Alternativen zur Straflogik:
Ein Mosaik an Lösungsmöglichkeiten


Gibt es neben den Ansätzen der Restorative Justice noch weitere Alternativen zu Strafsystemen? Lässt es sich vielleicht so einrichten, dass bestimmte problematische Situationen gar nicht erst entstehen, oder gleich ein anderer Umgang mit ihnen gefunden wird? Auch wenn es keine Patentlösung für alles gibt, lassen sich weitere kleine Mosaiksteinchen finden, die zu einem Gesamtbild einer menschlichen Gesellschaft passen, in der Strafe nur noch ein historischer Begriff ist?



Legalisieren, Zulassen, Entspannen


Mündige Menschen, kompetente Gesellschaft


Hinnehmen und Auffangen


Veränderte Rahmenbedingungen



Legalisieren, Zulassen, Entspannen

Was nicht verboten ist, muss nicht bestraft werden



 Spukschloss. Dieter Schütz / pixelio.de

Manches ist gar nicht so furchtbar wie wir dachten...




Zum Audiofile. Kurt Michel / pixelio.de  Legalisierung am Beispiel Sexualität: Wie befreiend ist es nicht nur für die direkt Betroffenen, sondern für die Gesellschaft als Ganzes, wenn ein Bedrohungsbild sich auflöst?

Einleitung zur Vorlesungseinheit von Nicole Lieger (Uni Wien, 2009)

Audio-File zum Reinhören oder Runterladen (19min, mp3, 5MB)



zum Audio-File. Bild:Kurt Michel / pixelio.de  Diskussion in der Lehrveranstaltung zu Bedrohungsbildern, die sich möglicherweise auflösen könnten: Sex unter Blutsverwandten, Sex in der Öffentlichkeit und in Medien.

Audio-File zum Reinhören oder Runterladen (32min, mp3, 8MB)



zum Audio-File. bild: Kurt Michel / pixelio.de  Diskussion in der Lehrveranstaltung zu Bedrohungsbildern, die sich möglicherweise auflösen könnten: (Werbung für) Sex mit Tieren, Prostitution, Altersgrenzen bei Sex.

Audio-File zum Reinhören oder Runterladen (26min, mp3, 7MB)





 

Drache. Rilke / pixelio.de

Drachen

 
Noch befreiender
als Schutz vor der Gefahr
ist die Erkenntnis
dass die Gefahr nicht exisitiert.

Noch bereichernder
als das Töten der Drachen
ist die Fähigkeit,
mit Drachen zu leben.





Legalisieren, Zulassen, Entspannen


In manchen Bereichen gibt es eine besonders schöne und einfache Alternative zum Strafrecht: die Legalisierung. Zentral dabei ist die Erkenntnis, dass etwas, was die längste Zeit unreflektiert als große Gefahr und gravierendes Übel eingestuft wurde, vielleicht gar nicht (so) schlimm ist. Dass man es einfach zulassen kann. Dies kann ein ungemein befreiender Zugang sein, nicht nur für jene, die bisher unter Strafe und Zwangsgewalt zu leiden hatten, sondern darüber hinaus für die Gesellschaft als ganzes.

Ein Paradebeispiel dafür wäre Homosexualität: seit wir uns als Gesellschaft nicht mehr fürchten (und Homosexualität nicht mehr kriminalisieren), ersparen wir uns ganz viel künstlich geschaffene Dramen und Schmerzen, und es ist wesentlich angenehmer für alle. So ließe sich wohl einiges im Bereich des Sexualstrafrechts bereinigen. Vielleicht auch ganz andere Dinge, wie die Herabwürdigung des Staatswappens.

Oft entsteht ja das Problem erst durch unsere Bemühungen, es zu beseitigen, beziehungsweise wird es dadurch erst so richtig schlimm. Die Idee, dass der Staat meine Eltern ins Gefängnis sperren sollte weil ich übers Wochenende mit meinem Freund zu ihnen komme und mit ihm in meinem alten Zimmer schlafen scheint uns zum Glück heute schon absurd (Kuppelei-Verbot). Auch verhängt der Staat zum Glück keine Gefängnisstrafen für Ehebruch. Scheidungs- und Trennungsprozesse sind meist so schon schwierig und schmerzlich genug. Unsere Beziehungsgeschichten werden nicht einfacher, angstfreier und liebevoller wenn der Staat sich mit Strafverfahren zuschaltet. In vielen Bereichen haben wir das schon erkannt und die Schlussfolgerungen gezogen; in einigen wäre das vielleicht noch möglich.

Irgendwo gibt es dann auch den Übergang von Dingen, die für mich einfach in Ordnung sind, hin zu jenen, die ich persönlich ärgerlich oder widerlich finde. Auch bei diesen sollten vielleicht alle anderen die Freiheit behalten, nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen zu leben (und nicht nach meinen).

Ich teile Deine Ansichten nicht – aber ich bin bereit, mein Leben dafür einzusetzen, dass Du sie frei äußern und ausleben kannst.” Dass dieses bekannte Zitat von Voltaire anscheinend nicht nach den "äußern" einen Punkt macht, sondern fortfährt mit "et de les vivre librement", also auch das Leben dieser Ideen mit einschließt, ist mir erst vor kurzem bewusst geworden und gibt zu denken.

Vielleicht könnten wir unsere Toleranzschwelle etwas anheben? Vielleicht könnten wir unseren Horizont möglicher Lebensweisen öffnen, und viel mehr Möglichkeiten des Menschseins zulassen? Das beinhaltet dann wohl die Freiheit der anderen, Dinge zu tun, die ich wirklich komisch oder abstoßend finde.

Wichtig scheint mir dabei, die Unterscheidung aufrecht zu halten zwischen "selber nicht mögen" - "bei anderen dagegen sein" - "verbieten wollen" - "bestrafen wollen".


Nur weil etwas verboten ist,
ist es noch lange nicht weg.


Nur weil ich's nicht mag ist es noch lange nicht schlecht. Nur weil etwas schlecht ist muss es noch lange nicht verboten werden. Nur weil etwas verboten ist, ist es noch lange nicht weg. Im Gegenteil, es kann auch in einer illegalisierten und noch hässlicheren Form zum Vorschein kommen.

Umgekehrt gibt es viele Arten, sich hilfreich Problemfeldern zuzuwenden, die nichts mit Verbot zu tun haben, sondern mit Hilfe.

Hier kann auch eine andere Logik zur Anwendung kommen: die Trennung von Person und Handlung: Ich finde die Tat abscheulich, und bin dafür, dass der Mensch alle nur erdenkliche Unterstützung erhält.





Voltaire


Ich teile Deine Ansichten nicht –                        Je ne partage pas tes opinions
aber ich bin bereit,                                                mais je suis prêt à donner ma vie
mein Leben dafür einzusetzen,                          pour te permettre
dass Du sie frei äußern                                       de les exprimer
und ausleben
kannst.                                         et de les vivre librement.




Ist das Gesetz im Recht? Sind Rechtsbrecher im Unrecht?


Spätestens seit dem Nationalsozialismus ist wohl der Gedanke bekannt, dass etwas, was geltende Rechtslage ist, noch lange nicht ethisch richtig sein muss. Und dass wir als einzelne Menschen aufgerufen sein können, gegen die geltende Rechtslage zu verstoßen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, Menschen zu verstecken, die vor einem repressiven Regime fliehen.

Auch homosexuelle Beziehungen zu leben war vor nicht allzu langer Zeit noch kriminialisiert; denke ich, dass die betroffenen Menschen damals falsch gehandelt haben, oder war es vielmehr der Staat, der falsch gehandelt hat?

Wie ist das heute?

Wie sehr trage ich in mir die Annahme, dass jemand, der das Gesetz bricht, etwas Falsches tut? Oder könnte es auch das Gesetz sein, das falsch ist?




Eine kompetente und kooperative Gesellschaft


Ein weiterer Grundstrang, mit dem Strafrecht unbedeutend werden kann, ist die gesteigerte Fähigkeit der Menschen, ihren Umgang untereinander verträglich zu gestalten, so dass auch schwierige Situationen nicht eskalieren, sondern einer für alle annehmbaren Lösung zugeführt werden.

Was fördert eine kompetente und kooperative Gesellschaft, mit mündigen Menschen, die mit ihren Schwierigkeiten auch umgehen können? Welche individuellen Fähigkeiten und welche gesellschaftlichen Strukturen helfen uns, Verantwortung für die eigenen Schwierigkeiten zu übernehmen und gemeinsame Handlungsräume und Heilungsmöglichkeiten zu schaffen?



Zum Audio-File. Bild: Kurt Michel / pixelio.de "Die Al-Anon Familiengruppen sind eine Gemeinschaft von Verwandten und Freunden von Alkoholikern, die ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung miteinander teilen, um ihre gemeinsamen Probleme zu lösen." Persönlicher Erfahrungsbericht aus einer Selbsthilfegruppe, als Beispiel für mögliche Wege in Richtung einer kompetenten Gesellschaft. Vorlesungseinheit mit Nicole Lieger
Audio-File zum Reinhören oder Runterladen (35min, mp3, 9MB)


Gib uns die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können
Den Mut, die Dinge zu ändern, die wir ändern können
und die Weisheit, das eine von anderen zu unterscheiden.


Al-Anon in Österreich: www.al-anon.at
Anonyme Alkoholiker in Österreich





Zum Audio-File. Bild: Kurt Michel / pixelio.de Selbst wenn Einrichtung wie Selbsthilfegruppen sinnvoll sind und helfen, ein Strafsystem überflüssig zu machen: was gibt es da zu tun? Muss der Staat hoffen und abwarten, ob Menschen aus eigenen Stücken solche Gruppen etablieren und frequentieren, oder kann er auch etwas aktiv beitragen? Schon die Schaffung des Vereinsrechts war wohl eine staatliche Maßnahme, die sehr erfolgreich die Selbstorganisation der Gesellschaft unterstützt hat. Könnte dies fortgeführt werden, zum Beispiel durch Bereitstellung von Räumlichkeiten (etwa in Schulen) für Initiativen und Selbsthilfegruppen? Auch könnte Politik zu einzelnen Themen gesellschaftliche und staatliche Initiativen gleichermaßen berücksichtigen; z.B. Autodidaktik bei Bildungspolitik, oder Selbsthilfegruppen bei Gesundheitspolitik.
Audio-File zum Reinhören oder Runterladen (20min, mp3, 6MB)



Zum Audio-File. Bild: Kurt Michel / pixelio.de  Neben Selbsthilfegruppen gibt es noch eine Reihe von anderen Bereichen, in denen relevante Kompetenzen verankert sind bzw. geübt werden können, wie etwa Konfliktlösungsprogramme, Kommunikationtrainings oder Interkulturelle Kompetenzbildung. Oft ist – nicht nur im Alltagsleben - die Ursachen eines Konfliktes nicht ein bestimmtes Bedürfnis, sondern die Art und Weise, wie man den Wunsch nach Bedürfnisbefriedigung kommuniziert bzw. wie dieser verstanden wird. Wenn Menschen die Fähigkeit haben, sich miteinander über ihre Bedürfnisse und Wünsche zu verständigen und dabei zu einer allgemein annehmbaren Vorgangsweise finden, erübrigt sich vielfach die Austragung und Schlichtung hoch eskalierter Konflikte. Diese Fähigkeit zu klarer und freundlicher Kommunikation kann sowohl von einzelnen Menschen als auch innerhalb einer Gesellschaft bewusst kultiviert werden.

Nicole Lieger gibt ein paar Einblicke in diese Bereiche, nachdem die Teilnehmenden der Lehrveranstaltung gerade ein Rollenspiel hinter sich haben, in dem Orangen eine zentrale Position einnehmen...
Audio-File zum Reinhören oder Runterladen (31min, mp3, 8MB)




Gewaltfreie Kommunikation

Mauer und Fenster. Oliver Tolkmitt / pixelio.de

"Worte können uns trennen oder verbinden, mit ihnen errichten wir Mauern    oder eröffnen Fenster. Annahmen, die dem Prozess der Gewaltfreien    Kommunikation zugrunde liegen sind:

  • o) Alles, was ein Mensch tut, ist ein Versuch, eigene Bedürfnisse zu erfüllen.

  • o) Jegliche Form von Gewalt ist ein tragischer Ausdruck unerfüllter Bedürfniss.

  • o) Es ist für alle Beteiligten förderlicher, Bedürfnisse durch Kooperation statt durch Wettbewerb zu erfüllen.

  • o) Zum Wohle anderer beizutragen bereitet dem Menschen von Natur aus Freude, wenn er das freiwillig tun kann."



Literatur zu verschiedenen Zugängen zu Kommunikation:

- Gabriele Seils / Marshall Rosenberg: Konflikte lösen durch gewaltfreie Kommunikation
- David Bohm: Der Dialog
- Brislin, Robert / Yoshida, Tomoko: Improving Intercultural Interactions
- Thich Nhat Hanh: Jeden Augenblick genießen: Übungen zur Achtsamkeit



Akzeptieren und Auffangen


Die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können


Nun haben wir also schon eine ganze Palette an Ansatzpunkten, die uns helfen, Lebenssituationen anders zu begegnen als mit der Logik von Schuld und Strafe. Unseren Horizont des Zulässigen erweitern, Entspannen und Legalisieren; unsere Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit als Einzelne und als Gesellschaft stärken; Rahmenbedingungen schaffen, die menschlichen Bedürfnissen entsprechen und wenig Nährboden für Probleme bieten.

Was aber, wenn trotz all unserer Bemühungen immer noch etwas schief geht? Irgendwo gibt es vielleicht auch den Punkt, wo wir Menschen am besten zur Kenntnis nehmen, dass unsere Macht begrenzt ist, und wir nicht immer alles perfekt hinkriegen können. Dass dort, wo Menschen leben, einfach auch immer wieder mal was daneben geht. Mit unseren Fehlern und Schwächen - als Einzelne und als Gesellschaft - leben zu lernen, könnte ein weiteres Mosaiksteinchen sein auf unserem Weg in eine freundliche, menschliche Welt.

Üben wir, die entstehenden Schmerzen zu lindern, den Schaden zu begrenzen - anstatt ihn womöglich noch zu vergrößern, indem wir ihm mit rabiaten Ausmerzungswünschen zu Leibe rücken, de facto damit aber nur noch mehr Unheil anrichten.


Auffangen und Schaden begrenzen: Zum Beispiel Drogen

Alkohol und andere Drogen könnten hier als Beispiel dienen. Tausende Menschen in Österreich sind alkoholabhänging, von Autounfällen über zerbrochene Familien bis zu körperlichen Gewalttaten reicht die Liste der Folgen. Trotzdem: Alkohol zu verbieten (wie in den USA und Teilen Europas schon einmal geschehen) hat diese Probleme nicht unbedingt behoben, sondern eher noch schlimmere hervorgebracht (wie organisierte Kriminalität). Auch bei derzeit illegalisierten Drogen mag es sinnvoller sein, lieber auf eine sanfte Entspannung der Situation hinzuarbeiten, auf eine Unterstützung der Süchtigen, auf eine Minderung des Schadens. "Harm Reduction" heißt prompt einer der Ansätze, die, auf konkreten Erfahrungen basierend, Maßnahmen vorschlagen, die die Überlebenschancen der Betroffenen verbessern und die Gesellschaftsverträglichkeit erhöhen, selbst wenn eine völlige Abstinenz nicht erreicht werden kann (oder soll? Zumindest bei Alkohol und Haschisch würden wohl viele Menschen in Österreich Abstinenz gar nicht wünschen).

Vielleicht sind wir als Gesellschaft am besten beraten, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass es nicht nur Rauschmittel, sondern auch einen kleinen Prozentsatz von Suchtkranken gibt, und uns darum bemühen, auch unter diesen Umständen das Leben aller möglich und möglichst lebbar zu gestalten. Zur Kenntnis zu nehmen, dass unsere Macht begrenzt ist, und die Gelassenheit entwickeln, jene Dinge zu akzeptieren, die wir nicht ändern können, und mit ihnen möglichst pfleglich umzugehen.


Alfred Springer, Leiter des Boltzmann Instituts für Suchtforschung in Wien, hat sich ausgiebig mit den Ansätzen der Harm Reduction bei Drogen beschäftigt. Er sagt: "Je mehr Erfahrung man mit der Behandlung von Drogenabhängigen sammeln konnte, umso mehr wurde deutlich, dass diese Personen ganz gute Chancen haben, aus ihrer Abhängigkeit „herauszureifen“, wenn man ihre Überlebenschance verbessert." Wie das gehen kann erläutert er in folgendem Artikel:

harm reduction (pdf, 5 Seiten, 100KB)



Zum Audio-File. Bild: Kurt Michel / pixelio.de   Wie kann ein menschlicher und Umgang mit Drogenabhängigkeit aussehen? Was schafft zusätzliche Probleme, was mindert sie? Alfred Springer bringt seine jahrzehntelange Spezialisierung auf diesen Themenbereich ein und verknüpft medizinische, rechtliche, therapeutische und sozialarbeiterische Gesichtspunkte in seinem Vortrag zu Drogenkonsum und dem Ansatz der harm reduction, der Schadensbegrenzung.

Audio-File zum Reinhören oder Runterladen: (31min, mp3, 8,4MB)



Zum Audio-File. Bild: Kurt Michel / pixelio.de   Kann der vorgestellte Ansatz der Schadensbegrenzung ein sinnvoller Umgang der Gesellschaft mit Drogenkonsum sein? Der Zugang zu sauberen Mitteln und Räumen erhöht die Überlebenschancen der jeweiligen Menschen enorm, und entlastet gleichzeitig die Gesellschaft (von Unanehmlichkeiten im öffentlichen Raum, von Krankenversorgungskosten, von Beschaffungskriminalität und internationalen kriminellen Handelsstrukturen). Und wenn es in jeder Gesellschaft - unabhängig von der Gesetzeslage - einen kleinen Anteil an Drogensüchtigen gibt: können wir vielleicht lernen, damit zu leben? oder ist das der falsche Weg? Diskussionsauschnitte aus der Lehrveranstaltung dazu mit Alfred Springer:

Audio-File zum Reinhören oder Runterladen: (43 min, mp3, 12MB)




Rahmenbedingungen verändern           anderer Rahmen. Gabi Schönemann / pixelio.de

Ein anderer Rahmen



Welche Wege könnte es noch geben, um das Entstehen oder Eskalieren problematischer Situationen zu verhindern, und damit auch das Hineinrutschen in eine Straflogik zu vermeiden?

Die Veränderung von Strukturen und Rahmenbedingungen innerhalb eines Systems könnte hier weitere Perspektiven eröffnen. Die Einführung eines guten Sozialsystems und einer halbwegs gleichmäßigen Einkommensverteilung etwa sind sinnvolle Ansätze, um soziale Menschenrechte zu sichern und darüber hinaus Gewalttaten, die aus Not und materieller Ungleichheit entstehen, hintanzuhalten.

Ein weiteres Beispiel, das ich in diesem Zusammenhang anführen möchte, betrifft den Bereich Lernen, Erziehung und Schule. Auch hier spielen Ideen von Pflicht und Notwendigkeit, von Dazu-bringen-müssen und letztlich von Disziplinierung und Strafe derzeit noch eine große Rolle. Vielleicht geht es auch anders?

Manche Schulen haben einen Rahmen entwickelt, in dem Kinder jeweils dem Impuls folgen können, der gerade in ihnen ist, und daher alle Kinder lesen, schlafen, reden oder herumlaufen können wie sie wollen ohne dadurch andere zu stören. Damit entfällt einer der Hauptgründe für Ermahnungen und Strafen - das Stören im Unterricht. Denn Unterricht, in dem alle Kinder still sitzen müssen und keins raus gehen darf gibt es dann nicht mehr.

Statt dessen bestimmen die Kinder selbst, wann sie wo hingehen und womit sie sich beschäftigen. Kinder, die rumtoben wollen können das draußen tun, während andere still im Mathematikbereich tüfteln oder sich in der Rollenspielecke verkleiden. Da sie immer den Interessen des Moments nachgehen können, sind sie mit voller Aufmerksamkeit bei der Sache - was natürlich die Lernfähigkeit enorm erhöht. Die Erwachsenen unterstützen und erklären auf Anfrage hin Materialien, "unterrichten" aber nicht.


Die Grundideen dieses Ansatzes wurden schon vor 100 Jahren von Maria Montessori entwickelt, und heute bewegen sich die Regelschulen langsam in Richtung dieses vom Unterrichtsministeriums empfohlenen Ansatzes.


Verschiedene freie Schulen setzen diesen Zugang schon heute mit Vorreiterfunktion in weitreichendem Maße um. Die Lernwerkstatt Pottenbrunn in Niederösterreich ist ein erfolgreiches Beispiel dafür. Aufbauend auf den Zugängen von Jean Piaget, Maria Montessori und Rebecca und Mauricio Wild bietet diese Schule viele unterschiedliche Räume, in denen Spiel- und Lernmaterialien auf derzeit ungefähr 100 Kinder warten. Die freie Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder und ihre Fähigkeit, eigene Interessen auszubilden und diesen nachzugehen, stehen dabei im Mittelpunkt. Kinder lernen neben dem üblichen Grundschulstoff nicht nur das Einhalten, sondern auch das gemeinsame Herstellen von Regeln, gelebte Demokratie, Selbstbestimmung und das Finden des eigenen Beitrags zu einem freundlichen, verantwortungsvollen Miteinander.


Der vom Unterrichtsministerium approbierte Lehrplan lässt den Kindern genug Flexibilität, ihre Fähigkeiten und Spezialinteressen in der jeweils für sie passenden Phase zu entfalten. Wer nach dem Pflichtschulabschluss weiterbildende Schulen oder die Universität besuchen möchte, kann sich in der Lernwerkstatt entsprechend fachlich vorbereiten. Bisher haben die AbsolventInnen der Lernwerkstatt die ganze Palette dieser Möglichkeiten genutzt.


Das heisst also:

Manche Situationen, in denen uns derzeit – auch beim besten Willen – nichts anderes einfällt, als zu disziplinieren und zu strafen entstehen möglicherweise gar nicht erst, wenn wir ein paar Schritte zurück machen und die Organisationsweise oder das System ändern, aus denen heraus diese Situationen bisher erwachsen sind.

Galt früher der Rohrstock in der Schule noch als legitim wenn nicht unverzichtbar, erfüllt uns die Vorstellung heute schon mit Schrecken. Manches, was uns heute noch als notwendiger Zwang erschient, ist vielleicht bald schon obsolet. Auch das System Schule ist mit beachtlichem Tempo in Richtung menschlicher, kinderfreundlicher, fröhlicher Gesellschaft unterwegs.



Zum Audio-File. Bild: Kurt Michel / pixelio.de   Grete Distelberger, Mitbegründerin der Lernwerksatt Pottenbrunn in Niederösterreich, und ihre Tochter Anna Distelberger, Absolventin der Lernwerkstatt, berichten aus der Praxis einer Schule mit anderem Rahmen.

Audio-File zum Reinhören oder Runterladen (28min, mp3, MB)




Literatur und Links:


  • o) Lernwerkstatt Pottenbrunn und Zeitung freigeist; www.lernwerkstatt.ws

  • o) Niederhof Gemeinschaft & Schule: www.niederhof.org

  • o) Ulrich Steenberg: Kinder kennen ihren Weg. Ein Wegweiser zur Montessori-Pädagogik.,

  •     Klemm & Oelschläger, Münster, Ulm 2003

  • o) Truchis, Chantal de: Zufriedene Kinder – gelassene Eltern: So lernt schon ihr Baby

  •     Selbstvertrauen und Sicherheit, Freiburg 2003 [orientiert an Emmi Pickler]

  • o) Wild, Rebeca: Erziehung zum Sein: Erfahrungsbericht einer aktiven Schule

  • o) Sudbury Valley School Press: Die Sudbury Valley School. Eine neue Sicht auf das Lernen.

  •     tologo verlag, Leipzig 2005



Kontrolle ist gut,
Vertrauen ist besser.




Zeithorizont: The Next Generation


Visionen brauchen einen weiten Zeithorizont.

Was uns heute noch nicht möglich ist, geht vielleicht in einer nächsten Generation, die schon anders aufgewachsen ist.

In ein- bis zweihundert Jahren werden Dinge möglich sein, von denen wir heute nur träumen können. So wie auch heute Dinge selbstverständlich sind (von elektrischem Licht bis zum allgemeinen Wahlrecht), die vor 200 Jahren nur ein Traum waren.

Wir legen heute die Samen für die Zukunft.


alt und jung. Rita Köhler / pixelio.de

Nächste Generationen leben Dinge, die heute noch unmöglich scheinen.






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