mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

4 (2001), Nr.1/März

L'art philosophique

4. Kunstreligion. 12199 Zeichen.

 

Hegel versuchte als erster, "Kunstreligion" in die philosophische Terminologie aufzunehmen. Novalis hatte die von Schleiermacher ausgegebene Religion als Liebe zum bedürftigen Gott bezeichnet, die der Verehrung des Künstlers von Schönheit und Ideal ähnle. Hegel greift darauf, auf die Forderung nach einer "sinnlichen Religion" und "Poesie als Lehrerin der Menschheit" (Hamanns Bibelauffassung) im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus und auf Schleiermachers Hoffnung, daß sich Kunst und Religion einst durchdringen, zurück, reflektiert den Begriff Kunstreligion winckelmannisch auf die Geschichte der griechischen Kultur und weist ihr als überwundener Periode einen Platz in der fortschreitenden Geschichte der Religion/Philosophie zu.

Das Kapitel "Kunstreligion" in der "Phänomenologie des Geistes" ist in deren Geschichte des Bewußtseins daher eine historische Gestalt, die verschiedene Momente ihrer komplexen Vorgeschichte aufhebt, die Hegel zugleich als eine Geschichte des subjektiven und des objektives Geists erzählt: das selbstlose, allgemeine Übersinnliche (Bewußtsein im engeren Sinn), der Schmerz des Geistes, der die Gegenständlichkeit nicht erreicht und dessen unwandelbares Wesen im Jenseits verbleibt (unglückliches Bewußtsein), die Religionslosigkeit der eigenen unmittelbaren Präsenz (Vernunft), die Religion der Unterwelt und des abgeschiedenen, wesenlosen Geistes (Sittlichkeit), der Untergang des Glaubens an den Himmel in der Aufklärungsreligion (Aufklärung), das absolute Wesen als positiver Inhalt im Zeichen der Negativität der Aufklärung (Moralität).

Was immer auch davon noch verständlich ist - , zu beachten ist Hegels Definition von Religion als der "sich selbst wissende Geist ... <als> unmittelbar sein eigenes reines Selbstbewußtsein ." (PhG 496) Es erkennt sich aber noch nicht, dafür müssen nach Hegel Geist und Welt einander gleich werden. es gibt also erst eine unmittelbare Einheit des Geistes als Grundlage eines reinen Bewußtseins, in dem sich das Bewußtsein entfaltet. Der Geist ist daher nicht ein Schöpfer einer Natur, sondern erst die Bewegung seiner Gestalten bildet eine vollkommene Wirklichkeit aus. Kurz gesagt, kommt dem Selbstbewußtsein als Stufe zu, die aufgehobene Natürlichkeit durch das Selbst als ein Hervorbringen (poiesis) in der künstlichen Religion zu bewerkstelligen.

Daher verwundert es nach Hegel nicht, wenn sich schon in der "natürlichen Religion", die der "Kunstreligion" vorausgeht (der als dritte und letzte Stufe die Offenbarungsreligion des Christentums folgen wird), künstlich/künstlerische Züge finden lassen. Nicht nur kann am ersten abstrakten Wesen, dem Lichtwesen (und weniger an den Pflanzen udn tieren als geister als dem zweiten Wesen), die Schönheit des Maßlosen als eine zur Erhabenheit gesteigerte Schönheit erkannt werden (506). Es ist besonders der Werkmeister als drittes Wesen der Naturreligion, der die Kunst als absolute Bestimmung vorbereiten hilft. Zwar ist sein Werk noch nicht vom Geist erfüllt - die Obelisken und Pyramiden gehören dem abstrakten Verstand an, auch wenn sie mit Pflanzen geschmückt werden und auf die "umgebende Behausung" (509) als "Wurzel der freien Architektur" (510) bezogen werden. Zwar sind seine Gestalten ebenso sprachlos wie unwesentliche Gehäuse. Doch be-deuten sie schon das Dasein und die Innerlichkeit des Selbsts, be-deuten schon die "Seele der menschlich geformten Bildsäule" (511). Und die rätselhaften Wesen sind schon im Begriff, sich zu äußern, "brechen in die Sprache ... schwerverständliche Weisheit aus." (ebd.) Daß sich derart eine geistige Gestaltung im Verein mit der Verwandlung der Ungeheuer in Gedanken als ein sich gebärendes Dasein formiert, läßt Hegel statuieren: "Der Geist ist Künstler." (512)

Wenn ein solcher Werkmeister sich als "geistiger Arbeiter" entpuppt, der das bloß synthetische Arbeiten aufgegeben hat, dann erweist sich die allgemeine Substanz aller Einzelnen in der "Individualisation" (512) als die allgemeine Freiheit. Eine solche "absolute Kunst" (514) hat an der freien Sittlichkeit ihre Substanz. "Später", wenn der Geist nicht nur aus dem Selbst geborene Substanz, sondern in der Darstellung selbst ist , "ist der Geist über die Kunst hinaus." (ebd.) Dann entspricht nach Hegel nämlich der Begriff dem erzeugten Kunstwerk, und der Geist ist aus dem Körper ins Individuum als eines Gefäßes des Schmerzes geflohen.

Nach dem Hegel der Phänomenologie gibt es drei Arten von Kunstwerken, das abstrakte, das lebendige und das geistige Kunstwerk. Sie lösen einander ebenso historisch ab, wie sie eine Ontologie der Künste aufzubauen erlauben. Ohne länger beschienener oder behauster Kristall oder Vermischung nachzuahmender Naturformen (Pflanze, Tier) zu sein, hat die menschliche Gestalt alles Tierische abgestreift und ringt sich zur Freudigkeit der Sprache der Hymnen und der Orakel (Hölderlin?) durch. Wenn, in der Diktion Hegels, die im Reinen empfindenden Elemente des Selbstbewußtseins bewegen und die göttliche Gestalt ruht, dann bleibt im Kultus die gereinigte Seele noch geheim, während sie doch wirklich werden muß - daher auch die verschiedenen Formen der Hingabe eines Besitzes im Opfer, in der Vorstellung (Aufführung), im Fest. Näher hin zum Gebäude bildet sich nun das lebendige Kunstwerk an einer Stätte heraus, der das Mysterium des Brots und des Weins (noch nicht von Fleisch und Blut) im Fest der Körper gewidmet ist. Aber erst im geistigen Kunstwerk gehen die zu den Volksgeistern gewandelten "Tiere" in einen einzigen Geist, in ein Pantheon des Volksgeistes und eine einzige Sprache zusammen. Hier macht Hegel klar, daß die theatralischen Kunstformen des gesungenen Epos, der Tragödie und der Komödie anzusiedeln sind - Künste, bei denen das Bildliche und dann auch das Musikalische sekundär ist. Die Tendenz geht dahin, den Widerstreit der Handlung besonderer Götter und den nur vorgestellten Inhalt zugunsten einer höheren Sprache zu überwinden (Winckelmanns hoher Stil auf die Dramatik übertragen). Die reale Vorstellung qua Aufführung läßt bei der Tragödie (mit dem Chor des Alters als Bewußtsein des fremden Schicksals sowie den dargestellten zusätzlichen Zuschauern) den Zuhörer nun auch zum Zuschauer werden. Selbstbewußte Menschen beginnen ihr Inneres zu äußern, wenn auch im Schauspieler und seiner Maske die Kunst ihr wahres Selbst noch nicht erreicht. Göttliches und menschliches Recht (Familie und Staat) werden durch zwei Personen charakterisiert, die Versöhnung durch Vergessenheit erreicht, der Held schließlich in Person und Selbst aufgespalten - mit der "Auflösung des Subjekts" (536f.) als Folge. Erst recht in der Komödie sind die elementarischen Wesen (die Götter) als allgemeine Momente nicht wirklich; die reinen Gedanken des Schönen und Guten erweisen sich im komischen Schauspiel als leer.

Es wird, anhand dieser Konstruktion klar, daß die Kunstreligion (des sittlichen Geists, der im (römischen) Rechtszustand untergeht) sich im einzelnen Selbst vollendet (544). Als absolute Macht des Selbsts ist damit - von der Bildsäule, der schönen Körperlichkeit, dem Inhalt des Epos zu den Mächten und Personen der Tragödie - die Form des Vorgestellten getilgt, zugleich die Einheit von Kultus und Mysterium aufgebrochen. Dieses Hervorgehen/bringen des Geistes aus der Form der Substanz in die des Subjekts hat sich also als eine Menschwerdung enthüllt. Wenn der Schauspieler aber selbst die Person ist und der Zuschauer sich selbst spielen sieht und dabei vollkommen bei sich zuhause ist, dann ist das Selbst des leicht gewordenen Sinns das absolute Wesen eines nichtreligiösen Geists (wie er von der christlichen Gemeinde unter bloßer Zuhilfenahme künstlerischer Mittel überboten werden wird).

Es fällt dabei auf, daß das Ende der Kunst vom Tod der Götter als dem Tod Gottes angesteckt ist: "Die Bildsäulen sind nun Leichname, denen die belebende Seele, so wie die Hymne Worte, deren Glauben entflohen ist, die Tische der Götter ohne geistige Speise und Trank, und aus seinen Spielen und Festen kommt dem Bewußtsein nicht die freudige Einheit seiner mit dem Wesen zurück. Den Werken der Muse fehlt die Kraft des Geistes, dem aus der Zermalmung der Götter und Menschen die Gewißheit seiner selbst hervorging. Sie sind nun das, was sie für uns sind, - vom Baume gebrochene schöne Früchte: einfreundliches Schicksal reichte sie uns dar, wie ein Mädchen jene Früchte präsentiert; es gibt nicht das wirkliche Leben ihres Daseins, nicht den Baum, der sie trug, nicht die Erde und die Elemente, die ihre Substanz, noch das Klima, das ihre Bestimmtheit ausmachte, oder den Wechsel der Jahreszeiten. - So gibt das Schicksal uns mit den Werken jener Kunst nicht ihre Welt, nicht den Frühling und Sommer des sittlichen Lebens, worin sie blühten und reiften, sondern allein die eingehüllte Erinnerung dieser Wirklichkeit." (547f.)

Genau deswegen will Nietzsche zurück, hinter die Vorstellung. Sein Garant ist der Götterdienst an Apollo und Dionysos. Als Apollinisches und Dionysisches ist es wohl modern eine Qualität wie das Schöne und Erhabene auch. Als Grundlage für die Einteilung in die Bild- und die musikalischen Künste ist wohl auch eine moderne Kunsttheorie beansprucht. Doch das Ziel, in Richtung des noch utopischen Gesamtkunstwerks (Wagner), liegt in einer Tragödie, die gegenüber der (nach-)sokratischen Rationalisierung das dionysische Urelement der Musik zu erreichen und "das Ohr gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens" zu legen vermöchte. Ob damit einer Klassik der Balance der Gottheiten des Maßes und der Entgrenzung das Wort geredet ist oder einer expressionistischen Radikalität hin zu einem Theater der Grausamkeit - , was sich in den späten Jahren des 19. Jahrhunderts abspielen sollte, nahm tatsächlich die Form eines Religionsersatzes an, und wäre es auch nur die Pilgerstätte Bayreuth.

In einem hatte Nietzsche einen Punkt getroffen. Was als die Geburt der Philosophie bezeichnet werden sollte, kann auch als eine erste Moderne gegenüber der Mythologie bezeichnet werden. Vielleicht geht die querelle des anciens et des modernes - der Streit um die alten oder neuen Vorbilder oder Götter - letztlich auf die Konstituierung der Philosophie selbst zurück. Jedenfalls dürfte dieser Ablösungsprozeß tatsächlich zur Herausbildung der griechisch klassischen Kunst in Tragödie, Musik (Oper!), Bild (Zeuxis/Parrhasios, Achilles' Schild) und Roman koextensiv gewesen sein. Wenn also die Kunstreflexion seit ihrer Demythologisierung und Desakralisierung nicht anders als im offenen Medium der Philosophie stattfinden kann, dann lassen sich zumindest Leitmuster erkennen. So war die Nachahmungsdoktrin in einer die Poetik einschließenden ethisch fundierten Rhetorik abgesichert (Aristoteles und folgende), die Idee der Musik in einer Metaphysik der Einbildungskraft (bis Hegel), die Kunst in einer auf Psychologie gegründeten Ästhetik. Daß diese Rechtfertigungen ihr Absolutes in einer kunsteigenen Autonomie fundierten, wird nun einsichtig als Erbe einer Religion. Die Kunst, so verstanden, ist Kunstreligion. Es braucht also gar keine eigenen Genieperioden wie in Florenz oder Weimar.

Doch markiert der Nietzschesche Einsatz noch ein Zweites. Sein Ursprungspathos der Sehnsucht und des Abscheus hat sein zeitgenössisches Fundament in der breiten Suche nach der Pluralität der Ursprünge der Kunst im Historismus (Grosse, Hörnes, Wallaschek, Freud; dagegen relativierend Dilthey). Noch Heidegger wird große Anstrengungen Unternehmen den Ursprung der Kunst tiefer anzulegen, als es die Historiker taten, dort wo sich die Ursprünglichkeit mit der irreduziblen Individualität/Primitivität kreuzte und die er signifikanterweise in Hölderlin zu finden glaubte. Ursprung also nicht nur von einer empirisch auffindbaren sozialen Funktion her zu finden, schloß einen Essenzialismus ein, der heute in beständiger Gefahr ist, in Fundamentalismus zu kippen.

Demgegenüber weitet sich heute der Blick auf die Kunstreligionen und ihre partikularen Formen bis hin zu den künstlerischen oder privaten individuellen Mythologien. War "Kunstreligion" ohnehin nie ein festes Phänomen, so lassen sich ihre "Fragmente" überall und nirgends finden. Sonst bleibt es bei der Moderne: Von dem Religionen kommen keine neuen Impulse, und die KünstlerInnen haben mit den Religion in programmatischerweise nichts am Hut. Dennoch, der Wille zur Rückbindung auf ein Absolutes - Götter, Wort, Kult - mental als Glaube, sozial als Versammlung und prozedural als Fest/Spiel/Sport/Gebet könnte sich von der ästhetischen Theorie Unterfutter holen. Gerade das 20. Jahrhundert hat da einiges zu bieten: neben Heidegger Croces vollendeter Ausdruck, Benjamins Aurabegriff und Messianismus, Blochs Vorschein, Adornos Naturschönes, Wittgensteins Sich-Zeigendes, Dantos Verklärung. Wie immer auch die Diskussion verlaufen wird, daß es eine in absehbarer Zukunft geben wird, ist allein schon angesichts der nicht geringer gewordenen Kommentarbedürftigkeit der Kunst wahrscheinlich.

 

Giorgio Colli, La nascita della filosofia, = Piccola Biblioteca 29, Milano: Adelphi 1975

Alois Halder, Kunstreligion, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.4: I-K, Basel: Francke 1976, Sp.1458f.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkmap 1969/1971 (1: Frühe Schriften; 3: Phänomenologie des Geistes; 13-15: Vorlesungen über die Ästhetik; 16-17: Vorlesungen über die Philosophie der Religion)

Friedrich Nietzsche, Die Geburt oder Griechentum und Pessimismus, in: ders., Werke I, hg. v. Karl Schlechta, = Ullstein Buch 2907, frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1972, S.7-134

Odo Marquard, Gesamtkunstwerk und Identitätssystem. Überlegungen im Anschluß an Hegels Schellingkritik, in: Harald Szeemann (Hg.), Der Hang zum Gesamtkunstwerk, Aarau/Frankfurt am Main: Sauerländer 1983, S.40-49

Mark C. Taylor, Disfiguring. Art, Architecture, Religion, Chicago-IL-London-E: The University of Chicago Press 1992

Wolfgang Welsch/Alois Halder, Kunst und Religion, in: Franz Boeckle u. a. (Hg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd.2, 2. Aufl., Freiburg im Breisgau/Basel/Wien: Herder 1981, S.43-70

(c) Peter Mahr 2001

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