernunft, Ordnung, Geschmack, das Poetische, Geschmack, Erinnerung, Salon, Akademie, Kunst, Energie, Intellekt, Natur, Schöpfung, Vergnügen, Form, Künstler - sich nicht einem disziplinär vorausgesetzten Zusammenhang beugen, in dem Ungereimtheiten und Widersprüche nur als theoretische Fehler beseite geschafft werden, sondern ein eigenes, komplexes diskursives Leben führen, das zu zeigen ist die Aufgabe der Ideengeschichte, die Becq souverän bewältigt.

(c) Peter Mahr 2001

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

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