mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

3 (2000), Nr.1/März

Miszelle

8. Big Brother Mühl. 3535 Zeichen

Als Otto Mühl neben den anderen Wiener Aktionisten Mitte der 60er Jahre von der gestischen Malerei zur Materialaktion überging, wiederholte er auf der Ebene der Leiberfahrung, was schon den wilden Kandinsky zu einer geometrisch kontrollierteren "Gruppendynamik" abstrakter Gestaltungen geführt hatte. So bildeten sich bei Mühl die theatralisch-installativen Gemenge von Dingen, Farben, Organischem und Nackten zu einer mikrosozialen Skulptur fort, aus der die ökonomisch lange Zeit erfolgreiche Aktionsanalytische Organisation (AAO) entstehen sollte. Nicht zu vergessen die erfolgreiche Selbstkontrolle der Kommunarden, die von Mühls Regieblick dirigiert war. Dieser Blick konnte nur in der Kontrolle eigener Aktions-Ekstase eingeübt werden, und zwar in der simultan von Mühl selbst ausgeübten Regie für die aufnehmenden Foto- und Filmkameras. Kaum eine Aktion kam ohne photographische oder filmische Dokumentation beziehungsweise die, wie im einzigartigen Fall Kurt Krens, filmische Verarbeitung aus. Andererseits waren der beteiligten Akteure so viele geworden, daß sich das traditionelle Publikums wie von selbst auflöste. Dennoch gab Mühl seine Autorität als autochthoner Künstler nicht auf. Lang war er in der AAO der sexuelle, organisatorische und künstlerische Mittelpunkt geblieben. Das wurde ihm nach der Auflösung der Kommune anfangs der 90er Jahre zum Verhängnis. Im Bruch der von den KommunardInnen geteilten Verschwiegenheit traf ihn das bürgerliche Gesetz wegen Verführung Minderjähriger schließlich aller Härte. But, hey! Ist Mühl denn so anders als "Big Brother"? Auch hier willigten die eingesperrten KommuneteilnehmerInnen ins Beobachtetwerden und und Senden vom Privatestem in den öffentlichen TV-Raum ein. Auch hier wurde, mit Beichtzimmer und dem voyeuristischem Blick von TV-Leuten und Zuschauern, das auferlegte sexuelle Mingling bei systematischer Preisgabe von Innerlichkeit in der kommunenobligaten Selbstdarstellung zum Prinzip erhoben. Auch hier hat eine Gruppe ihre Bedürfnisse dem zentralisierten Wirtschaften bei autoritär verteilten Aufgaben untergeordnet. Doch nun, 2000, kehrt mit dem Drehbuch das Schauspiel zurück und mit dem Schauspiel die Regel des Spiels, das keine theatralische Performance generiert, sondern die stochastische des Wettkampfs. Der nebensächliche Aspekt des Spiels "Wer wird Mühls Hauptfrau?" wird bei RTL II zur Hauptsache der Gewinnsumme. In den Hintergrund tritt auch die sinnlich expressive Selbstdarstellung, die bei der AAO noch an die Herkunft aus der Kunst erinnerte. Gut möglich, daß die Konzeptleute für das Medienspektakel von der holländischen Produktionsfirma "Endemol" einst bei Mühl lernten und sich auf ihre Art rächen. 25 Jahre danach haben sie den Schluß aus Real-TV und pornographischer Selbsterzählung via Internet gezogen. Die totale Überwachung als Spaß, der Kurzschluß von Publikumsaufmerksamkeit mit Überwachungsenergie, die Selbstbeobachtung als die große Schleife - kurzum: die technische Überwindung des materiellen Vorgangs, wie sie schon im Schritt vom Aktionismus der 60er Jahre zur privatistischen Appropriation des TV der Closed-Circuit-Installationen in den 70er Jahren gesetzt wurde. Und doch, welch Unterschied! Technologisch stehen einem Set von Kameras auf einmal nicht nur ein, sondern zwei große Brüder gegenüber: Fernsehen und Internet. Egal, den beiden schüchternen, halbwüchsigen Mädchen in rosa und braun auf dem Straßenplakat, die auf der Couch kuschelnd für die dreimonatige Show von RTL II warben, soll es recht sein. Ihnen dürfte kaum aufgefallen sein, daß sie selbst Big Brother waren. Schon das hätte sie erleichtert. Aber sie hätten sich auch gern materialisieren, bereitwillig zur Materialkunst verführen lassen, an der Mühl auch später noch in der Malerei gelegen sein wird. Denndie virtuelle Realität wird bei Big Brother in die materielle einer Box zurückgekippt, in der ein Dutzend Menschen für viele Tage aufeinanderklebt und so den materiellen Prozeß einer mikrosozialen Skulptur vollzieht, die - ja - nun nicht mehr darstellt, sondern dargestellt wird.

(c) Peter Mahr 2000

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

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