mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

3 (2000), N.4/Dezember

L'art philosophique

4. Skizze zu einer Philosophie der Konzeptkunst, wie sie in den "Sprichwörtern" von Pieter Bruegel d. Ä. verankert werden könnte. 7175 Zeichen.

Sprache hat die Bildkünstler in einem Maß beschäftigt, das sie mitunter aus dem gedanklichen Hintergrund hinaus in die Sichtbarkeit führte. Bilder haben die Schriftsteller in einem Maß beschäftigt, das mitunter die Imagination in die äußere Visualität entließ. Ein brisantes Endstadium war mit Joseph Kosuths One and Three Chairs von 1965 erreicht. Ein Ding, ein Bild, ein Wort - sich auf dasselbe beziehend. Mit ihnen drückte der Künstler das absolute Vertrauen in die minimale Punktualität der Darstellung, aber auch in die Transparenz und Kraft der Medien aus.

"One and Three ...", das ist das moderne Sprichwort, der moderne Slogan, der, wenn nicht Satz, dann Schlagwort, aus der beworbenen Entität wie deduziert erscheinen soll. Die modernen Aussprüche reichen von "Ich denke, also bin ich" über "Ich ist ein Anderer" zu "Wo es war, soll ich werden". Damit war die Popularisierung. Alte Aussprüche sind Sprichwörter. Auf dieser Ebene liegt auch "Ein Stuhl ist immer mehrere", wie schwer auch immer es zum Sprichwort avancieren könnte.

Bruegel d.A. Pieter, Die niederländischen Sprichwörter, 1559, <Öl auf> Eichenholz, 117 x 163, Signatur: BRUEGEL MDLXII, (Friedländer-Stiftungsfond) Kat. Nr. 2077, Staatliche Museen Preussischer Kulturbesitz/Berlin.

Im Jahr 1500 brachte Erasmus von Rotterdam eine Sammlung Sprichwörter heraus. Es gab mehr Sprichwörter als heute, im enzyklopädischen Ausmaß, wie die von Erasmus herausgegebene Adagiorum Collectanea, eine Sammlung lateinischer Sprichwörterm, bezeugt (Roh 1960, Großhaus 1998). Etwa sechzig Jahre später malt Pieter Breugel "Proverbia", eine Ansammlung von Szenen, die Sprichwörter darstellen, was durch einen Druck aus der gleichen Zeit mit Illustrationen neben den geschriebenen "gesprochenen Wörtern" bestätigt wird (Großhaus 1998). Die Sprechblasen entfleuchen aber nicht Personen, sondern sie hängen an Situationen. Breughel's Bild ist spannend nicht nur, weil es eine sprachlose Konzeptkunst vorwegnimmt oder weil es das Sprichwort und seinen einzelnen Satz in seinem Zusammenhang mit anderen Sätzen in einem Weltbild erstellenden Sprachspiel zeigt, das Bild ist ein spannender Aufweis dessen, daß das Sprichwort und seine innere Szene in einem grandiosen fensterlosen Kugel-Ereignis Gestalt annimmt.

Zu den "Sprichwörtern" parallel schuf Bruegel "Elck", eine Zeichnung eines Jedermanns, der mit der Laterne Fässer, Körbe und Säcke durchwühlt. Die Beschriftung eines nach dieser Zeichnung gefertigten Stichs lautet "jeder sieht sich selbst / fast niemand kennt sich selbst" (Großhaus 1998). Dazu paßt Hegels Diktum "Was bekannt ist, ist nicht erkannt." Beide geben dem Humor, dem Komischen gegenüber der Spaßgesellschaft eine Tiefe. Die Torheiten der Welt stehen, wie etwa der Selbstbetrug, am Anfang des Unglücks, wie Erasmus im "Lob der Torheit" betont. Bruegels "Elck" wurde auch "Verkehrte Welt" genannt, nach seiner auf den Kopf gestellten Weltkugel, auf der alle Menschen als seelenlose Marionetten die Stände verkörpern (Kunzle 1977). Noch hat sich das Gewimmel der Wörter und Wesen nicht in eine Ordnung des klassischen Raums bringen lassen (Foucault 1974). Noch ist es eine verkehrte (Hegel 1970) und verrückte Welt (Pinsel 1999).

Entscheidend auf "Proverbia" ist, daß ein Satz wie "Zwei Fliegen auf einen Schlag treffen" - es handelt sich um eines der 115 dargestellten Sprichwörter oder Redewendungen aus Bruegels Bild von 1559 (Dundes/Stibbe 1981) - in eine Lebensituation, in die daraus gezogenen allgemein geltenden Übertragung in eine Formel und in eine Visualisierung dieser Formel aufgefächert werden kann. In einem schwachen Sinn sind Bruegels Szenen "Der Blinde führt den Blinden", "Die Würfel sind gefallen", "Die großen Fische fressen die kleinen" oder "Mit dem Kopf durch die Wand gehen" Konzepte. Das Bild könnte schematisiert werden, indem die 115 Wortgruppen in der jeweiligen, von Bruegel vorgesehenen Stellung auf ein Blatt geschrieben werden. Ja, detaillierter, könnte auch eine der Szenen wie mit der Lupe vergrößert werden und wiederum durch die Wörter des Spruchs, schließlich durch einen Begriff ersetzt werden: Intelligenz, Überschätzung, Entschluß, Naturkreislauf oder Starrsinn. Chairs.

Philosophie hat es in der Tat mit Sätzen, Sprüngen, mit Ausdrücken zu tun, in denen plötzlich eine Wahrheit erfaßt und festgehalten wird. Ob es zum einen um die Struktur der Einzelsätze in ihrer generalisierbaren Bedeutungsstiftung geht - die Semantik der Propositionen - , ob es zum zweiten um die philosophischen Sätze und die Lehre ihrer Gewinnung jenseits der Relativität von Alltag und wissenschaftlicher Vorläufigkeit geht, so müssen drittens die Sprichwörter mit ihrem quasi-philosophischen Gehalt beachtet werden, die wie Basissätze zur Wurzel von Sachverhalten vorstoßen, als Protokollsätze Ereignisse ins richtige Register einordnen sowie als Atomsätze unanalysierbare (engl. primitive) Wahrheiten ans Licht bringen.

Konzeptkunst kann, etwa von Sol Lewitt her, als Fortsetzung und Überwindung der Minimal Art verstanden werden. Sie zielt auf ein Objektives ohne Kreativität, auf klare wie auch immer dargestellte Definitionen von Kunst, auf abgeschlossene Systeme ohne Aussage über etwas anderes. Dabei wird das Objekthafte zurückgenommen, Entmaterialisierung sowie der Verzicht auf formale ästhetische Erwägungen findet statt, den konzeptuellen Aspekten dienen photographische Dokumente in System (Karshan 1970). Was Gegenstand ist, wird mit Texten, Diagrammen und Fotos umschrieben. Konzeptkunst ist antiillusionistisch, gegen emotionalen Ausdruck. Es gibt "Textarbeiten". Sie könnten von einem offensiven Gebrauch der Bildunterschriften herrühren (Krauss 1986). Konzeptkunst kann eingeteilt werden in die des Plans, des Begriffs und, im theoretischen Verständnis von Kosuth, die des Philosophieersatzes - letzterer zufolge als schweigende Philosophie und zeigender Kunst in Analogie von künstlerischer und philosophischer Tätigkeit (Köb 1989). Als Endpunkt einer langen Entwicklung seit dem Kubismus, der die Wörter in die moderne Malerei einbrachte, ist die Konzeptkunst der Ersatz des Objekts der räumlichen und perzeptuellen Wahrnehmung durch die sprachliche Definition, dem Werk als analytischer Satz - eine Kunst, die gegen die Visualität, den Warencharakter und die Distributionssform derart Duchamps Erbe einer Reflexion über die Rolle und den Tod des Autors und des Rezipienten/Betrachter antritt (Buchloh 1990).

Zu den KünstlerInnen zählen weit mehr als die frühen Protagonisten Joseph Kosuth, Robert Barry, Douglas Huebler, Lawrence Weiner, die Gruppe, die Seth Siegelaub 1969 vorstellte. Auch nicht nur die zeit- und oft anliegengleichen Art & Language, Victor Burgin, Robert Morris, Sol LeWitt, Carl Andre, Mel Bochner, Ed Ruscha, John Baldessari, Dan Graham, Hans Haacke, On Kawara, Bruce Nauman sowie die Kontinentaleuropäer Daniel Buren und BMPT, Marcel Broodthaers, Hanne Darboven, Jan Dibbets, Gilbert & George, Rune Mields, Roman Opalka, Giovanni Anselmo, Ilja Kabakow, Stig Brogger und Peter Weibel gehören hierher. Duchamp und Cage sind ebenso wenig Vorläufer, wie Ronald Jones, Thomas Locher, Stephen Prina, Louise Lawler, Jenny Holzer, Barbara Kruger, Haim Steinbach, Jeff Koons, Guillaume Bijl, Clegg & Guttman, Sherrie Levine, Reinhard Mucha, Richard Prince in den Konzeptkunstausläufern der 70er Jahre wurzeln.

Wohl wäre ein Durchgang durch die analytische Philosophie der 60er Jahre zu unternehmen: durch die ästhetischen Begriffe (Sibley 1959), die Analyse des Kunstbegriffs (Danto 1964, Dickie 1969, Lüdeking 1988, Davies 1991), die Sprechakttheorie (Searle 1969), die Theorie der Kunstsprachen (Goodman 1969). Es wäre der Topos der ästhetischen Ideen (Kant 1790) vor dem Hintergrund der Konzeptkunst ebenso wie der Phraseologie zu überprüfen. Schon retrospektiv läßt sich der psychologisch-erkenntnistheoretische Konzeptualismus neben dem ontologischen Realismus überblicken, die sich im Gegensatz zum Nominalismus befanden (Tugendhat 1976).

Was ist nun das Gemeinsame von Bruegels "Sprichwörtern", dem Interferenz-Frontispiz (die Vorlage des Farb-Wort-Tests nach J. R. Stroop) zu Kapitel II "The Sound of Pictures" von "Languages of Art" (Goodman 1969) und der Konzeptkunst?

(c) Peter Mahr 2000

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

EDITORIAL

VISTA