mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

3 (2000), Nr.2/Juni

Commented Criticism

6. Barthes über Plastik und Barthes . Zeichen.

Die Mythologie des Alltags zu liefern, hat mit einem ernst genommenen Journalismus zu tun, der sich vom Tagesbericht zur Kritik nur aufschwingen kann, indem ihm die theoretischen Winde zu den nötigen Höhen verhelfen. Die Winde der Philosophie sind es, die aushelfen, eine allgemeine philosophische Bildung, wie sie einer gegenstandskonstituierten, empirisch ausgerichteten Wissenschaft wie der Semiologie nicht fremd sind. Wenn aber der jeweilige Mythos am Einzelnen oder Besonderen aufgegriffen wird, dann kann diese moderne Wahrnehmung des spezifischen Einzelnen nicht anders als mit Kunst und ihrer Kritik zusammenhängen. Sie ist der Hintergrund für das, was am Sensationellen aufgedeckt werden kann. Und Roland Barthes steht nicht an zu informieren und, wie es Diderot in der Encyclopédie vom Journalisten wollte, zu analysieren und zu belehren.

Wenn Barthes über den Kunststoff "Plastik" handelt, dann kommt er, im ersten Absatz, vom Anlaß her, von einer Ausstellung, die diesem Material mit seinen Produkten gewidmet ist. Barthes realisiert die Tatsache, daß auf die Emanzipation der Skulptur und der Malerei von der Architektur im Ausstellungswesen die Emanzipation der Ware von Tisch und Regal gefolgt ist. Spätestens seit den Weltausstellungen werden die Waren zusätzlich ästhetisch aufgeladen, wird, dessen nicht genug, ein Hauch von "live"-Produktion für den Betrachter zurückgewonnen: die Maschine als Zentrum des Spektakels der Ausstellung. "Schäfernamen", "alchemistische Substanz" spielen nur beiher - noch wird einleitend der Faszination, dem thaumazein, Platz gegönnt. Aber die Distanz und die Nähe der Kritik ist im Text schon am Sprung. Die skeptische Kritik wird als Abstand nehmendes cogito rationalistisch und genauer Blick des Durchschauens empiristisch auftreten.

Der nächste Absatz definiert sogleich. Plastik ist nicht selbst Substanz, sondern die Idee der endlosen Umwandlung der Substanz: endlos, weil die Allgegenwart in plötzlichen Konvertierungen der Natur permanent sichtbar gemacht werden muß, Umwandlung, weil nur die Spur von Bewegung, nicht mehr diese selbst am Produkt abgelesen werden kann.

Es ist an der Zeit, einen ersten Aspekt zu unterscheiden. So spielt der dritte Absatz das Spektakel dem Objekt zu, dem Material in seinen Endformen, die es zu dechiffrieren gelte. Damit erreicht das als vollkommen nur wandelbare Plastik den Status eines Bilderrätsels. In ihm ist das Machtbewußtsein, die Euphorie des Gleitens durch die Natur, wie Barthes sagt, begründet.

Doch mit welcher Beschaffenheit, fragt Barthes im vierten Absatz, haben wir es zu tun, wenn nicht mit einer Substanz? Wenn die Substanz, zur Bewegung sublimiert, fast nicht existiert - wenn Plastik nicht hart oder tief ist - , dann kann nur von einer negativen, neutralen qualitas gesprochen werden, von einer wohl auch politisch gemeinten Résistance, einer simplen Verneinung des Nachgebens mit physischer Kohäsion. Ironisch spricht Barthes von einem zu kurz gekommenen Material. Denn es handelt sich gegenüber den großen, vollkommenen Substanzen und deren poetischer Ordnung (Bachelard klingt an), speziell der mineralischen, um eine geronnene Substanz, flockig, vag, cremig, hohlen Tons, nie ganz glatt, weder dehnbar, noch hart. Und die Farben sind nur aggressiv, man könnte nominalistisch ergänzen: nur begriffsfarbig. Hier bleibt Barthes soallgemein wie die Plastikwaren, wie die unspezifischen Gegenstände selbst.

Doch ist ein dritter Aspekt offen geblieben. Es ist die Imitation durch Plastik, die Barthes im Schlußabsatz an der Mode aufhängt, genauer der bürgerliche Imitationsmythos, der im Glauben besteht, alles imitieren zu können. Ihn sieht Barthes - im fünften und letzten Absatz - in Auflösung begriffen. So wendet sich die Prätention vom Teuren, vom Künstlich-Seltenen zur Alltäglichkeit des Artifiziell-Gewöhnlichen. So wendet sich die Tradition der künstlerischen Mimesis, von der der Autor nicht spricht, vom (ideellen) Wiederfinden der Natur ab. Die Natur wird an Materie und Form ersetzt - Lichtschalter, die Formica-Arbeiten eines Artschwager liessen sich nennen - , ein Ersatz, der allein im Gebrauch ohne Anschauung zur Gänze erschöpft wird. Umgekehrt, so Barthes noch einen Schritt weiter, müssen jetzt Gegenstände für das Vergnügen am Plastik erfunden werden. Apokalyptisch schließt der Kritiker, daß mit der Zerstörung der Hierarchie der Substanzen die ganze Welt, ja sogar das Lebendige, etwa die Aorta, plastifizierbar geworden ist.

Wenn uns heute, nach dem Vorläufer Bakelit, Plastik nur der Anfang einer inzwischen auch kulturellen Geschichte von mutant materials ist - die Beschaffenheit ist in Richtung Gummi oder Faser differenziert, die Entsorgung in die Umwelt durch besondere Dünne oder bestimmte Komponenten gewährleistet, die Kostbarkeit und Seltenheit aufgrund der begrenzten Ressourcen gesteigert, der Naturschutz gegen die Naturpelzindustrie erst ermöglicht - so bleibt der Ruck, der durch die Ordnung der Dinge der Produktion gegangen ist, noch spürbar.

Und das betrifft nicht zuletzt die arts plastiques, die bildenden Künste. So gewöhnungsbedürftig das Plastik in den 50er Jahren noch war - das Verschweigen der Plastik setzt Barthes als Provokation - , so kann heute, nach der Kunst der 60er und 70er Jahre, kein Material mehr Anspruch auf Gültigkeit erheben, ohne in der Präsenz von Plastik sich aufzuhalten. Die neuerdings beschworene "Materialästhetik" insbesondere in der postpostmodernen Architektur kann den Eindruck nicht zerstreuen, daß sich eine Schicht Plastik über die wie extrem auch immer herausgestellten Materialwerte gezogen hat. Barthes stand am Endpunkt einer Produktentwicklung, so will es zumindest seine Perspektive. Wir stehen noch immer am Beginn, und eine neue Weltordnung der Stoffe jenseits des Periodensystems ist weniger den je in Sicht.

Barthes hat den vierundzwanzig in Maurice Nadeaus Lettres nouvelles 1954 bis 1956 erschienenen Artikeln im Buch von 1957 dreißig weitere und einen zweiten, theoretischen Teil dazugefügt - für die Suhrkamp-Ausgabe 1964 wurden 35 Artikel von Helmut Scheffel nicht übersetzt. Dieser zweite Teil, ein kritisches Korollar (Dosse), kommentiert nicht die Artikel der monatlichen Lettres, er gibt eine Absichtserklärung, ja ein Forschungsprogramm. Der Mythos, so führt Barthes aus, ist eine entpolitisierte Aussage, entleert das Reale und blendet die historischen Eigenschaften der Dinge aus. Doch seine Materialien lassen sich in der Analyse der Objektsprache erneut aufschließen, indem diese Objektsprache mit dem Mythos als Metasprache (Hjelmslev nach Tarski) konfrontiert wird. Damit wird der Wahrnehmung eine Sprache gegeben, die über den partikularen Geschmack hinausgeht. Was wäre eine auf Prinzipien fußende Sprache der ästhetischen Kritik? Barthes "Plastik" gibt nicht zuletzt auch ein Beispiel dafür.

(c) Peter Mahr 2000

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

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