mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

3 (2000), Nr.2/Juni

Aesthetica

1. Geschmack, Erhabenes und Mitempfindung. Das Politische der Ästhetik, 18. Jahrhundert III: Burke, Kant. Gefördert durch ein Stipendium der Wissenschaftsabteilung des Kulturamts der Stadt Wien und im Rahmen eines Projekts des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung der Republik Österreich. Dank an Franz Martin Wimmer und, für Hinweise, Wolfgang Pircher (beide Institut für Philosophie der Universität Wien). Zeichen.

Burke's frühe Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen 1757 schließt Addison's sexuelle Bestimmung des Schönen mit dem nun auch psychologisch begründeten Erhabenen des Pseudo-Longinus zusammen, dessen Lehre seit 1743 auf englisch vorliegt. Entsprechend nun der Zeit des Rokoko wird das Schöne als klein, glatt, zart, allmählich sich ändernd, das Erhabene als riesig, rauh, plötzlich sich ändernd charakterisiert. Das Entzücken des Erhabenen ist der Effekt eines gemäßigten Erschauderns, das Vergnügen des Schönen wird durch eine zarte Affektion gewährt. Die daraus abgeleiteten gegensätzlichen Grundtriebe - Selbsterhaltungstrieb (Erhabenes) und Geselligkeitstrieb (Schönes) - erweisen einmal mehr, wie sehr die ästhetischen Reflexionen in eine allgemeine Kultur- und Gesellschaftsphilosophie eingebettet sind, die wiederum die Affektenlehre auf konkreten Boden ziehen. Damit hat Burke Kant mehrfach angeregt. In der Analytik des Erhabenen von 1790 zeigt Kant eine Bewegung auf, die durch die Einbildungskraft entweder auf das Erkenntnisvermögen oder das Begehrungsvermögen bezogen ist. Entweder verschwindet in der Größenschätzung die Natur gegen die Vernunft, und das Verhältnis von Einbildung und Größe wird als unangenehm, das Verhältnis von Sinnlichkeit und Ideen als lustvoll erlebt. Oder die Natur zeigt sich in der Kräftevergleichung des ästhetischen Urteils als Macht ohne Gewalt, dann resultiert daraus ein erhabenes Gefühl über die Natur. Derart spielerisch befreit, erscheint dem ästhetischen Urteil die Naturgewalt wie ein Werkzeug der Vernunft, die der Moral ähnlich ist. Analog dazu die Kunst, die ebenso durch eine gewisse Freiheit Dinge hervorbringt. Als ob es ein Produkt der Natur wäre, gibt das Genie in dieser schönen Kunst naturhaft die Regel. Symbolisch, aber nicht unter Garantie können die Künste schließlich Sittlichkeit bewirken. Aber wo setzt hier das Politische ein, wenn man es nicht schon als in der Struktur des Gesellschaftlichen mitgegeben erkennt?

In seiner Psychologie des frühbürgerlichen Individuums steht Edmund Burke <76>, wie mehr als dreißig Jahre später Immanuel Kant, an der Schwelle, die politischen Aspekte dieser Ideen zu explizieren und politische Konsequenzen zu ziehen. Schönheit ist für Burke ausdrücklich eine "soziale Qualität"<77>. Sie entspringt der Liebe der Geschlechter, allgemein der Neigung, wie sie in anlaßbezogener Gesellschaft, das heißt feierlichen (Abend-, etc.) Gesellschaften kultiviert werden. Sie beruht auf der Leidenschaft der Lust und des Vergnügens. Was das Erhabene dagegen betrifft, so ist es für Burke - als Qualität der Selbsterhaltung - unlustvolle Leidenschaft und Schmerz, wie sie schon von den Ideen der Krankheit und des Todes ausgehen. Der Tod ist stärker als das Leben, der "König der Schrecken"<78>. Aber aus der Entfernung, so beobachtet Burke, wirkt das Schreckliche erleichternd, wenn es auch nicht vergnügt. Zudem ist das Erhabene wie alle anderen Leidenschaften an Objekte gebunden. Das Erhabene und Große der Natur draußen verursacht Schauder, und der Schrecken hemmt die Seelenbewegungen, indem er sich des Bewußtseins vollständig bemächtigt, ohne eine Reflexion zuzulassen. Burke gibt dem Erhabenen vor dem Schönen den Vorzug. Die Idee des höchsten Vergnügens istnicht so stark als die des äußersten Schmerzes, der die Einbildungskraft außer Kraft setzt. Nicht zuletzt beruht auch die Idee Gottes nicht auf Schönheit, sondern auf Schrecken. All diesen Elementen des Erhabenen fügt Kant im wesentlichen nichts Neues hinzu, obwohl er beim Abschluß seiner Analytik des Erhabenen geradezu die ganze Überlegenheit seiner transzendentalphilosophischen über die psychologisch-physiologische Begründung des Erhabenen bei Burke hervorstreicht. Die Bedeutung Kants liegt allerdings ebenso in den politischen Überlegungen, die sich nolens volens anbieten, wie in den Schlüssen, mit denen Kant seinen systematischen Ansatz stärkt.

Auf den Vorwurf Schillers an Kant in Über Anmut und Würde , er hätte "die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurückschreckt"<79>, antwortet Kant, indem er einen Affekt vorschlägt. Da "das Gefühl des Erhabenen ... uns mehr hinreißt als alles Schöne", können Pflicht und Tugend wenn nicht schön, so doch nicht unästhetisch sein.<80> Nicht nur hier geht Kant von der Sphäre der Ethik aus, um das Erhabene zu reflektieren. In der Verteidigung gegen Schiller wie schon in der Kritik der praktischen Vernunft geht es darum, einen quasi-psychologischen Effekt aufzuzeigen - die Ehrfurcht gegenüber dem Gesetz, die das Gemüt erfüllt. Indem dieses Gesetz sich allerdings in uns selber befindet, haben wir es nicht mit Bestimmungen wie bei Objekten zu tun, sondern mit einem Gefühl - dem des Erhabenen: "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir."<81> Ähnlich heißt es dann in der Kritik der Urteilskraft, daß man "den Anblick des bestirnten Himmels erhaben nennt"<82> und daß "das intellektuelle, an sich selbst zweckmäßige (das Moralisch-) Gute, ästhetisch ... als vielmehr erhaben vorgestellt werden" muß.<83> Allgemein lassen sich kontemplativer Verstand und die Zwecke der praktischen Vernunft zu einem Gebilde addieren, das mit der ästhetischen Urteilskraft verwandt ist: es läßt die "Gesetzmäßigkeit" der Handlung aus Pflicht ästhetisch vorstellen.<84>

Bekanntlich hat Kant lange danach gesucht, wie das Erhabene richtig aufzufassen ist. Die anthropologisch-gesellschaftlichen Reflexionen der Logik Philippi<85> nennen Gegensätze wie Einsamkeit/Geselligkeit, Wald/Garten, Stadt/Land, aber noch nicht Erhabenes/Schönes, sondern Angenehmes/Schönes. Daß das Erhabene noch nicht terminologisch geschärft ist, beweist eine Ausführung über das Laster, die eher an das Hohe, Gehobene als an die negative Dimension des Sublimen denken läßt. Anstatt über das Laster herzuziehen, "sollte man es mit schönen ironischen Beschreibungen, mit erhabenen Erzählungen vorstellen und dann mit einem Mal die Tugend in ihrer Erhabenheit, Schönheit und vollstem Glanze zeigen."<86> Überhaupt stand lange Zeit die Ausarbeitung einer Geschmackstheorie im Vordergrund, als welche die Kritik der Urteilskraft zunächst konzipiert worden war.<87> Dabei geht es um (dann näherhin ungesellige) Geselligkeit und nicht Gesellschaft, wie sie in der britischen Tradition von sociability seit Shaftesbury thematisiert wird. "Der Gesellige, der teilnehmende Leidenschaften hat, der hat einen ... feinen Geschmack", einen Geschmack nämlich, der das allgemein Gefällige und somit die "teilnehmende Empfindung (Sympathie)"<88> fühlt. Zwar ist im 18. Jahrhundert allen Geschmackstheoretikern klar, daß der Geschmack moralischen und damit gesellschaftlichen Zwecken genügt, und Kant meint genau das, wenn er Geschmack als "das Vermögen der ästhetischen Urteilskraft, allgemeingültig zu wählen" und noch stärker als " gesellschaftliche Beurteilung äußerer Gegenstände in der Einbildungskraft"<89> bestimmt. Eine politische Ästhetik ist damit aber noch nicht eingelöst.

Daß die Geselligkeit der Ungeselligkeit entspringt, ist für den späterenKant unverrückbare Gewißheit. Sie erlaubt ihm, über den Geschmack als soziales Faktum des Menschen hinaus zur politischen Dimension des Erhabenen vorzudringen. Es kann "die Absonderung von aller Gesellschaft als etwas Erhabenes angesehen" werden, wobei Misanthropie häßlich wäre.<90> In seiner vorrevolutionären Geschichtsphilosophie denkt sich Kant dann die rechtsverwaltende bürgerliche Gesellschaft als "größtes" Problem<91>. Sie wird nur gewährleistet, indem sich - nach der Hobbesschen Urszene - mit dem sozialen Recht der Natur auch die individuellen Anlagen der Natur zur Kommunikabilität ausbilden: "Alle Kultur und Kunst, welche die Menschheit zieret, die schönste gesellschaftliche Ordnung, sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genötigt wird, sich zu disziplinieren, und so, durch abgedrungene Kunst, die Keime der Natur vollständig zu entwickeln."<92>

Auf dieser Linie verhält sich Kant zur französischen Revolution politisch negativ, moralisch aber positiv. Nur in der Denkweise der Bürger, nicht in der Veränderung des Staats zeigt sich der moralische Charakter als öffentlich und damit der Fortschritt als indirekt politisch.<93> Die Revolution "findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsch nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann."<94> Diejenige Denkweise, deren Äußerungen Gefahr mit sich bringen und nur moralisch motiviert in Kauf genommen werden, zielt insbesondere auf das Recht des Volkes auf eine bürgerliche Verfassung, deren Zweck als an und für sich rechtlich aufgefasst werden muß. Jener Gefahr repressiver Zensur kann nach Kant die Stirn nur durch die Teilnahme am Guten mit Affekt, das heißt durch wahren Enthusiasmus geboten werden.<95> Nur die Tendenz aufs Idealische, rein Moralische entspricht dem Begriff des Volksrechts, demgegenüber der Ehrbegriff des vormaligen kriegerischen Adels als Pendant des Enthusiasmus verschwunden ist.<96>

Diese Gedankenfigur des edlen Kriegers bot Kant schon in der "Analytik der ästhetischen Urteilskraft" zentral auf. Gegenstand der größten Bewunderung ist ein Mensch, "der nicht erschrickt, der sich nicht fürchtet, also der Gefahr nicht weicht, zugleich mit völliger Überlegung rüstig zu Werke geht."<97> Das ästhetische Urteil näherhin, entscheidet sich nach Kant für den Feldherrn und den Krieg und nicht den Staatsmann, also für den Frieden, der nur die Denkungsart verweichliche. Einmal mehr kommt Kant daher zum Schluß, es "ist die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserem Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns ... überlegen zu sein uns bewußt werden können" - und in dieser Sphäre des Gemüts findet dann das Entscheidende statt: "Die Idee des Guten mit Affekt heißt der Enthusiasm."<98> Als Affekt ist er blind, weil er ohne die Überlegung nach Grundsätzen vorgeht. "Ästhetisch gleichwohl ist der Enthusiasmus erhaben, weil er eine Anspannung der Kräfte durch Ideen ist, welche dem Gemüte einen Schwung geben, der weit mächtiger und dauerhafter wirkt, als der Antrieb durch Sinnenvorstellungen" - hier kehrt das Adlige im quasi-affektlosen Gemüt für Kant wieder: Mut gilt als "ästhetisch-erhaben"<99>. Daher können Ideen mit gesellschaftlichem Interesse nur dann erhaben sein, wenn die Gemütsstimmung bewußt zum intellektuell Zweckmäßigen führt. Politisch ist es also falsch, von staatlicher Seite gegen eine Religion der Sittlichkeit einzuschreiten und durch Zwangsapparate "dem Untertan" die Seelenkräfte einzuschränken.<100> So weit darf nach Kant Disziplinierung nicht gehen. Denn gerade die negative Darstellung im Erhabenen bannt jenen Enthusiasmus, der vom Staat als gefährlich eingestuft wird. Das Erhabene ist wie das Schöne nicht partikular, sondern allgemein mitteilbar. Ist es dadurchauch politisch relevant?

Kants präzise Definition der zweiten Art des Erhabenen lautet mit Überschrift und Beginn des betreffenden Kapitels: "B. Vom Dynamisch-Erhabenen der Natur. §28. Von der Natur als einer Macht. Macht ist ein Vermögen, welches großen Hindernissen überlegen ist. Eben dieselbe heißt eine Gewalt, wenn sie auch dem Widerstande dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist. Die Natur, im ästhetischen Urteile als Macht, die über uns keine Gewalt hat, betrachtet, ist dynamisch-erhaben."<101> Es ist also paradoxerweise die Natur im weiteren Sinn, wodurch das Erhabene letzlich politisch relevant ist. Sie ist es - der Klassik entsprechend - , "weil sie die Einbildungskraft zu Darstellung derjenigen Fälle erhebt, in welchen das Gemüt die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung ... sich fühlbar machen kann."<102> Das Urteil über das Erhabene der Natur, also das Dynamisch-Erhabene, braucht eine gewisse Kultivierung. Es kann aber nicht von der Kultur selbst erzeugt sein - wie immer Kant sich das kritisch gegenüber den "schönen" (oder vielmehr erhabenen?) Künsten vorgestellt haben mag - , sondern muß als in der Natur des Menschen bereits verbürgt aufgefaßt werden. Dies geschieht, indem durch die Anlage zum Gefühl für praktische Ideen, das moralische Gefühl, die Zustimmung anderer als notwendig angenommen wird.<103>

Zusammenfassend: Kant übernimmt das selbsterhaltende Erhabene, das an die Ideen von Schmerz, Krankheit, Tod und Schrecken (Gott) gekoppelt ist. Aber diese "ideas" der Selbsterhaltung sind ins Medium des Gesetzes eingelassen, von dem die Natur in ihrer Macht/Gewalt (oder Substrat) theoretisch wie praktisch ins Spiel gebracht wird. Politisch kann das Erhabene daher nicht von der Gesellschaftlichkeit (des Geschmacks des Schönen) abgeleitet und von der Kultur erzeugt werden - eher noch wäre die Ungeselligkeit erhaben. Im Kreisen um die Erfahrung der Revolution sieht Kant gerade den Enthusiasmus in imaginierter Teilnehmung auf eine moralische Anlage, die bürgerliche Verfassung, verweisen. Der Enthusiasmus ist politisch, indem eine Ehre wie im mutigen, kriegerischen Adel Idee wird, dessen Überlegenheit über die Natur nun von einer Anspannung der Kräfte durch Ideen ergänzt wird (Sublimierung). Vor diesem Hintergrund muß das "bürgerliche" Erhabene eine Zurückweisung des Staats bedeuten, und zwar durch den Hinweis auf die Eigenart seiner negativen Darstellung im Erhabenen.

Bekanntlich hat der politisch erfahrenere, im Vergleich zu Kant auch im politischen Diskurs lange Zeit wirksamere Burke in seiner Kritik der französischen Revolution mehr unbewußt an seine epochalen Überlegungen von 1757 angeknüpft, aber das Reflexionsniveau von Kant unterboten. Daß Burke die Einheit von Politik und Ästhetik verteidigt<104>, drückt sich zwar in der Sorge um eine gefährdete Sensibilität aus. Sie ist aber nicht durch die praktische Vernunft hindurchgegangen und bleibt als naturwüchsig fixiert. So findet Burke etwa die britische Monarchie schön, weil sie sich in genauer Entsprechung und Symmetrie zur Weltordnung befindet und ihre Regierung ein dauerhafter, aus transitorischen Teilen gebildeter Körper ist. Doch "die Zeiten der Ritterrsitte sind dahin. Das Jahrhundert der Sophisten, der Ökonomisten und der Rechenmeister ist an ihre Stelle getreten, und der Glanz von Europa ist ausgelöscht auf ewig. Niemals, niemals werden wir sie wiedersehen, diese edelmütige Ergebenheit an Rang und Geschlecht, diese stolze Unterwürfigkeit, diesen würdevollen Gehorsam, diese Dienstbarkeit der Herzen, die selbst in Sklavenseelen den Geist und die Gefühle einer erhabnern Freiheit hauchte."<105>

Gegen diese politische Ästhetik hat es schon im Jahr des Erscheinens der Reflections scharfen Protest gegeben, der die Subordination sowohl des Weiblichen wie der Sklaven unter ein Erhabenes adressierte, das an eingewisses Schönes gekoppelt war. Es ist Mary Wollstonecraft, die schreibt: "Wo ist die Würde, die Unfehlbarkeit der Sensibilität bei den ordentlichen Frauen, die, wenn der Stimme des Aufruhrs Glauben geschenkt werden soll, von den gefangenen Negern in der ganzen Agonie des körperlichen Schmerzes verflucht werden, und zwar für all das Ungehörte der Torturen, die sie erfinden? Wahrscheinlich richten einige von ihnen, nachdem sie eine Geißelung gesehen haben, ihre zerzausten Geister wieder her und erproben ihre zarten Gefühle durch die Durchsicht des zuletzt importierten Romans. - Wie natürlich auch immer diese Tränen sind, lasse ich Sie selber bestimmen. Aber diese Damen haben vielleicht Ihren Enquiry concerning the origin of our ideas of the Sublime and Beautiful gelesen und, von Ihren Argumenten überzeugt, sich bemüht, hübsch zu sein, indem sie Schwäche vortäuschen. Sie mögen sie überzeugt haben, daß gerade Kleinheit und Schwachheit das Wesen der Schönheit sind und daß das Oberste Wesen, indem es den Frauen die Schönheit in besonders hohem Maß gibt, ihnen durch die machtvolle Stimme der Natur zu befehlen schien, nicht die moralischen Tugenden zu kultivieren, die Respekt erregen könnten, und sich nicht in die vergnüglichen Empfindungen einzugreifen, zu deren Inspiration sie erschaffen wurden." Doch daraus folgt, "daß Respekt und Liebe antagonistische Prinzipien sind und daß, wenn wir die Menschen wirklich als tugendhafter auszugeben wünschen, wir uns bemühen müssen, alle uns aufregenden Modifikationen der Schönheit von der bürgerlichen Gesellschaft verbannen müssen. Wir müßten, um ihr Argument etwas weiter zu führen, zu den Regeln von Sparta zurückkehren und die Tugenden der Menschen auf der strengen Grundlage der Kasteiung und Selbstverleugnung verankern. Denn jeder Versuch, das Herz zu zivilisieren und durch die Enpflanzung vernünftiger Prinzipien menschlich zu machen, ist bloß ein philosophischer Traum. Wenn die Verfeinerung den Respekt für die Tugend unverhinderbarerweise mindert, indem die Schönheit - diese große Versuchung - als noch verführerischer ausgegeben wird, und wenn diese entspannenden Gefühle mit der aufgeregten Ausübung der Moralität unvereinbar sind, dann ist die Sonne Europas noch nicht untergegangen. Es wird erst dämmern, wenn die kalten Metaphysiker sich dazu anschicken, daß der Kopf dem Herzen die Gesetze gibt. Aber sollte die Erfahrung beweisen, daß es in der Schönheit Tugend gibt und Charme in der Ordnung, was notwendigerweise die Ausübung mit sich bringt, dann wird ein verdorbener Sinnesgeschmack einem mannhafteren weichen und damit der Verschmelzung der Gefühle mit den Vernunftbefriedigungen Platz machen. Beide mögen für den Menschen gleicherweise natürlich sein. Die Probe ist ihre moralische Differenz, und das kann allein die Vernunft entscheiden." <106>

(Schluß folgt.)

Anmerkungen

<76> Edmund Burke, Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (1757), = Philosophische Bibliothek 324, hg. v. Werner Strube, Hamburg: Meiner 1980

<77> Burke, a.a.O., S.76

<78> a.a.O., S.73

<79> Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde (1793), in: ders., Gedichte. Prosa, hg. v. Benno v. Wiese, Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg 1966, S.427-479, hier S.458. In der Schrift Über das Erhabene (<1795>1801), in: ders., a.a.O., S.665-681, geht Schiller über seine Forderung, der Pflicht die Anmut des Schönen beizugesellen, hinaus und teilt dem Erhabenen den Ort zu, andem die moralische Kultur gegenüber der physischen die Gewalt des Todes aufhebt. Vgl. Herbert Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Freud, Stuttgart: Ernst Klett 1957; wieder als: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Freud, = Bibliothek Suhrkamp 158, Frankfurt: Suhrkamp 1965

<80> Immanuel Kant, Aus den Vorarbeiten zur Religionsschrift: Zu Schillers Anhandlung über Anmut und Würde (1794), aus: Kant's Gesammelte Schriften, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd.23, S.98-101, wieder in: Materialien zu Kants >Kritik der praktischen Vernunft<, hg. v. Rüdiger Bittner/Konrad Cramer, = stw 59, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S.221f., hier S.221

<81> Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, = stw 56, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S.300: Beschluss

<82> Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, = stw 57, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S.196

<83> Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O, S.198

<84> a.a.O. S.193

<85> Immanuel Kant, Aus einer Logikvorlesung <Logik Philippi (1772)>, aus: Kants Gesammelte Schriften, Bd.24, in: Materialien zu Kants >Kritik der Urteilskraft<, = stw 60, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S.101-112, besonders S.107-109

<86> a.a.O., 110

<87> Kants Brief an Schütz vom 25. 6. 1787, daraus zitiert v. Karl Vorländer, Einleitung des Herausgebers, in: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 4. Aufl., Leipzig: Meiner 1913, S.IX-XXXII, S.X

<88> Kant, Aus einer Logikvorlesung, a.a.O., S.102

<89> Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2 / Werkausgabe Bd.XII, = stw 193, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S.395-690, hier S.565

<90> Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S.203

<91> Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in bürgerlicher Absicht (1784), in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1 / Werkausgabe Bd.XI, = stw 192, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S.31-50, 5. Satz (S.39f.)

<92> a.a.O, S.40 - wenn auch dieser Kunstbegriff noch nicht ganz mit dem der schönen Kunst gleichzusetzen ist.

<93> Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1 ... , a.a.O., S.261-393, S.351: "Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?"

<94> Kant, Der Streit ... , a.a.O., S.358 --- Bei Hannah Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hg. v. Ronald Beiner, übers. v. Ursula Ludz, München/Zürich: Piper, heißt es: "Des Betrachters uninteressierte Teilnahme macht die französische Revolution zu einem großen Ereignis." (S.74)

<95> zum Geistesgefühl siehe Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S.67: Es ist das "Vermögen, an Gegenständen eine Erhabenheit vorzustellen", in der bloßen Reflexion über einen Gegenstand das Erhabene.

<96> Kant, Der Streit ... , a.a.O., S.359

<97> Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S.187

<98> Kant, Kritik ... , a.a.O., S.189

<99> a.a.O., S.199

<100> a.a.O., S.202

<101> Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S.184

<102> a.a.O., S.186

<103> Es geht hier um dasjenige gesetzliche Geschäft, "welches die echte Beschaffenheit der Sittlichkeit der Menschen ist, wo die Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt antun muß, nur daß im ästhetischen Urteile über das Erhabene diese Gewalt durch die Einbildungskraft selbst, als einem Werkzeuge der Vernunft, ausgeübt vorgestellt wird." (a.a.O., S.194)

<104> wie Paul E. Gottfried, Kunst und Politik bei Burke und Novalis, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 19 (1974), S.240-251, auf S.243 betont.

<105> Edmund Burke, Betrachtungen über die französische Revolution <1790, dt.1793>, übers. v. Friedrich Gentz, in: Edmund Burke/Friedrich Gentz, Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, hg. v. Hermann Klenner, Berlin: Akademie Verlag 1991, S.47-392, S.158

<106> Mary Wollstonecraft, A Vindication of the Rights of Man, in a Letter to the Right Honourable Edmund Burke; Occasioned by his Reflections on the Revolution in France. Second Edition, London 1790, tw. wiedergegeben in: The sublime: a reader in British eighteenth-century aesthetic theory, ed. by Andrew Ashfield/Peter de Bolla, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S.294-299, hier S.295f. und 296f. (eigene Übersetzung)

(c) Peter Mahr 2000

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