mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

 3 (2000), Nr.3/September

 

Aesthetica
2. Off the Air - die Künste und das Radio. Offener Brief an: Prof. Alfred Treiber, Kultur- und Programmchef von Ö1, ORF Rundfunk, Argentinierstraße 30a, 1041 Wien. 36526 Zeichen.


Motto: "Was die Sendungen selbst angeht, ich weiß nicht, ob die Lektüre dessen aushaltbar ist." Jacques Derrida, Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits, 1979

Sehr geehrter Herr Treiber!

Nein, nein, so schlimm ist nicht. Um gleich grundsätzlich so beginnen: Wenn Kultur aus den Künsten und unserem Umgang mit ihnen besteht und wenn Ö1 der Kultursender ist, als der er gehandelt und im Gesetz betreffend den öffentlichen Rundfunk auch festgeschrieben ist, dann muß - wenn dem auch so sein soll, und ich bin dafür, daß es so ist - auf einige Mängel bei der Erfüllung dieser Bestimmung hingewiesen werden. Wenn ich Ihnen diese und die folgenden Zeilen schreibe und zumute, dann geht es mir auch um die Erörterung, welche Struktur Ö1 von den Künsten abbildet und was dabei ausgeblendet bleibt.

Die Audition - wenn Sie diese Parallelbildung zu "Lektüre" erlauben - , die ich Ihnen hier zur Kenntnis bringe, wird sich nicht mit Nachrichtensendungen beschäftigen. Es wird also nicht darum gehen, jene Spezialsendung vom Nationalfeiertag letzten Jahres zu loben, die mich noch im Bett aus dem sanften Morgendämmern riß und schonungslos in die durch einen Auslandsaufenthalt und auch sonst nicht so wahrnehmbare Realität der österreichischen Behörden versetzte, indem sie den Tod des in Afrika geborenen österreichischen Schubhäftlings Marcus Omofuma in einem Flugzeug nach Bulgarien im Zuge seiner Abschiebung dokumentierte, - eine Sendung, die zu einer echten nationalen Identität vielleicht mehr beiträgt als die vielen Gedächtnisfeiern, die an diesem Tag noch abgehalten wurden (haben Sie Dank für den Mut!). Es kann hier nicht um die Nachrichtensendungen und allen vorwiegend nicht der Kultur geltenden Nicht-Wortsendungen gehen, zu welchen viel zu sagen wäre, denn seit geraumer Zeit nimmt das Infotainment auch in den fünf 3-Minuten-Sendungen und den sechs täglichen Journalsendungen zwischen 8 und 55 Minuten unter der Woche rasant zu: Dramatisierung der Beiträge, Ludifizierung der Wirtschaftsberichterstattung, Hysterisierung des Wetters, Sensationalisierung der oder durch Inhalte, immer improvisiertere Immoderatisierung der Moderation. Neben Boulevardhistörchen wie die (unkommentiert gebliebene) strafrechtliche Verfolgung eines Kindes wegen sexueller Belästigung in den USA - das ist Kronenzeitungsniveau! - wird seit der Teilnahme der Freiheitlichen Partei Österreichs an der Bundesregierung die Tendenz deutlich, (regierungs)kritische Beiträge zu elemiminieren oder an jene Sendungen zu delegieren, die wie das Journal-Panorama um 18 Uhr 20 schon immer die etwas kritischeren Beiträge bringen. Insgesamt sind die "Informations-"Sendungen noch erträglich, eine Grenze scheint bereits absehbar. Auch wenn sich "Information" aufgrund ihres materiellen Trägers - Stimme, Tonfall, Klang, Gerät, Hörraum des Empfängers - nicht in einem ästhetikfreien Bereich ereignet, so würde ich mir doch gerne von Ihnen wünschen, daß angesichts der unverzichtbaren wie unhintergehbaren Differenz zwischen Information und Unterhaltung eine Ethik der "Ästhetik" der Nachrichten angestrengt wird, die die Information nicht dem bloßen Design von Effektivität opfert, sprich: an DIE Quote ausliefert.

Wenn ich die Bezeichnung von Ö1 als "Kultursender" aufgreife, dann bin ich mir schon beußt, daß es sich dabei um einen verwaschenen Begriff handelt. Er meint wohl das Senden der Künste, vielleicht aber auch Ö1 als den kultivierenden, über die Empfangsgeräte gemeinschaftsstiftenden Ort einer möglicherweise, aber nicht notwendigerweise hohen Kultur - die fünf Spielräume je 28 Minuten mit gehobener Unterhaltungsmusik vor 18 Uhr werktags oder die erhellenden Ausnahmen in den fünf Pasticcio-Sendungen von 8 Uhr 15 bis 8 Uhr 55 oder von Diagonal am Samstag - , nicht zuletzt die Kultur der Sendungen selbst. Letztere leiden seit geraumer Zeit beträchtlich an Störungen und Fehlern, wogegen Ö1 als Ort des kultivierten Umgangs angesichts des Verfalls der Gesprächskultur wie etwa im Österreichischen Parlament doch seine Verantwortung umso mehr wahrnehmen müßte. Vielleicht erscheint es Ihnen übertrieben, aber wenn Ö1 sendet, dann spricht es wie alle Sender mit seiner gesamten akustischen Information. Eine stark erweiterte und zu verallgemeinernde Klage vom Verlust des Burgtheaterdeutsch - wenn es denn je ein solches gab - hat hier ihren symbolischen und regulativen Ort.

Ich möchte Ihnen in diesem Brief primär einige Überlegungen zu den Künsten anbieten. Ich werde mir erlauben, dafür einen größeren theoretischen Bogen zu schlagen. Heute wird viel über die Politik der Medien gesprochen, umso weniger aber erstaunlicherweise über deren formale Strukturen, wie sie mit Technik zusammenhängen (wenn auch nicht erschöpfend).

Wie Nelson Goodman gezeigt hat (Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, englisch 1968, neu übersetzt Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995), besteht die ästhetische Erfahrung - und um diese soll es hier gehen - darin zu erfahren, daß die Erkenntnis konstruktiv verfährt. Mit Goodman läßt sich sagen, daß die Repräsentation der Werke der Künste - also im Radio zum Beispiel - eher das Zutreffen von Prädikaten auf zum Beispiel akustische Gegenstände als die Wiedergabe von Realität direkt betreffen. Im Radio transportierbare Werke sind immer zu verstehen "als" etwas. So gedacht, bildet auch das Symbolsystem Radio nicht ab. Vielmehr präsentiert wie repräsentiert es, das heißt übersetzt aus seinem eigenen, ersten symbolischen Zusammenhang heraus Musik oder Literatur mit dem radioeigenen, variablen symbolischen Setting. Wenn Musik oder Literatur, wie die anderen Künste auch, Zusammenhänge, die der aktiv-erkennende Zuhörer entschlüsselt - Musik als Kunst! - , erfindet, dann wird die symbolische Struktur des Radios mit verschiedenen Funktionen überlagert. Es kommen für den/die ZuhörerIn - der/die erste ist der/die SendungsgestalterIn selbst - immer schon Ergänzungen, Erläuterungen, Erörterungen, Beurteilungen im Sprechen-über, aber auch im Zeigen-mit in betracht (mit zum Beispiel anderen gleichartigen ästhetischen Ereignissen oder Eriegnisteilen).

Weiters läßt sich noch etwas zur Struktur der Künste im Radio entlang Goodman sagen. Wenn es das Radio vorrangig mit den allographischen Künsten der Literatur (Dramen, Hörspiel) und der Musik und deren Aufführungen zu tun hat - bei der Musik nicht nur mit multiplizierbaren zum klingen zu bringenden Texten, sondern mit Notationen, die über die von der Syntax abhängige Identität des Werks hinaus weitgehend die Realisationen/Interpretationen festlegen können - , dann muß das Radio mit diesen Kontexten und "Texten" auch schöpferisch umgehen. Die Kontexte, das ist das tägliche Brot des Redakteurs, die Übermittlung und Präsentation von Musik, Literatur und anderem. Sie Kontexte können als verfestigt aufgefaßt werden, als Codes, die sich pragmatisch eingespielt haben - angefangen von der Zeiteinteilung (die Stunde) bis hin zur radiotypischen Sprachmelodik der PräsentatorInnen. Die Texte aber stehen nicht fest. Für manche Sendungen mag ihr Feststehen unangezweifelt sein. Wir wollen die Übertragung von "Falstaff" aus der Metropolitan Opera möglichst 1:1 hören - vielleicht aber auch mit dem intelligenten Kommentar des bei den Aufführungen anwesenden New Yorker Radiokommentators - doch von vornherein steht das gar nicht fest. Wer sagt, daß das Symbolsystem Radio seinen Spielraum nicht auch hier nützen darf? Es muß dabei noch gar nicht um experimentelle Eingriffe gehen.

Was ich sagen möchte, ist, daß es um eine "Richtigkeit" der Kunst geht. Das Einpassen der Kunstwerke in einen Kontext, in ein Symbolsystem findet immer statt. Die Frage ist nur, wie. Insofern dieses Passen und Einpassen nicht feststeht und immer in Frage gestellt werden kann - diesem Umstand verdankt sich nicht zuletzt die Entwicklung des Radios - , wäre ein Diskurs voranzutreiben. Ihn nicht nur intern - wie er sich in Institutionen der Größe eines ORF von selbst entwickelt - , sondern auch "nach außen" zu führen, würde ich mir sehr wünschen. Er könnte von den Ö1-Zeitschriften gehö1t oder HEIMspiel ein Plattform geboten bekommen, in Zeitungen, im Fernsehen - warum sollten nicht einmal ORF1 oder ORF2 etwas für das Radio tun, wenn dieses schon TV-Termine angeblich nationalen Interesses bewirbt. Natürlich wären auch Forschungen der Medien- und Kommunikationswissenschaft anzuregen. Und nicht zuletzt - ach, o Schreck - könnte Ö1 selber sich in dieser Richtung etwas einfallen lassen - als Kultursender wird es selbstzerfleischende Formen schon zu verhindern wissen! Also: Wieviel Diskurs verträgt Ö1 (in Ö1)?

Wie wichtig ein Rekurs auf das Symbolsystem Radio auch ist - , es muß, insbesondere seit Ö1 rund um die Uhr sendet, die Radioarbeit auch in bezug auf die Parole "on the air" charakterisiert werden. Wenn das englische Auf-der-Luft(-Sein), das ein meist friedliches In-die-Luft-gehen ist, sehr schön das Physikalische an der (Luft-)Wellenförmigkeit der Sendung benennt, so ist das deutsche Auf-Sendung(-Sein) handfester, postalischer, wenn Sie es ironischer wollen, auch spiritueller. Wann immer auch durch das Kabelradio eine neue Bezeichnung des Sendens beziehungsweise der Transmission erforderlich sein wird (siehe unten), dann ist jedenfalls (noch) bei on-the-air das unbedingte Jetzt gemeint, ein Jetzt, das vom (Ab)Sturz bedroht, doch permanent und durchdringend ist. Nicht von ungefähr weist man immer wieder darauf hin, daß wir wohl die Augen, nicht aber die Ohren schließen können. Deswegen einige umständlichere Bemerkungen zur spezifischen Gegenwart des Radios.

Ich sehe drei Formen der Gegenwart und des Umgangs mit ihr in der Radiophonie. Die PRÄSENZEN der Kunst erstens - die Komposition (1), die Aufführung (2) - ist für das Radio nicht zu haben, es sei denn, als eine ihm eigene Kunst. Gott sei dank haben Sie noch das "Kunstradio" in seiner jetzigen Form. Diese Sendung hat das letzte Wort, wenn wir die letzte Stunde der Woche als ein Bedeutendes nehmen. Sie hat in genau dieser Grundbestimmung seine Existenzberechtigung: das Radio in seinen Möglichkeiten der Präsenz künstlerisch, die Künste des Klangs, des Raums und der Zeit, radioadäquat zu erschließen. Auch allgemein gilt für das Radio: On-the-Air-Sein oder -Nichtsein, das ist hier die Frage. Daher das Ideal der Livesendung, am besten von einem entfernten Ort her, der zugleich der eigene ist. Das ist im Fall von Ö1 sein großer Sendesaal - ein Spezialstudio - , das Sie, zur Zweiwegverwertung, parallel zum im gleichen Haus befindliche Radiocafé als öffentlich veranstaltendes Radiokulturhaus ausgeben. Zweitens geht es immer schon um REPRÄSENZEN - Aufnahmen (3) - , die wiederum nicht unabhängig von RE-PRÄSENTATIONEN existieren, von der Ausstrahlung (4), dem Streaming (5) und dem Hören (6).

A) PRÄSENZEN. Von der Komposition (1) oder dem wie auch immer reduziert kompositorischen Konzept werden wir als Radiohörende nicht belehrt, außer wir kennen die Partitur (eine der Fassungen der Komposition) oder lesen sie mit. Das musikalische Kunstwerk bietet sich schon den InterpretInnen neistens nicht von der Idee (Motiv) der KomponistInnen her dar, der Skizze oder dem Particell. Es ist die Arbeit der Spezialisten, gewiß, und doch! Nicht nur hier scheinen wir ZuhörerInnen als dümmer hingestellt zu werden, als wir wirklich sind. Könnten heute nicht an Computerausführungen - an den von Komponisten, Interpreten oder Plattenfirmen zur Verfügung gestellten Rohproduktionen mit den einzeln wiedergebbaren Spuren - oder CD-ROMs diese Vorstufen mit den jeweiligen Instrumentensamples gespeichert und wiedergegeben werden und das auf höchster Qualität? Natürlich erforderte dies eine aufwendiger gestaltete Musik"viertel"(oder vielleicht sogar einmal dreiviertel)stunde oder CD-ROM-Besprechung - von welchem Sektor wir übrigens auf Ö1 nie etwas erfahren oder präsentiert bekommen, einmal von seltenen Lexikon-CD-ROM-Besprechungen abgesehen, die dann aber gerade nicht auf Musik eingehen. Daß in den 4 x 15 Minuten pro Woche des "Radiokollegs", der weit und breit einzigen Sendung, in der über Musik nicht nur moderierend gesprochen werden darf - vom ein paar mal im Jahr stattfindenden wunderbaren thematischer Essay "Ach, der Zeiten Wandel" (90min) abgesehen - einmal eine Sendung dem Thema Partitur gewidmet ist, war schon ein kleines Wunder. - Daß das Aufführen/Spielen (2) von Musik sich ideal für das Radio eignet, wird auch entsprechend ausgenutzt, vielleicht zu wenig oft. Mag es an der Live-Eitelkeit der Moderatoren liegen, die sich nicht in den Dienst des Geschehens stellen wollen, mag es am Geld für die Aufführungsrechte mangeln, mag es daran scheitern, daß die Musiker sich nicht an die radiogerechten Zeitvorgaben halten (eine Pause zwischen einer Ansage und einem Stück mag durch die für die Konzertanwesenden nicht zu lange optische Brücke entspannend wirken), oder mag es den zumindest im Radio am meisten beworbenen eigenen Live-Gelegenheiten geschuldet sein - : es könnten viel mehr Live-Formen realisiert werden. Wieso wurde nicht Bill Fontanas mehrtägiges Naturkonzert, eine Übertragung von Geräuschen aus der Hainburger Au, das auf dem Platz zwischen Natur- und Kunsthistorischem Museum in Wien zu hören war, zu mehreren Tageszeiten jeweils eine Stunde lang übertragen? Wenn das Radio in der Funktion einer Post-Production angesehen werden will, so müssen die Unterschiede des Aufführungstyps stärker berücksichtigt und für das Publikum an den Geräten herausgestellt und -gestrichen werden: Probe (General-), Uraufführung (Erst -), Vorspiel et cetera. Wie kann der Unterschied zwischen einer Neuproduktion und Wiederaufnahme hörbar gemacht oder überhaupt vermittelt werden. Diese formalen Überlegungen sind keine Pedanterie, sondern könnten über die Präzision des Sendens hinaus innovative Sendeformen, -elemente und -gattungen provozieren, letztere neuerdings Formate genannt, als ob mit der Formatierung eines Datenträgers schon der Typ des Files als Bild, Ton oder Text, geschweige denn ihre Gattungen bestimmt wären.

B) REPRÄSENZEN (Wiederpräsentation/Vergegenwärtigung). Darunter verstehe ich eine Abspielung einer Aufnahme (Band, Platte, CD). Sie kann nur den technischen Aspekt betreffen, der aber von der repräsentationalen Form nicht abstrahiert, abgetrennt werden kann. Genau genommen mischen sich hier die Modi Präsentation und Re-Präsentation, denn die Aufführung ist ebenso die Wiedergabe eines Werks, wie auch die Ausstrahlung einer Aufführung, die auf einem Tonträger gespeichert ist, das Werk wiedergibt. Damit ist die Aufnahme (3) angesprochen, die hinsichtlich der Ausstrahlung eine intendierte Aufzeichnung mit dem entsprechend gewünschten Standard ist. So erfährt sie auch eine Markierung für das Radioarchiv, das heißt eine Kurz-Bezeichnung (Label, auch eine Kurzbeschreibung wäre denkbar) des Tonträgers, ohne welche Identifikation keine Aufnahme existiert. Damit aber eine Markierung erfolgen kann, braucht es eine Ordnung in der Sammlung von Aufnahmen. Ein strukturiertes Archiv ist erforderlich. Die Aufnahme existiert weiters nur in der spezifischen Differenz, das heißt Stellung zu anderen Aufnahmen, durch ihren Namen und Ort, durch ihre Wiederauffindbarkeit. Das gilt aber nicht nur für das Radio, sondern für jede Verwertung von Aufnahmen und Tonträgern. Es gilt für Schallplattenfirmen, Musikvereine, Phonotheken. Auf den typologischen Gewinn untersucht werden müßten weiters Mitschnitt (Konzert-, etc.; neuerdings öfters verfälschend "Live-" genannt), Einspielung, Abmischung (Produktion, Producer), Neuaufnahme, Studioaufnahme, Wiedergabe.

C) RE-PRÄSENTATIONEN: sie, die als Entfernungsüberbrückung technisch gesehen nichts anderes als Distribution in verschiedenen Formen sind, trägt der Tatsache Rechnung, daß die Re-Präsentation (das "-" meint, daß die Liveübertragungen nicht ein absolut gleichzeitiges Hören wie dasjenige am Ort der Aufführung bringen) nicht ohne Kontext, nicht wertfrei erfolgt. Man wird Schönbergs "Verklärte Nacht" am Nachmittag anders präsentieren als am Abend. Es ist also klar, daß die Sendung - traditionell die Radioeinheit - nicht mit der Ausstrahlung (4) zusammenfällt. Nach innen bedeutet das, daß es Sendungserst- und Sendungsfolgetermine geben kann (besonders bei Hörspielen und Theaterproduktionen), nach außen, daß zur Ausstrahlung dessen, was ausgestrahlt wird (was immer eine Einheit und Originarität suggeriert), Zusätze kommen: die Signation (die wohl integraler Bestandteil des Werks "Sendung" ist, nicht aber zur Ausstrahlung gehört, denn sie kann unter anderem Titel erfolgen), die Eigenwerbungen "Österreich 1 heute" wochentags um 7 Uhr 32, 12 Uhr 56, 17 Uhr 57, 21 Uhr und die Ankündigung unmittelbar bevorstehender Sendungen mit der Phrase "Demnächst in Österreich 1: ...", aber auch die Rück- und Vorblendesendung "Heimspiel - Die Woche im Radiokulturhaus", Samstag 13 Uhr bis 13 Uhr 55. Noch kommt Ö1 ohne Werbe-Djingles aus, bedauerlicherweise kommt dieser Tatsache aber angesichts der Penetranz der Eigenwerbung eine nur mehr geringe Bedeutung zu. Sie kündigt übrigens nie den fünfmal pro Woche stattfindenden einstündigen "Zeitton" an. In einem zweiten Schritt können die Sendungen eingeteilt werden in: Übertragung (Live-, zeitversetzte, dazu privilegiert sind auf Ö1 Opernübertragungen) und Wiedergabe einer Aufzeichnung, sofern sie nicht einem Mischtyp angehören wie jenem seltenen wie seltsamen Ereignis, als vom ersten Akt der Gluck-Oper bei den eben vergangenen Salzburger Festspielen wegen Gewittergeprassel auf den überdachten Hof bei der Premiere die Aufnahme der Genralprobe ausgestrahlt, nach der Pause aber live gesendet wurde. Wie schon gesagt, keine Sendung ohne Gestaltung, keine Präsentation ohne Repräsentation! Die Gestaltungen wären vielseitig, ich nenne nur Worte wie Moderation, Ansage/Absage, Regie, Sendewagen, Sender, Kanal, Programm, Studio (1, 2, 3, x), Funkhaus, fading, auf Stoß, Blendung, Mix, Format, Konzerttermin, Ausschnitt, etwas anspielen - womit auf FM4 übrigens kreativer Gebrauch gemacht wird.

Es ist heute mit der Ausstrahlung und der ihr vorausgehenden oder mit ihr einhergehenden Gestaltung nicht mehr getan. Bis vor kurzem war für das Radio die Distribution keine Frage. Es gab nur die Ausstrahlung. Heute sind Mehrfachverwertung und damit mehrere alternative Distributionsformen technisch, aber auch ökonomisch möglich geworden. Neben der Ausstrahlung (den akustischen Ereignissen on air) gibt es nun auch das sendegebietsunabhängige (von den weltweit erreichbaren Frequenzen abgesehen) Streaming (5) über Internet, damit aber auch das sendeterminunabhägige, wenn auch zeitlicb befristbare Streaming/Downloading von Sendungen. Sofort stellt sich hier die Frage nach der Art des Datenträgers - Napster ist auch für das Radio der Zukunft eine Lektion. Wie wird sich dies auf die Produktion von CDs auswirken? Welche Rolle wird der Tonband/CD-Aufnahme von Sendungen zukommen, zu der weniger auf Ö1, als auf Popmusiksendern eingeladen wird, wobei diese jetzt schon Teile ihrer Sendung als Sound-Selections gemeinsam mit den ProduzentInnen sekundär verwerten. Was wird "aus dem Radio" gratis aufgenommen (und gehandelt) werden dürfen? Und wie wird das kontrolliert werden? Es handelt sich dabei vorderhand im technische und ökonomische Fragen, die auch einmal hinsichtlich des Status der Künste (Audio-Book etc.) befragt werden müssen?

Indem Repräsentation auch mentale Vorstellung bedeuten kann, gehört zur ihr auch das Hören (6), dessen Wirklichkeit für Sie vielleicht eine ernüchternde, nicht aber grundsätzlich zur Frustration zwingende Tatsache sein muß. Die Hörer sitzen, stehen, gehen, sie tun beim Hören etwas (bügeln, putzen, lesen, etwas zu sich nehmen), äußern sich zu Mitanwesenden oder überhören die Sendung (lesen, reden oder tun miteinander was auch immer), entfernen sich vorübergehend (gehen aufs WC), erwarten einen Anruf, werden angerufen, drehen leiser. Klar, daß die Hörkultur - der Kulturauftrag im Medium Radio selbst als Kultivierung - den HörerInnen nur angeboten werden kann, nicht aber von 0 bis 24 Uhr erwartet werden kann. Das gilt für alle Sendungen. Dennoch sollten neue Formen der Hörerbindung, was die Aufmerksamkeit betrifft, versucht werden, sofern sie abseits des werblichen ear-catching angesiedelt sind. Die berühmt-berüchtigte "Durchhörbarkeit" kann nicht der Punkt sein, auch wenn vielleicht manche Ihrer Kollegen an einen Klassik-Sender und an einen Nachrichtensender denken. Abgesehen vom Kulturauftrag des ORF und Ö1: Während es für den einen das Aus für ein hochqualifiertes Hören hochkultureller Musik bedeutete, müßte der andere auf linguistisch-semantische Redundanz setzten, ebenso fatal, wenn sie an entsprechende Angebote in Frankreich oder Deutschland denken, von den USA ganz zu schweigen. Und - sehr wichtig - würde es bedeuten, daß all das, was sich an den Rändern von Klassik und New aufhält, gekappt wird, oder ständig in Gefahr ist gekappt zu werden. Das sind die handfesten Sorgen eines Hörers wie ich, die Sie gewiß kennen. Wenn es das Radio überhaupt als ein eigenes Medium gibt, dann muß es auch als ein solches geplegt werden. Gegen eine radioeigene Medialität spricht, daß wie alle Verarbeitungs- und Transmissionsmedien der akustischen Telekommunikation auch das Radio, Funk und Telephon schon in prädigitalen Zeiten nach Zwecken und maschinellen Gegebenheiten plastisch, das heißt verschieden einsetzbar waren. Dafür aber spricht, daß ein Medium als Wahrnehmungsmedium so wie die Künste schon traditionell nur dann in seiner Medialität identifiziert und auf Dauer geschätzt wird, wenn seine Differenzialität herausgestellt und weiter entfaltet wie entwickelt wird. Was die Pragmatik der HörerInnen betrifft, so kann das Hören sicher vom Zuhören, Mithören zum Mitreden, Mitgestalten, Mitdiskutieren und Mitgestalten eigener Sendungen reichen. Leider ist das Publikum im als öffentliches Studio benützbaren "Radiocafé" zu Statisten des von Räuspern unterbrochenen Schweigen oder Klatschen verdammt - nie geht Karl Löbl oder Otto Brusatti auf eine Zuhörerin mit einem Mikrophon zu, um sie auch einmal an den geladenen Opernstar oder den Konzertveranstalter eine Frage richten zu lassen, was zumindest den Rätselanrufern hin und wieder gestattet wird. Natürlich fällt hier ein, daß ein Kunst-Radio, das ein Kultur-Radio Ö1 automatisch auch ist, noch viel mehr zu den HörerInnen gehen könnte. Was Ö3 als telefonorientiertes Musik- und Werbe-Radio (die Cash Cow des ORF-Rundfunks) terroristisch vorführt, könnte auch dosiert auf Ö1 eingesetzt werden. Es muß nicht eine Show wie jene von Oliver Baier auf Ö3 sein, in der dieser in zwei Stunden eines samstags einen Hindernislauf von Wien in eine niederösterreichische Ortschaft nur teilweise mit Auto zurücklegte, zum allgemeinen Gaudium und der Erschöpfung Baiers, der natürlich auf diesem Pegel seine Sendung nicht lange halten konnte. Eine Telefon-live-Diskussionssendung wie "Von Tag zu Tag" auf Ö1 ist das sehr positive Beispiel, das auch in bezug auf die Künste stärker eingesetzt werden könnte.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, Herr Treiber, übersteigt es meine Kräfte, die Formaltypik der PRÄSENZEN, REPRÄSENZEN und RE-PRÄSENTATIONEN auf die anderen Künste im Radio anzuwenden. Das genau zu machen, würde sicher sehr klar die Radiomöglichkeiten von Literatur (außerhalb des Hörspiels, Kabaretts, Theaters und der Kurzprosa), Film, Tanz, Architektur, Malerei, Design,Fotografie, Skulptur und Gastronomie aufzeigen.

Unter dem Aspekt der Vollständigkeit des Vorkommens der Künste und ihren Werken sind bei der Musik Defizite festzustellen. Zurecht nimmt die Kunst der Musik den größten Raum ein. Weil es Aufgabe von Ö1 bleiben muß, Nachrichten allgemeiner und spezieller Art mit Qualität (zu guten Sendezeiten) zu senden, muß, auch aus Kostengründen, die Restzeit großteils auf nichtrednerische Hörereignisse ausgerichtet sein, also die Musik. Doch heißt Kultursender hier noch lange nicht, daß es - bei allen Vorlieben der HörerInnen, die wiederum zum Teil eben von Ö1 erzogen sind - ein unausgewogenes Programm sein muß, das zudem sachlich unzureichend begleitet wird, angefangen bei den seit einigen Jahren nicht mehr datierten Musikstücken in den unmoderierteten und teilweise auch moderierten Sendungen. Hochkultur ist auf ein Verstehen in Kontexten angelegt, für dessen historischen Aspekt allerdings auch die kompetenten MusikdoktorInnen stärker informieren müssen. Es fehlt, von Brahms und seltener Bruckner abgesehen, das spätere 19. Jahrhundert abendljndischer klassischer Musik, das frühere, mittlere 19. Jahrhundert, wenn es nicht um die Stars geht. Das 18. Jahrhundert fällt, trotz der Bemühungen von Harnoncourt in Konzert und Oper, zwischen der romantischen Klassik des 19. Jahrhunderts und den an Aufführenden etwas einseitigen Programmen von Bernhard Trebuch für Barock und Früheres durch. Das 20. Jahrhundert leidet allgemein: von Schönberg darfs nur die Zeit vor 1906 sein, Strawinski Klassizismus ist im Aufwind, nicht aber seine Radikalität, sonst ist das frühere, mittlere und spätere 20. Jahrhundert so gut wie abwesend, was, seit dem Abgang der informativen und auch theoretisch gehaltvollen Sendungen von Lothar Knessl sowohl die österreichische wie internationale Musik dieser Zeit betrifft. Als mit der letzten Programmreform das eineinhalbstündige Ö1-Konzert um 15 Uhr kam, konnte man auf ein gemäßigtes Programm an moderner Musik hoffen - wo bleibt hier, aber auch sonst die Kammermusik? - , was inzwischen durch die zunehmende Konservativität bis hin zur allzuleichten E-Muse enttäuscht wird. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die zum Teil langjährigen, oft auch promovierten ModeratorInnen bis hin zum kompetenten und artikulationsfähigen Otto Brusatti immer mehr persönlichen Vorlieben verfallen und ihre eigenen Kenntnisse, trotz des sagenhaft riesigen und kostbaren Musikarchivs des ORF, verkümmern lassen. Das trifft auch auf den Jazz zu: Vorbei die Zeiten eines Walter Richard Langer, der die ganze Jazzgeschichte zum musikalischen Genuß und zur köstlichen Belehrung bis hin zur schon nicht mehr zumutbaren 12teiligen Rahsaan-Roland-Kirk-Sendung abhandelte! Ein Klaus Schulz spricht zwar vom besten Konzert in Wien, dasjenige von Johnny Griffin in Wien 1961, aber für seine Programmierung hat das keine Konsequenzen - wie wohltuend sind die allzu seltenen Rückgriffe auf die Zeit vor der Gegenwart, wenn es einmal nicht um Geburtstagsjubiläen, sondern um ein Sachthema geht. Auch das Kunstlied wird immer mehr vernachlässigt, Gesang ist der Opernsendung wochtags mittags einmal vorbehalten, die auf Stimmleistung primär ausgerichtet ist und dem Personen- und Veranstaltungskult, der Ö1 - man muß es sagen - zu 99% gewidmet ist. Was mir fehlt, sind, wenn schon, fundierte KomponistInnen/SängerInnenporträts - etwas, was sonst nur in Sondersendungen am samstag aband oder am Feiertag Platz findet. Festspieltermin wie Matinee der Wiener Philharmoniker Sonntag 11 Uhr; , mehr oder weniger freier Essay wie Pasticcio wochentags 8 Uhr 15 bis 8 Uhr 55. Diskussion/Gespräch (Diagonal Harnoncourt Gespräch zwischen Labelchef und Journalist; Wilfried Seipel), Remix/Interpretation/, Bericht von einem Festival. Editorik: das ganze Werk

Man weiß, daß sich das Tonmedium Radio bei visuellen Gegenständen schwer tut und damit auch bei den visuellen Künsten wie den Bildkünsten der Malerei und Photographie, der Skulptur, dem Design, der Medienkunst sowie der Architektur schwer tut. Wir sind am ehesten bereit, bei Beschreibungen bei Städteporträts zuzuhören. Was kann das Radio tun? In einigen Jahren könnte eine abrufbare oder automatisch erscheinende Schriftzeile die Radiogeräte mit dem Titel dessen versehen, was gerade gesendet wird. Bevor aber auch hier die Multimedialität eingeführt wird, möchte ich den Ton auf seine Möglichkeiten wie Wirklichkeiten befragen. Sicher sind stimmlicher und nichtstimmlicher Wohlklang vorrangig. Beide überkreuzen sich in ihren ästhetischen Wirkungen.Während erstere auch bei den Nachrichten auf alle ästhetisch wirken kann, ist letzterer nur im allerbestimmtesten Fall Klangrede. Selbstredend erweisen sich so die Gattungen des Lieds das von (das von Ö1 weit über das deutsche, romantische Lied hinaus bis zu einer Diamanda Galas jenseits von Jazz in seiner Bandbreite nur zum kleinsten Teil gebracht wird, wobei die Verständlichkeit kein starkes Argument ist, Spezialfall Oper oder die ganze schwierigere Instrumentalmusik), des Theaters/Hörspiels, des Kabaretts und der Oper als vorrangig - sie kommen der Chora ebenso wie unserem akustischen Vis-à-vis am nächsten - , noch vor der Instrumentalmusik, sei es die E-Musik oder der Jazz. Doch wenn Sie in betracht ziehen, daß es die bildende Kunst ist, die es schon allein aufgrund ihrer Fördersituation in Österreich schwer hat - von ihrer schwierigen Tradition, etwa den höfischen Barocknachwirkungen abgesehen - und auch sonst in der Aufmerksamkeit und den Aufwendungen des Publikums lange nach der Musik, dem Musiktheater, dem Theater und den anderen Künsten kommt, dann müßten Sie schon aus Gerechtigkeit dem Bild mehr Gunst ihr angedeihen lassen. Vor gut zehn Jahren gab es auf Ö1 "Kunstradio" für bildende Kunst und "Baukasten" für Architektur. Beide Sendungen waren von den Gestalterinnen kompetent redigiert, auf einem anspruchsvollen Niveau, von Berichten dominiert. Interviews waren, gottlob, der Zeit entsprechend, die Ausnahme. Der Informationsanteil war beträchtlich. Ohne Information geht es aber bei Kunst nicht. (Oder wollen sie sagen, daß Schuberts Neunte schon deshalb Kultur ist, weil sie so sehr ins Ohr geht?) Natürlich kann man im nachhinein sagen, daß die Sendungen bunter, "klingender" hätten sein können. Es klang noch die moderne Sachlichkeit bis in die Intonation hinein an. Die Sendungen wurden damals ersatzlos gestrichen, "Kunstradio" wurde als Name beibehalten und brachte bis vor einem Jahr mit dem Zusatz " - Radiokunst" experimentelle Arbeiten von Klangkunst im dreidimensionalen Raum unter Einschluß der Möglichkeiten elektronischer Kommunikation. Natürlich fanden die Berichte auch weiterhin Platz. Die beiden Orte mit ihrer Aura - was noch nicht dasselbe wie der Sendeplatz ist und auch nicht auf die beiden Persönlichkeiten Heidi Grundmann und Lisbeth Wächter-Böhm beschränkt - waren unwiederbringlich verloren. Inzwischen ist auch beider Nachfolgesendung, das einstündige Transparent zur bildenden Kunst gestrichen - die Inhalte müssen mit den Minutenlängen vorlieb nehmen.

Was die Literatur betrifft, die nicht in den eben genannten Gattungen aufgeht, so zeigen sich auch hier Defizienzen. Gedichte nur auf die "Nachtbilder" Samstag 0 Uhr 8 (52') oder auf eines der seltenen Feiertagsspecials wie das über Rimbaud - 2 Stunden! aus Ihrer Feder höchstpersönlich; wahrlich ein Feiertag, wenn ich auch vielleicht gerne noch stärker und länger in die Texte auf deutsch oder auch einmal kurz französisch eingetaucht wäre - zu beschränken, ist ein Jammer. Es geht um freie Lyrik, natürlich, das ist eben nicht so trendy, wie die internationalen Bestseller, von der auch die eine Stunde theoretisch leider sehr flache Literaturkritiksendung überrollt werden. (Dagegen hat sich in den 45 min Tonspuren fast schon eine neue Gattung des Literaturhörspiels konstituiert, leider nicht immer mit dem selben Erfolg). Der Oberflächlichkeit geopfert werden mußte die Literatur auf Ö1 also erst gar nicht - sie wird es weitgehend schon vorher am Markt. Dies ist jedenfalls der Eindruck, den ich aus den Sendungen vorgetragener (werktags 11 Uhr 20 bis 12 Uhr, 16 Uhr 55 bis 17 Uhr) oder besprochener Literatur gewinne. Traditionelle und moderne Literatur als solche, also am Text orientiert zu besprechen, scheint aber zunehmend schwer zu fallen.

Theater. Ist das Hörspiel noch aktuell? Vielleicht ist es einfach nicht meine Sendezeit, oder es wird zwar durch einen künstlich wirkenden jährlichen Wettbewerb in die Aufmerksamkeit gerückt, ist sonst aber kein großes Thema - drei Mal pro Woche, wobei die formale Qualität der Gattung sehr zwischen Sprechroman und avancierteren Formen schwankt. Es wundert daher nicht, wenn das Kunstradio öfter, als gut ist, in die Bresche springt. Sonst scheint mir scheint, daß das, was sich aus demTheater entwickelt hat, kaum mehr berücksichtigt wird. Vom ersatzlosen Streichen der Theatersendung Im Rampenlicht schweige ich.
Ist der Film unterrepräsentiert? Ja, so wie die meisten Künste. Kurze Zeit schein es, als ob der Ö1-Filmexperte Hans Langsteiner mehr für ihn tun konnte. Aber auch seine Filmsendung mußte dran glauben - wieso eigentlich der Kulturberichtssendungskahlschlag - wenn Sie mir dieses Wort erlauben. Es dadurch aber wettzumachen, daß man eine Sendung mit Filmmusik macht, reicht nicht aus. Wieso können Hans Langsteiner und der ehemalige Viennale-Chef Alexander Horwath oder andere nicht regelmäßig diskutieren und endlich einmal nicht nur breit einen Film ansprechen wie bei Martin Scorsese letztem Film, sondern auch einmal Grundsatzdiskussionen führen, wie zum Thema, das Horwath in seinem Beitrag zum freitäglich stattfindenden, ohnehin nur 15 Minuten langen "Österreich 1 Essay" behandelte.

Wiener Festwochen, Bregenzer und Salzburger Festspiele, Styriarte, Carinthischer Sommer, Innsbrucker Festwochen der alten Musik, das Kremser Volksmusikfestival, die Linzer Klangwolke: was läßt sich Ö1 auf die Dauer anderes dazu einfallen, als kommerzieller Transmissionsriemen zu sein? Leider sind die Zeiten der enthusiastischen "Übersetzung" auf verschiedenen Ebenen in Übertragung, Diskussion, Interview vorbei (vielleicht auch die große Zeit der Salzburger Festspiele)! - Kontra: Daß es keine Spezialsendungen mehr zu und mit den Künsten gab, könnte auch mit ihrer Entdifferenzierung zu tun haben. Real am einen Ende heißt das, daß die bildende Kunst laut, aber nicht von vornherein akustisch interessant geworden ist, wie in Vernissageberichten gehört werden kann (mitunter gibt die RadiojournalistIn der Versuchung nach). Am anderen Ende scheint die Aufmerksamkeit der Hörenden weit abgenommen zu haben, daß ihre Bindung an bi- oder gar multisensorielles Hören kaum mehr verlangt werden kann. Hier stellte sich die Frage der ästhetischen Erziehung - ich deute sie nur an und verfolge sie nicht. Einerseits würde sie mit Schillers Briefen in eine große Perspektive münden müssen, die insgesamt vorzunehmen dem O<esterreichschen> R<undfunk> F<ernsehen> wohl anstünde. Andererseits müssen wir uns davor hüten, die Pädagogik an ein Projekt anzuhängen - es würde nur Moral oder eine ästhetische Radiokommission herauskommen, wie sehr auch immer die Erziehungswissenschaft daran teilnähme.

Ein Wort zur Kulturberichterstattung, wie Sie es auf Ö1 nennen. Die Bezeichnung kommt wohl von den Nachrichten-Journal-Sendungen, in denen, immer zum Schluß, knappste Minutenbeiträge untergebracht sind. Ich finde sie allermeistens unentbehrlich, wann immer ich sie höre - als Information. Wieviel aber allein auf der informatorischen Ebene aus einer Recherche noch gebracht werden kann, zeigen die 7-, 10-, 12-, 20-Minuten langen Beiträge der 5 x wöchentlichen 25 Minuten des Kulturjournals, zu einer ebenso unmöglichen Zeit (16 Uhr 30) wie die 45-Minuten-Version am Freitag um 22 Uhr 15 mit dem schlicht irreführenden Titel Scala. Ich denke schon daran, ein Gerät mit automatischer Aufnahmefunktion zu kaufen, oder an die Zukunft des Downloadings aus dem Internetarchiv. Großartig ist "Österreich 1 danach, ich bedanke mich bei Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen ausdrücklich dafür - aber ist das der backlash in Sachen Gleichberechtigung, daß diese anstrengende, streßige Arbeit an den Berichten von einer Abendveranstaltung schon wenige Minuten nach 24 Uhr in derselben Nacht hauptsächlich von Frauen gemacht wird, während die Musiksendungen in Stundenlänge oder länger zu 90 % von Männern moderiert werden? "Österreich 1 danach", soviel die wenigen Minuten auch kosten mögen, ist sehr wertvoll: radiogemäß, publikumsorientiert, für die Veranstalter (leider sehr, sehr oft aus Wien) werbewirksam, die Artikulationsfähigkeit sogar der KritikerInnen bildend, nicht zuletzt die einzige Möglichkeit zur Kunst-, Musik-, Literatur-, Theaterkritik (es fehlen Einweihfeste von Gebäuden, sehr selten auch Filmpremieren) auf Ö1 weit und breit bietend. Ja, die Kritik! Sogar ein Wilfried Seipel, mächtiger Museumsdirektor hat einmal beim Ö1-Klassik-Treffpunkt geklagt, eine kritische Auseinandersetzung werde kaum gepflegt. Daß die bürgerliche Kultur ohne Kritik nicht hätte entstehen können, gilt für das große Publikum ebenso wie für ihre Repräsentanten, die zunächst nur in Zeitungen oder Zeitschriften bestallten Kritiker. Für Österreich genüge das Beispiel Eduard Hanslick. Deswegen wird auch ein Fortbestand dieser Kultur wesentlich von dieser in diesen kritikfeindlichen Zeiten zu verstärkenden Funktion der Kommunikation über Kunst abhängen. Ebensosehr müßte den KünstlerInnen mehr Verantwortung punkto Kritik zugemutet werden (sie sollten auch die Zeit haben, einen eigenen, selbst vorgelesenen kurzen Text, ein speziell angefertigtes Stück Musik, Literatur, aber auch Bild zu präsentieren). Sie müßten, Herr Treiber, Sendungen ermöglichen, in denen mehr von den KünstlerInnen verlangt wird als Wortschnipsel, manchmal sardonisch genannt Wortspenden. Es geht also auch um die längere Form der Kritik im Radio, nicht nur um das liebliche "Künstlerzimmer" (bitte ohne Springbrunnen und Säuberungsgefährt in der Hotellounge - ob dies nun dem neuerdings aufkommenden Unterlegen von Wort/Interviewstrecken mit Musik entspringt oder nicht, das "Leben der Natur" etwa "spricht" nur, wenn die Stimme des erzählenden Wissenschaftlers allein bleibt), in dem die nötige Distanz zu KünstlerInnen per definitionem fehlen muß - gut, auch der warme Umgang mit den von uns Geliebten darf nicht zu kurz kommen. Aber dann möchte ich auch die scharfe Analyse. Warum sollte eine drei Viertel Stunde pro Woche mit kompetent vorbereiten KritikerInnen und WissenschaftlerInnen von Ö1 und von außen zu einem Kunstwerk oder einer Veranstaltung inklusive eines siebenminütigen vorangestellten Berichts beim Publikum nicht gut ankommen? Bei der leider insgesamt zu oberflächlichen Literarisches-Quartett-Imitation einmal pro Monat funktioniert es ja auch leidlich. Ich schlage vor: erste Woche im Monat Literatur, zweite Musik, dritte Theater, vierte bildende Künste einschließlich Architektur und, wenn der Wochentag ein fünftes Mal im Monat wiederkehrt, dann wieder Musik.

Natürlich kann die österreichische Ideologie nicht ausgespart bleiben. "Österreich 1" sagt schon genug. Sie wissen als Mitbegründer des Popmusiksenders Ö3 (1967, neben den öffentlichen Staatssendern in den 9 einzelnen Bundesländer Österreichs) und dessen längjähriger Mitarbeiter für die Sendung Music-Box (aus der dann letztlich der ORF-Alternativjugendsender FM4 hervorgehen sollte), wie schwer der Kampf darum war, Ö1 von seinem konservativen Selbstverständniszu befreien. Das gelang seit den 80er Jahren mit großem Erfolg. Die Signations, die der Tiroler Avantgardemusiker Werner Pirchner komponierte wie aufnehmen ließ - etwa die großartigen Bremer Stadtmusikanten für die 5 x Fünfminutensendung "Vom Leben der Natur" - , und die Werbekampagne im Zusammenhang des Re-Designs des Außenbildes des gesamten ORF Rundfunk und Fernsehen vor ein paar Jahren durch Neville Brody haben dem nur das Tüpfelchen aufgesetzt. Wenn der Krimi-Autor Wolf Haas "Ö1 gehört gehört" als Marketing festschrieb, dann wurde aber schon eine jüngere Zielgruppe angestrebt - jünger, als dies vielleicht nötig ist. Müssen ältere Menschen nicht beworben werden?

Vielleicht hat es auch mit einer Partikularisierung zu tun, die Ö1 zunehmends aushöhlt. Ich meine die immer zahlreicheren Produktionen im Funkhaus in der Argentinierstraße, im "Radiokulturhaus", dem ehemaligen großen Sendesaal und dem Radiocafé. Es geht weniger darum, daß hier nur 200 beziehungsweise 50 Personen Platz haben, als daß sich der ORF damit zwei conflicts of interest eingehandelt hat, zu deren Bewältigung nichts unternommen wird. Der eine besteht darin, daß der ORF zum Konkurrenten gegenüber den anderen Wiener Veranstaltern geworden ist mit der Folge, daß die vom Gesetzgeber Österreich festgelegte ausgewogene Berichterstattung über Musik- und Wortproduktionen nun kaum mehr möglich ist. Es betrifft - hier kann aus Gründen des Konkurrenzraums nur über Wien gesprochen werden - etwa das Literarische Quartier Alte Schmiede oder den Virgin Megastore, aus denen genau so gut literaturkritische oder Interview-Sendungen aufgenommen, gesendet oder zusammengefaßt werden könnten und wurden. Der andere Interessenkonflikt von Ö1 hat mit der exorbitanten Bevorzugung des Berichts über Kulturveranstaltungen in Wien zu tun. Der Wienhorizont geht oft so weit, daß eine Straße genannt wird, ohne hinzuzufügen, daß sie sich in Wien befindet. Das wird die HörerInnen aus den Bundesländern sicher so ärgern wie das fast ausschließliche Senden von Produktionen aus dem Wiener Studio. Wieso können Österreichs 8 oder 9 Länderstudios, die ausreichend Equipment und Kapazität neben den Länderprogrammen besitzen, nicht ebenso sowohl aus der "Kabine", als auch aus ihren Veranstaltungsstudios, wie aus den Aufnahmeorten senden oder mitschneiden, wie dies ja tatsächlich ein paar Tage im Jahr bei den meist sommerlichen Festivals passiert? Wenn ich schon bei Interessenkonflikten bin: Wieso muß bei Direktübertragungen aus der Wiener Staatsoper (schon im Namen eine Ungenauigkeit, ein Widerspruch, als ob es noch eine andere gäbe, ein zweiter, auch die Volksoper ist aufgrund der Bundesförderung eine Staatsoper) der Chefdramaturg ebendieses Instituts die Moderation der Sendung vornehmen? Hört man den Kommentator der New Yorker Met, so ist von allem Anfang an klar, daß seine mitunter punktuell kritische Distanz nur durch einen trotz Exklusivvertrag unabhängigen Radiosender möglich ist. Wo bleiben außerdem die Schilderungen von Opernregie und -bühnenbildern, da nun einmal in der Regel keine konzertanten Aufführungen übertragen werden? Oder hatte Claus Helmut Drese recht, der in seinem Buch über seine Zeit als Staatsoperndirektor schrieb, daß die Österreicher nur an Stimmen interessiert seien?

Damit bin ich noch einmal bei der österreichischen Ideologie im Radio durch die Kunst: mehrere Wochen Salzburger Festspiele, die Matineen der Wiener Philharmoniker aus dem, wie es seit kurzem immer öfter neureich heißt, Goldenen Saal im Wiener Musikverein (bei dem schamlos und meist ohne Entschuldigung überzogen wird), seit kurzem wieder öfter die Übertragungen aus der Wiener Staatsoper, aber auch immer stärker die restlichen österreichischen Musik-Festspiele mittlerer Größe. Gewiß, Ö1 ist der Sender für die - man muß es sagen - minoritäre (konservative?) A-Schicht, und muß es bei allen Widrigkeiten bleiben, so sehr Sie, Herr Treiber, und ihre MitarbeiterInnen, sich gleichzeitig um DIE Quote bemühen müssen. Doch möchte ich Sie bitten um die Wahrung der Chance, diese Minorität über das österreichische sine qua non hinaus mit Qualität zu konfrontieren - für den vielleicht nicht allzufernen Tag, an dem es heißen wird: Mit welchen Argumenten rechtfertig ein minoritäres Programm die öffentliche Förderung ohne DIE Quote? Die Antwort kann dann nur sein: ein Radio, das sich seiner Qualitäten gewiß ist und diese auch zu realisieren imstande ist. Für die Künste auf Österreich 1 Anregungen gegeben zu haben, würde sich freuen

hochachtungsvoll und
mit freundlichen Grüßen


Peter Mahr

 

(c) Peter Mahr 2000

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