mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

4 (2001), Nr.1/März

Aesthetica

1. Die Kunst der Jahreszeiten (Poussin - Haydn) . 9470 Zeichen.

 

Der Frühling (Adam und Eva im irdischen Paradies) - Frühling. Die kniende Eva ergreift den Arm des sitzenden Adams und zeigt zum Baum mit den Äpfeln hinauf, die im Vergleich zum Stamm des blühenden Baums und zu den Händen groß sind. Die Sonne steht tief, zu tief für den hellen, lichten Tag. Nur ein kleiner Teil des Himmels ist von grauen Wolken bewölkt, auf denen Gott, dem Geschehen abgewandt liegt/fliegt/schwebt. Die Szene ist zu drei Viertel von Bäumen und Sträuchern gefüllt, die Blätter sind voll ausgewachsen wie im Sommer. Zur linken ein Fels im Dunkeln, der die Sonne abdeckt. In der rechten Hälfte kann sich der Blick frei auf eine Landschaft richten, so ruhig wie die Windstille, dessen Berg mit Schnee bedeckt ist. Wieder blühen einige der Gewächse, aber nur die im Hintergrund befindlichen. Auf dem Teich in der Mitte, in der Ferne, ein paar Schwäne. Vorne, kaum merklich, ein Gewässer, über dem sich der Beobachter schwebend befindet. --- Die Ouvertüre geht gleich zur Sache, dramatisch mozartisch, nicht romantisch-pittoresk wie nur ein paar Jahre später Beethovens Pastorale: (1) "Seht, wie der strenge Winter flieht ...". Beobachtet werden Stürme (Simon), Überschwemmungen (Lukas), aber auch schon die lauen Winde (Hanne), die sich ankündigen. Und schon wird die Natur vom Chor begrüßt (2): "aus ihrem Todesschlaf erwecke die Natur", wobei die Frauenstimmen positiv hoffend, die Mänerstimmen negativ warnend (vor dem Rückfall) gehalten sind. Die erste Tat des Menschen lassen Thomson/van Swieten/Haydn den Simon beschreiben: (4) Der Ackermann ist's, der in der Feldarbeit den Samen ausstreut. Haydn läßt ihn den Himmel, also Sonne, Wasser, Luft anflehen; "dem Pfluge flötend nach" wird frohgemut mit Flöte und Piccolo begleitet. Dann der Regen! Der Chor-Kanon (6) beschwört zugleich den Überfluß, wie er einen ersten Dank zum Ausdruck bringt. Worauf sogleich ein Gelingen folgt (7): "Erhört ist unser Flehen, der laue West ...", die Befruchtung ist geglückt. Sogleich (8) - noch immer sind wir im nun fulminant beschlossenen Frühling - treten die Mädchen auf der bunten Flur mit Hanne und den Blumen an gegen die Burschen in den grünen Hainen mit Lukas und seinen Auen, Wiesen und Feldern. Darauf hin kann der Chor ein "Alles lebet ..." konstatieren, Simon den Schöpfer repräsentieren, um mit geistlich gehaltenen Pauken (!) und Bläserstößen zur nächsten Fuge zu führen: "Ewiger (Simon), mächtiger (Lukas), gütiger (Hanne) Gott!"

Der Sommer (Ruth und Boas) - Sommer. Der Apfelbaum, nun etwas älter und größer, füllt die linke Bildhälfte. Ein großer Teil der Landschaft ist von menschenhohem Getreide bedeckt, das geerntet wird, von den Mädchen geschnitten, von den Knechten zu Garben gebunden, weggetragen und aufgehäuft. Boas, vor ihm auf den Knien die bittende Ruth, weist mit ausgestreckten Armen nicht Ruth weg, sondern einen Knecht, stellvertretend für alle anderen, an, Ruth zu respektieren. Dieser nimmt, in römischer Pose, die Rechte am Herz, mit der Linken auf den Speer gestützt, die Anweisung mit einer knappen Verneigung entgegen. Dem Baum links außen ist eine der poussinisch berühmten Steinskulpturen rechts außen gegenübergestellt. Einer, gleich dahinter, sitzt auf einer Garbe und spielt die Leier. Am linken Rand, links vom Baum, bereiten zwei Mägde die Labung vor, zu der auch die Ähren lesende Ruth gleich darauf eingeladen werden wird. das orangefarbene Tuch, das den Trog voller Brotlaibe bedeckte, faltet sich graziös am Boden. Die Mägde, Ruth, der Leiermann, sie sind in verschiedene Blaus gewandet. Ruth in der Mittelachse, nach oben und hinten ist die Stadt an der Felsküste gesetzt, noch weiter hinten ein aufragendes Gebirgsmassiv, darüber die Sonne, di aber eher durch Wolken verdeckt ist, sonst aber doch einen heiteren Tag ausmacht. Ein spärlich belaubter Baum rechts. Ein "stillstehend" trabender Vierspänner wird von einem Kutscher ebenso geführt wie angepeitscht. Auf den Felsen im vorderen Bereich liegen zwei Gutsgehöfte, die durch eine Brücke über eine kleine Schlucht miteinander verbunden sind. Der Weg dorthin aber ist kaum erkennbar. --- Der Sommer beginnt langsam, ernst, so als ob erst die Morgendämmerung sich durchkämpfen muß nach einer bedrückenden Nacht. So wie der Arbeitsruf des Landmanns mit einem Holzbläser erklingt, so blickt (10) das Horn des Hirten gegen Osten und den ersten Sonnenstrahl. Bald prangt die Sonne am Himmel und wird von Hanne begrüßt (11): "Sie steigt herauf ... Heil! O Sonne, Heil!" Nach bunten Gewühl, blitzender Sense beschreibt Lukas das mächtige Feuer, den Qualm der Mittagssonne (13): "Dem Druck erlieget die Natur ...", das heißt: Hitze wie Wut legen sich auf Quellen, Blumen, Wiesen, Tiere und Menschen - vom largo einer Cavatine so schwer wiedergegeben, als ob das Atmen kaum mehr möglich ist. Gerade noch, daß Hanne (14) den dunklen Hain erreicht, zu dem Haydn beziehungsreich des jungen Schäfers Rohr als Oboe erklingen läßt - Hanne (15): "Welche Labung für die Sinne ...". Kein Wunder, daß es gewittert, Trommelwirbel, "In banger Ahnung stockt das Leben der Natur", Hanne sogar ohne Begleitung. Eine Flöte bläst auf wie ein Blitz, und (17) "der weite Himmel entbrennt", vom kunstvoll geführten Chor gebändigt. Das Terzett nach dem Sturm (18) bringt das Sommerthema wieder zurück. Hanne besingt den Perlenschmuck der Flur, Simon das gesättigt fette Rind, Lukas: "Dem Gatten ruft die Wachtel schon". Grandios der Schlußgesang der drei: "Die Abendglocke tönt. Von oben winkt der helle Stern und ladet uns zur sanften Ruh."

Der Herbst (Die Traube von Kanaan; Vom versprochenen Land) - Herbst. Etwas unruhiger gestaltet, sieht es das Bild leicht nach links unten. Jedenfalls lehnt die Leiter nach links am Baum, auf der eine Magd steht und Granatäpfel pflückt. Links ist nun, wie im "Frühling", wieder der Fels, aber nun kahl. Auf ihm stehen zwei Bäume wie zerrupft. Zwei Männer haben an einer dunkelblauen Traube von rechts nach links schwer zu tragen, ist sie doch halb so groß wie sie selber. Eine zweite Frau rechts, einen Korb mit Früchten am Kopf, dem Teich zugewandt, an dem vielleicht ein Fischer kniet (man sieht ihn nicht). Das ganze Geschehen ist nun in eine gebirgige Landschaft versetzt, nur ganz vereinzelt sind Bäume und Gebüsch da. Am Felsen rechts dieses Mal ein Schloß, links daneben unten, im Wolkenschatten, ein Dorf; ganz hinten eine Stadt; links außen wohl wieder das Meer, im Hintergrund wieder ein aufragendes Gebirge. Ein bewölkter Tag. Die Traube - weibliche Scham, "allegorisch" vom Maler ge-stellt an der Planke zur Leiter hin, auf der die Frau im Unschuldsweiß mit dem Rücken zu uns steht. Es handelt sich um eine Begegnung mit dem Betrachter am Weg. --- Ein fröhliches Allegretto bezeichnet das freudige Gefühl reicher Ernte. Schon wird ein Rückblick auf Frühling, Sommer und Herbst möglich. Ein fast siebenminütiges Terzett unterstreicht die Betonung des Vegetabilischen (2): "So lohnet die Natur den Fleiß", also geht es um die Zeit der Arbeit, die mit der der Natur übereinstimmt. Das Resultat komplex: der Hütte, der Wolle, der Speise will Haydn nicht nachstehen: ein mehrstimmiger Chor kommt zum Einsatz. Nun erst können die Haselnüsse wie Hagelschauer fallen, kann das Obst von den Mädchen geklaubt werden. Doch nicht nur der Jugend wird Platz eingeräumt. Im Duett Lukas/Hanne (4) kommt es zur Distanzierung von den "Schönen aus der Stadt" und vom Salon des Rokoko "der Herren süß und fein": es ist die Liebe über die Jahreszeiten hin, aber auch die Liebe, die das Blatt, die Frucht, den Tag verschönert. Beide führen noch einmal zum klassischen Gleichgewicht von Ernst und Freude. Doch auf die Liebe folgt das Fest, und dafür muß erst aufgetischt werden, was eine Jagd erforderlich macht. Die ganze Natur macht nun gemeinsame, sozial gegliederte Sache: Hund, Vögel, Hasen, Schüsse, die Hörner, das Landvolk, die Jäger, der Hirsch. Und schon haben sich Hanne, Simon und Lukas zum trinklied versammelt (9): "Am Rebenstocke blinket jetzt ...", "Lustgeschrei", bis zum flotten Ländler.

Der Winter (Die Sintflut) - Winter. Nacht, Gewitter, Blitz, Sturm. Topisch - wie im "Herbst" - das Dorf und die Stadt am gleichen Platz, nun aber fast zur Gänze überschwemmt. Der Fels zur Linken etwas größer noch. Über ihn huscht eine große Schlange. Sein fast blätterloser, kleiner Baum wird gebeutelt. Die Berg im Hintergrund ist wieder da. Das überschwemmte Hinterland ergießt sich in den vorne gelegenen Fluß. Dabei ist ein Boot am Kippen, zwei versuchen es zu halten, einer fleht Gott an (der aber nicht mehr, auf dem Bild, da ist). die rechte Bildhälfte wird von einem massiven, schon (durch das Erdbeben?) brüchigen Felsen eingenommen. Auf ihm befinden sich ein paar zerrüttete Bäume, einer nur ist voll belaubt. Auf einem Felsblock liegend streckt ein blau gekleideter Mann die Hand hinunter, um ein orangefarben gekleidetes Kind zu ergreifen, das von der adrett weiß-gelb und blau umhüllten Frau im Boot hinaufgehoben wird. So sehr die Menschen bei der Stromschnelle um ihr Überleben kämpfen, bietet das beruhigte Wasser im Vordergrund ein anderes Szenario. Hier rettet ein Pferd, schwimmend, seinen rot betuchten Reiter, rettet eine Frau, mit einem großen Brett schwimmend, sich selbst. Und der Ruderin fällt es nicht schwer, das Boot mit dem Ruder am Platz zu halten, während ein ins Wasser gefallener Mensch sich ins Boot zu hieven anstrengt. Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß die Grundfarbe ein grün-beige getöntes Schwarz ist. Der Blitz schlägt nach hinten in die Stadt ein. --- Es ist der dicke Nebel, mit dem der Winter, eigentlich Spätherbst beginnt (11): "Nun senket sich das blasse Jahr", so Simon, und Hanne, nun auch den Norden noch hereinholend, "Aus Lapplands Höhlen schreitet her / der stürmisch düstre Winter jetzt". Stille, alles stockt, "ungeheure Flockenlast". Das ist der Hintergrund, vor dem der Wanderer Erbarmen erwarten darf. Zugleich wendet sich das Oratorium natürlicherweise indoor activities zu: den hellen Stimmen bei der Abendarbeit (15), dem Spinnerlied (16) über das Fädelein zum Busenschleier, das noch einmal einen Hauch von Erotik hereinbringt: "locket wackre Freier". Nun findet der Mensch wie die Natur ganz zu sich, in ein Märchen, das am Ofen erzählt wird. Doch wenn auch der Winter siegt (20) - "Wo sind sie nun, die Wonnetage, ... und wo die frohen Nächte ...? Verschwunden sind sie wie im Traum", dann bleibt immerhin die Tugend und die Hoffnung auf den "große<n> Morgen ../. der Allmacht zweites Wort".

Nicolas Poussin, Le printemps (Adam et Eve au paradis terrestre) / L'été (Ruth et Booz) / L'automne (La Grappe de Canaan; de la Terre promise) / L'hiver (Le déluge), Öl/Lw., je 118 x 160, Rom 1660-1664; Abb.: Nicolas Poussin. 1594-1665 (Galeries nationales du Grand Palais, 27. 9. 1994 - 2. Jänner 1995), hg. v. Pierre Rosenberg/Louis-Antoine Prat, Paris: Réunion des musées nationaux 1994

Joseph Haydn, Die Jahrezeiten. The Seasons. Les Saison. Oratorium. Text nach James Thomsons "Seasons", übertragen v. Gottfried van Swieten (1801), mit Angela Maria Blasi, Josef Protschka, Robert Holl, dem Arnold-Schönberg-Chor und den Wiener Symphonikern unter Nikolaus Harnoncourt, Hamburg: Teldec 1987

(c) Peter Mahr 2001

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