Teresa Wohlmann
Maria Hintersteiner

DIE EMOTIONSTHEORIE VON ROBERT PLUTCHIK



Die von dem amerikanischen Psychologen Robert Plutchik entwickelte psychoevolutionäre Emotionstheorie gehört zu den bekanntesten neueren Emotionstheorien. Er hat sie zwischen 1958 und 1980 ausgearbeitet und danach keine wesentlichen Veränderungen mehr vorgenommen. Er versuchte, seine Theorie systematisch auch in Form von Postulaten zusammenzufassen. Da Plutchiks Theorie große Ähnlichkeit mit der Instinkttheorie von Mc-Dougall aufweist, könnte man sie als vereinfachte Fassung der Theorie von Mc Dougall ansehen.
Plutchik nimmt an, daß Emotionen in der Phylogenese durch natürliche Selektion entstanden sind und somit eine genetische Grundlage haben. Er behauptet die Existenz von 8 primären Emotionen. Diese beruhen auf Mechanismen zu Verhaltensweisen, die zur Bewältigung von "grundlegenden Anpassungsproblemen" (Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung, Schutz vor Feinden) entstanden sind.

Die wichtigsten Postulate der Emotionstheorie von Plutschik
(nach Plutschik, 1980a 1993)


  1. Emotionen haben eine genetische Grundlage.
  2. Emotionen sind grundlegende Formen der Anpassung, die in der einen oder anderen Form auf allen Stufen der phylogenetischen Leiter identifiziert werden können.
  3. Emotionen sind komplexe Ketten von Reaktionen mit stabilisierenden Rückmeldeschleifen, die eine gewisse Art von Homöostase des Verhaltens herstellen.
  4. Es gibt acht grundlegende oder primäre Emotionen
  5. Die Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den primären Emotionen können in einem dreidimensionalen strukturellen Modell dargestellt werden.
  6. Alle anderen Emotionen sind Mischungen oder Kombinationen der primären Emotionen.

Seine Emotionsdefinition lautet in einem Satz:
"Eine Emotion ist eine erschlossene komplexe Abfolge von Reaktionen auf einen Reiz; sie umfaßt kognitive Bewertungen, Veränderungen im subjektiven Erleben, Aktivierung des autonomen und zentralen Nervensystems, Handlungsimpulse sowie Verhalten, welches dazu bestimmt ist, auf denjenigen Reiz einzuwirken, der die komplexe Sequenz ausgelöst hat."
(Plutschik, 1984, S.217)

Die Abfolge von psychischen und körperlichen Zuständen stellt Plutchik als sequentielles Modell dar. Der erste Schritt der Reaktionssequenz Emotion besteht in der Bewertung der wahrgenommenen Reize hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Wohlergehen des Individuums. Bei Wahrnehmung eine Aggressors z.B. kommt es zur kognitiven Einschätzung "Gefahr".
Die kognitive Einschätzung löst im nächsten Schritt Gefühle aus (hier z.B. Furcht) sowie emotionsspezifische physiologische Reationen (im Fall von Furcht z.B. eine erhöhte Aktivität des autonomen Nervensystems).
Die emotionsspezifischen Handlungsimpulse (z.B. der Impuls davonzulaufen) verursachen bestimmte Handlungen, die ihrerseits bestimmte Auswirkungen auf die Situation haben können (z.B. Schutz vor Bedrohung). Diese Auswirkungen können die emotionsauslösende Situation und als Folge davon die verschiedenen Komponenten der Emotion über Rückkoppelungsschleifen verändern, sodaß ein Gleichgewichtszustand zwischen Person und Situation wiederhergestellt wird.

Primäre Emotionen

Maßgeblich für die Erstellung eines Konzeptes primärer Emotionen ist für Plutchik die Überlegung, daß Emotionen als psychologische Prozesse bzw. Reaktionssequenzen auf ererbten Dispositionen zu fundamentalen adaptiven Verhaltensweisen beruhen. Er postuliert 8 Verhaltensweisen, die biologischen Funktionen entsprechen. Jeder der adaptiven Verhaltensweisen ist eine primäre Emotion zugeordnet:

1. Sich schützen – Furcht
2. Zerstören - Ärger
3. Sich fortpflanzen - Freude
4. Reintegrieren - Traurigkeit
5. Einverleiben, Akzeptieren - Vertrauen
6. Zurückweisen - Ekel
7. Erkunden - Erwarten
8. Sich orientieren - Überraschung

In Weiterverarbeitung unter dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit und Gegensätzlichkeit ihrer Qualität ordnet Plutchik die 8 primären Emotionen in einem Kreismodell an, wobei Emotionen, die einander ähnlich sind, nebeneinander, Emotionen mit gegensätzlicher Qualität einander gegenüberliegen. Zu diesem zweidimensionalen Modell kommt als dritte Dimension noch die Intensität von Emotionen hinzu, sodaß das resultierende strukturelle Modell einer halbierten Orange ähnelt: Je intensiver die Emotion, desto weiter oben auf der vertikalen Intensitätsdimension – je geringer die Intensität, desto geringer der Unterschied zwischen den Emotionen und desto weiter unten die Anordnung.

Sekundäre Emotionen

Immer dann, wenn die Bewertung eines Ereignisses oder Reizes in mehr als einer emotionsspezifischen Einschätzung resultiert, treten zwei oder mehrere Primäremotionen gleichzeitig auf und es kommt zu komplexen, sekundären Emotionen, die je nach Ähnlichkeit der beteiligten Primäremotionen entweder als Dyaden oder als Triaden erscheinen. Danach ergeben unmittelbar benachbarte Primäremotionen primäre Dyaden(Freude und Akzeptieren ergeben Liebe). Mischungen von zwei durch eine dazwischenliegende Emotion getrennte Primäremotionen ergeben sekundäre Dyaden (Ärger und Freude ergeben Stolz) und Kombinationen von Primäremotionen, die durch zwei dazwischenliegende Emotionen voneinander getrennt sind, also relativ unähnlich sind, ergeben tertiäre Dyaden .(z.B. Scham aus der Synthese von Furcht und Ekel).
Treten schließlich entgegengesetzte primäre Emotionen gleichzeitig auf (Konflikt!)(z.B.: Ärger: Angriff und Furcht: Fluchttendenz), können sie sich, sofern sie gleich stark sind, gegenseitig "hemmen oder neutralisieren"und es kann zu einer Immobilisierung des Handelns kommen.
 
 

KRITIK DER GRUNDANNAHMEN DER BASISEMOTIONSTHEORIEN

Die Annahme: Eine Teilmenge der Emotionen, die Primär- oder Basisemotionen, seien biologisch und psychologisch grundlegend, ist die zentrale These von zumindest einer bedeutsamen Gruppe evolutionspsychologisch orientierter Emotionstheorien.
Im Folgenden die wichtigsten Kritikpunkte gegen die 2 Grundannahmen der Basisemotionstheorien unter bevorzugter Berücksichtigung der Theorien von Mc Dougall und Plutchik:
Es gibt zwischen den einzelnen Theoretikern erhebliche Unterschiede in Bezug auf Anzahl und Identität der Basisemotionen sowie der Kriterien, die eine Emotion erfüllen muß, um zu den Basisemotionen gerechnet zu werden.
Die Tatsache, daß bisher keine allgemeine Übereinstimmung in Bezug auf die Identität der Basisemotionen erzielt wurde, mag zwar skeptisch stimmen, beweist aber nicht, daß es keine Basisemotionen gibt, die nicht durch weitere Forschung bestätigt werden könnten. Darüber hinaus könnte die unterschiedliche Namensgebung für ein und dieselbe Primäremotion eine Teilschuld an den Abweichungen tragen. Weiters führen verschiedene Autoren unterschiedliche Kriterien zur Klassifikation einer Emotion als biologisch grundlegend an:
Zur Erhärtung empirischer Evidenz müßte man mindestens nachweisen, daß die entsprechenden Emotionen tatsächlich durch die postulierten, emotionspezifischen Aspekte oder Komponenten charakterisiert sind, wie sie insbesondere emotionsspezifische Muster peripher-physiologischer Veränderungen, spezifische Handlungstendenzen, spezifische Gefühle und emotionsspezifische Auslöser oder etwa auch emotionsspezifische Gesichtsausdrücke oder sogar zentralnervöse Veränderungen darstellen.
Im Folgenden eine kurze Übersicht über die postulierten Funktionen und die relevanten Befunde:
Die relativ überzeugendsten Belege liegen bisher für die Emotionsspezifität des mimischen Ausdrucks vor, jedoch legen theoretische Überlegungen und empirische Befunde nahe, daß emotionale Gesichtsausdrücke weniger eng mit Emotionen verbunden sind, als man laut evolutionspsycholgischer Theorien erwarten sollte, denn emotionale Gesichtausdrücke können auch in Abwesenheit der jeweiligen Emotion auftreten, während sie in Anwesenheit der Emotion häufig fehlen.
Die Befunde zur Existenz emotionsspezifischer peripher-physiologischer Veränderungen sind zu einem großen Teil widersprüchlich und teilweise nicht repliziert.
Daß einige Emotionen mehr oder weniger regelmäßig mit bestimmten Handlungsimpulsen verbunden sind ( z.B. Furcht – Flucht, Ärger – Impuls, Gegner zu schädigen), ist plausibel, die Alltagserfahrung und einige empirische Befunde weisen aber darauf hin, daß der Zusammenhang zwischen Emotionen und Handlungstendenzen nicht so eng ist, wie Mc Dougall und Plutchik das annehmen . Z.B. kann vermutlich ein und dieselbe Emotion in unterschiedlichen Situationen zusammen mit unterschiedlichen Handlungstendenzen auftreten (Beispiel: Furcht – Flucht oder sich verstecken oder sich totstellen oder sich durch einen Angriff verteidigen). Umgekehrt können dieselben Handlungen und Handlungsimpulse je nach Situation auch bei unterschiedlichen Emotionen auftreten (man kann z.B. aus Furcht oder Wut angreifen).
Zur Diskussion um das Gefühlserleben schließen die Autoren, daß die postulierte körperliche Grundlage hinfällig wäre, wenn peripher-physiologische Veränderungen weitgehend emotionsunspezifisch sein sollten.
Die Einschätzung, daß unterschiedliche Basisemotionen durch unterschiedliche Muster von Situationseinschätzungen charakterisiert sind, findet sich bei Plutchik, in abgeschwächter Form bei Mc Dougall und konnte in den letzten Jahren in zahlreichen intrakulturellen sowie einigen interkulturellen Untersuchungen bestätigt werden.
Zur Behauptung der biologischen Funktion der Basisemotionen im Sinne der Effektivität, bestimmte wiederkehrende Anpassungsprobleme zu lösen, gibt es sehr wenig empirische Untermauerung oder Versuche dazu. Es wird statt dessen zumeist auf die "Augenscheinfunktionalität" vertraut.(Für Ekel, Überraschung und Furcht ist ein denkbarer biologischer Nutzen leicht zu finden, für Trauer und Freude nicht so offensichtlich).
Daher erhebt sich die Forderung, den Augenschein durch unabhängige Evidenz zu erhärten.

Sind Basisemotionen psychologisch grundlegend?

Die Annahme der Emotionstheoretiker, Basisemotionen wie Ärger, Furcht oder Ekel seien durch ein emotionsspezifisches, nicht weiter analysierbares Gefühl gekennzeichnet, läßt sich wahrscheinlich nicht halten, da die angeblichen Basisgefühle bestimmte Gefühlskomponenten teilen. Darauf haben die Introspektionisten der Jahrhundertwende schon hingewiesen; überdies sind die meisten Emotionen entweder lustvoll oder unlustvoll, haben also gemeinsame Komponenten. Dementsprechend könnten die meisten Basisefühle aber als Varianten der noch grundlegenderen Gefühle Lust und Unlust aufgefaßt werden. Diese alternative (Basis-)Emotionstheorie wurde und wird bis heute von verschiedenen Theoretikern vertreten.

Die Herleitung der Sekundäremotionen von den Primäremotionen zerfällt in zwei unterschiedliche Theorien:
1. Sekundäremotionen beruhen auf Komplexen oder Mischungen von zwei oder mehreren Primäremotionen (sie wird in ihrer Ausschließlichkeit insbesondere von Plutchik vertreten)
2. Sekundäremotionen beruhen auf einer oder mehreren Primäremotionen plus weiteren Komponenten, insbesondere bestimmten bewertenden Kognitionen über die auslösende Situation. Genauer: Ein unanalysierbares Basisgefühl und eine bestimmte Situationseinschätzung, welche das Basisgefühl verursachte (z.B. Traurigkeit und Einschätzung, einer andern Person sei ein Leid geschehen, würde im sekundären Gefühl "Mitleid" resultieren).

Bisher konnten keine überzeugenden Belege für die Theorie, daß die postulierten Primäremotionen die Grundlage für die übrigen Emotionen abgeben, vorgelegt werden. Darüber hinaus lassen sich intuitiv gegen jede existierende Analyse von Sekundäremotionen Gegenbeispiele bringen. Da aber die Methodik der Untersuchung sowie die Einschränkung auf nur einige bestimmte Basisemotionstheorien die Resultate beeinträchtigt haben könnten, bleibt zumindest theoretisch die Möglichkeit einer späteren überzeugenderen Beweisführung.
 
 

MODERNE EVOLUTIONÄRE PSYCHOLOGIE

Schon Mc Dougall hatte die Schaffung einer "Evolutionären Psychologie" gefordert, welche die Grundlage der Sozialwissenschaften darstellen solle. Ihre Aufgabe besteht nach Mc Dougall darin, die Evolutionstheorie Darwins auf den Bereich des Psychischen anzuwenden. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, stimmt die moderne Evolutionäre Psychologie in Bezug auf ihre Grundannahmen und Ziele weitgehend mit Mc Dougalls Intentionen überein.

Grundannahmen, Ziele und Methoden der modernen Evolutionären Psychologie

Grundlegende Annahmen:
Die Evolutionäre Psychologie versteht sich nicht als Teildisziplin der Psychologie sondern als theoretisches Paradigma, das bedeutet: eine bestimmte Sichtweise der menschlichen Psyche und eine sich daraus ergebende theoretische und methodische Herangehensweise an die Probleme der unterschiedlichen psychologischen Teildisziplinen.
Dieses Paradigma begreift sich als Alternative zu der seit den 20-er Jahren bis in die 70-er Jahre dominierenden Ansicht, daß die Architektur der menschlichen Psyche zur Hauptsache aus einigen wenigen, bereichsunspezifischen Allzweckmechanismen bestehe. Die moderne Evolutionäre Psychologie schließt an die ältere Sichtweise der Pysche an, die von Mc Dougall und anderen Instinkttheoretikern der Jahrhundertwernde vertreten wurde. Sie nimmt an, daß die in der Evolution entstandene Architektur der menschlichen Psyche voll von spezialisierten Schaltkreisen und Steuerungsmechanismen ist, welche die Art und Weise lenken, wie wir Erfahrungen interpretieren, Wissen erwerben und Entscheidungen fällen.
Es gab in der evolutionären Geschichte des Menschen für das Individuum über Generationen hinweg immer wieder auftretende Probleme, deren Lösung einen Anpassungsvorteil brachte. Zur Bewältigung dieser zahlreichen Anpassungsprobleme haben sich durch natürliche Selektion entsprechend viele verschiedene, bereichsspezifische, sogenannte "evolutionäre psychische Mechanismen" ("EP-Mechanismen") herausgebildet.

Ein EP-Mechanismus ist eine informationsverarbeitende Struktur oder ein Programm, für das gilt:

  1. Ein EP-Mechanismus löste im Lauf der evolutionären Geschichte ein spezifisches Problem des individuellen Überlebens oder der Reproduktion
  2. Er akzeptiert nur bestimmte Klassen von Eingangsinformation, (wobei der Input entweder extern oder intern sein kann, aus der Umbebung aktiv extrahiert oder passiv empfangen sein kann) und teilt dem Organismus mit, welchem besonderen adaptiven Problem er gegenübersteht
  3. Er verarbeitet diese Information mit Hilfe einer Entscheidungsregel in Output, welcher Eingangsinformation für andere EP-Mechanismen darstellt (physiologische Vorgänge reguliert oder sichtbares Handeln erzeugt) und damit ein bestimmtes adaptives Problem löst
Zugunsten des evolutionspsychologischen Paradigmas der dichtmodularen Architektur der menschlichen Psyche werden 2 Arten von Argumenten vorgebracht:

-) Die Beschränkung auf nur einige wenige Allzweckmechanismen hätten zur effizienten Lösung der meisten adaptiven Probleme nicht gereicht. Verschiedene Informationsverarbeitungsprobleme haben gewöhnlich verschiedene Lösungen, und die Umsetzung dieser Lösungen erfordert voneinander verschiedene, auf die jeweilige Funktion spezialisierte Mechanismen. (Vergleich der Architektur der menschlichen Psyche mit einem Schweizer Taschenmesser, dessen Nützlichkeit darauf beruht, daß es eine große Anzahl von Komponenten hat, von denen eine jede gut zur Lösung eines unterschiedlichen Problems geeignet ist.)
-) Das zweite Argument lautet: Die Auffassung, die Psyche bestehe aus einigen wenigen Allzweckmechanismen erweist sich in den letzten Jahren empirisch als zunehmend problematisch, dagegen häufen sich die Befunde, die für eine mehr oder weniger starke Bereichsspezifität psychischer Mechanismen sprechen.

Ziele und Methoden der Evolutionären Psychologie:

Das zentrale Anliegen der Evolutionären Psychologie besteht darin, die in der Evolution entstandenen EP-Mechanismen zu identifizieren und ihre Funktionsweise aufzuklären; "sie erforscht die durch natürliche Selektion entstandenen ‚Konstruktionsmerkmale‘ derjenigen Mechanismen, die Verhalten kontrollieren."
Zur Lösung dieser Aufgabe ist es notwendig, zu untersuchen, welche konkreten Anpassungsprobleme in der evolutionären Geschichte des Menschen existierten und zu überlegen, in welcher Weise bzw. durch welche EP-Mechanismen sie gelöst worden sein könnten. Die konkrete Fragestellung lautet also: Welche biologische Funktion könnte dieses Verhalten bzw. der ihm zu Grunde liegende Mechanismus haben?
Die funktionelle Betrachtungsweise ist wesentlich für die Evolutionäre Psychologie: Es wird untersucht, welche Funktion ein Merkmal hat bzw. aufgrund welcher Wirkung es gegenüber Alternativen selektiert wurde.
Zum Nachweis, daß ein in Frage stehender psychischer Mechanismus ein EP-Mechanismus ist, muß gezeigt werden, daß dieser Mechanismus zur Bewältigung eines Anpassungsproblems entstanden ist. Starke Hinweise darauf stellen folgende Merkmale dar:

1. Der in Frage stehend Mechanismus tritt speziesweit (beim Menschen: interkulturell) auf
2. Es gibt ein Anpassungsproblem, das dieser Mechanismus löst, und er löst es besonders effizient
3. Seine Existenz kann nicht besser durch die Annahme erklärt werden, daß er ein Nebenprodukt einer anderen Anpassung oder eine zufällige Entwicklung darstellt.
 
 

EINE ILLUSTRATION NEUERER EVOLUTIONSPSYCHOLOGISCHER FORSCHUNG:
DIE ANALYSE SEXUELLER EIFERSUCHT

Die Evolutionäre Psychologie ist keineswegs auf die Erforschung der den Emotionen zu Grunde liegenden EP-Mechanismen beschränkt, doch sind Emotionen Musterbeispiele von EP-Mechanismen.
Es finden sich zwar bislang nur wenige Arbeiten, die auf der Grundlage einer evolutionspsychologischen Analyse von Emotionen spezifische Hypothesen abgeleitet und einer empirischen Überprüfung unterzogen haben, zum Thema geschlechtsspezifischer Unterschiede in Bezug auf die Auslöser von Eifersucht liegen allerdings schon eine ganze Reihe von relevanten Arbeiten mit gut replizierten Ergebnissen vor.
Anhand dieser Arbeiten sollen im Folgenden mögliche Fragestellungen, Hypothesen und empirische Überprüfungen einer modernen Evolutionspsychologie der Emotionen illustriert werden.

Eifersucht ist (nach Daly, Wilson und Weghorst:1982) ein emotionaler Zustand, "der durch die wahrgenommene Bedrohung einer wertgeschätzten Beziehung oder Position (durch einen Rivalen oder eine Rivalin) ausgelöst wird und Verhalten motiviert, das darauf abzielt, dieser Bedrohung entgegenzuwirken. Eifersucht ist ‚sexuell‘, wenn die wertgeschätzte Beziehung sexueller Natur ist".
Im Gegensatz zu den früher erwähnten Basisemotionstheoretikern sind einige gegenwärtige evolutionspsychologisch orientierte Autoren der Ansicht, daß Eifersucht durchaus zu den primären Emotionen gerechnet werden sollte. Für diese Auffassung läßt sich zunächst ins Feld führen,

  1. daß sexuelle Eifersucht als emotionale Reaktion auf ein spezifisches, wiederkehrendes Anpassungsproblem betrachtet werden kann
  2. daß sexuelle Eifersucht in allen bekannten Kulturen sowohl bei Männern als auch bei Frauen auftritt
  3. daß Eifersucht gravierende Verhaltenskonsequenzen haben kann (Mord und Totschlag)
Unmittelbarer Auslöser von Eifersucht ist die Kognition, daß die Beziehung zum Sexualpartner oder zur Sexualpartnerin durch eine dritte Person bedroht ist. Die Situationseinschätzung "Bedrohung der Beziehung" kann durch die verschiedenartigsten wahrgenommenen oder vermuteten Ereignisse und Sachverhalte verursacht werden, die als Bedrohung der partnerschaftlichen Beziehung interpretiert werden können und als situative Auslöser fungieren. Die situativen Auslöser aktivieren einen "spezifischen Operationsmodus der Psyche", nämlich den "Eifersuchtsmodus", der die Voraussetzungen für Verhalten schafft, welches darauf abzielt, die wahrgenommene Bedrohung der Beziehung zu beseitigen. (z.B. werden physiologische Prozesse auf die Anwendung von Gewalt vorbereitet).
Dieser Mechanismus hat sich in der Evolution herausgebildet, weil er die Wahrscheinlichkeit des Überlebens und Wohlergehens der eigenen Kinder als Träger von Kopien der eigenen Gene erhöhte.
Auf dieser Grundlage haben mehrere Autoren die Hypothese aufgestellt, daß Eifersucht bei Männern und Frauen durch verschiedene Ereignisse bevorzugt ausgelöst wird: bei Männern durch die tatsächliche oder vermutete sexuelle Untreue, bei Frauen hingegen durch die tatsächliche oder vermutete emotionale Untreue (wobei mit emotionaler Untreue das Eingehen einer engen emotionalen Bindung des Partners oder der Partnerin zu einer andersgeschlechtlichen Person gemeint ist).
Die biologische Grundlage dafür ist der Tatbestand, daß die Befruchtung im Körper der Frau geschieht und Männer im Lauf der evolutionären Geschichte des Menschen mit einem fundamentalen Anpassungsproblem konfrontiert waren, das für Frauen nicht bestand: Unsicherheit über die Vaterschaft in Bezug auf die Kinder.
Aus der Perspektive des Mannes wäre die sexuelle Untreue der Frau seinem eigenen Reproduktionserfolg enorm abträglich, weil er möglicherweise seine Ressourcen in Vehikel(sprich Kinder) investiert, die nicht Träger seiner Gene sind.(frei nach Buunk zitiert)
Eifersüchtige Männer hätten demnach eine höhere Chance gehabt, ihre Ressourcen in ihre eigenen Kinder als genetische Vehikel zu investieren und dadurch ihre Gene über Generationen hinweg zu vermehren als nicht eifersüchtige Männer.
Für die positive Selektion von Frauen, die auf die emotionale Untreue ihres Partners mit Eifersucht reagieren, spricht der Umstand, daß zwar die sexuelle Untreue des Mannes für sich genommen ihren Reproduktionserfolg nicht in Frage stellt, dies aber nur solange nicht, wie der Mann weiterhin Sexualpartner der Frau bleibt und sich um ihre Nachkommenschaft kümmert. Sobald er eine engere Beziehung zu einer anderen Frau mit der Konsequenz des Entzuges seiner Ressourcen (Aufmerksamkeit, Unterhalt, Schutz) in Hinblick auf die Kinder eingeht, würde dies die Wahrscheinlichkeit des Überlebens ihrer Kinder vermindern.
Hinweise darauf, daß diese von der Evolutionären Psychologie vorhergesagten Geschlechtsunterschiede wirklich existierten, fanden sich in einer Reihe von Untersuchungen aus den 70-er Jahren.
Die erste gezielte Überprüfung der evolutionspsychologischen Hypothese (Buss et alii, 1992) wurde an amerikanischen Studierenden durchgeführt. In Gedanken an eine gewünschte oder reale Liebesbeziehung sollten sie angeben, was sie "mehr bekümmern oder stärker aufbringen" würde: daß der Partner oder die Partnerin bei Interesse an einer anderen Person mit dieser Person (a) eine tiefe emotionale Beziehung zu dieser Person eingeht oder (b) Freude an leidenschaftlichem Geschlechtsverkehr mit der anderen Person hat. Die Antworthäufigkeiten für diese amerikanische Stichprobe sind in der erste Zeile von folgender Tabelle dargestellt.
 
Prozenthäufigkeiten von Frauen und Männern, die angeben, aufgrund emotionaler oder sexueller Untreue aufgebrachter zu sein
Frauen
Männer
Emotional
Sexuell
Emotional
Sexuell
Buss et al. (1992): Amerika
83
17
40
60
Buunk et al.(1996): Amerika
83
17
40
60
Holland
72
28
48
52
Deutschland
85
15
73
27

Für diese Divergenzen zwischen den einzelnen Ländern sind mehrere Erklärungen denkbar:
-) mangelnde Vergleichbarkeit der Stichproben
-) übersetzungsbedingte Unterschiede zwischen den vorgelegten Szenarien
-) kulturelle Unterschiede in den Einstellungen gegenüber Sexualität

Buss et al. (1992) überprüften die Hypothese geschlechtsspezifischer Unterschiede in Bezug auf die Auslöser sexueller Eifersucht noch in einer weiteren Studie, in der als Index für die Intensität der Eifersucht nicht subjektive Angaben, sondern physiologische Reaktionen verwendet wurden.

Männliche und weibliche Studierende hatten sich jeweils 3 Situationen intensiv vorzustellen:
-) Eine neutrale Situation
-) Sexuelle Untreue
-) Emotionale Untreue

Währenddessen wurde die elektrische Hautleitfähigkeit an der Hand der Personen gemessen (für die die Schweißdrüsenaktivität von besonderer Bedeutung ist).
Ergebnis: Bei Männern trat bei der Vorstellung sexueller Untreue der Partnerin eine signifikant größere Zunahme der Hautleitfähigkeit auf als bei der Vorstellung emotionaler Untreue, während sich für die Frauen der umgekehrte Befund ergab.
Der Autor will nun diese Ergebnisse überwiegend als Stütze für die zur Debatte stehende evolutionspsychologische Hypothese werten, meint aber, daß die Aussagekraft der Untersuchungen dadurch eingeschränkt würde, daß in diesen Studien ausschließlich hypothetische Situationen thematisiert wurden. Ob die ausgelösten Gefühle hinsichtlich Qualität und Intensität jedoch mit denen vergleichbar seien, die in entsprechenden Realsituationen auftreten, sei nicht sicher.
Ein weiterer Erklärungsansatz (Wiedermann und Allgeier, 1993) aus der Lern- bzw. Sozialisationstheorie wäre die nach Geschlechtern aufgrund ihrer Erziehung unterschiedene Valenz sexuellen Erfolgs bzw. emotionaler Verbundenheit für die Partnerschaft. Für Frauen würde emotionale Untreue das von ihnen als bedeutsam erachtete Beziehungsziel in Frage stellen und demgemäß Eifersucht auslösen, für Männer aus diesem Grund sexuelle Untreue. In einer Untersuchung ergab sich zwischen den beiden Varianten eine negative Korrelation.
Einer 2. lern- bzw. sozialisationstheoretischen Alternativerklärung (DeSteno und Salovey 1996) zufolge sollen die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Antwortverhalten in den Untersuchungen von Buss und Buunk et al. darauf zurückzuführen sein, daß Frauen und Männer im Lauf ihrer Sozialisation unterschiedliche Überzeugungen über den Zusammenhang zwischen emotionaler und sexueller Untreue des Partners bzw. der Partnerin erworben haben. Männer neigen dazu, bei Vorliegen weiblicher sexueller Untreue auch auf emotionale Untreue zu schließen, Frauen scheinen eher immer dann, wenn Männer emotional untreu sind, sexuelle Untreue zu implizieren und darum eifersüchtig zu werden.

Zur empirischen Überprüfung dieser Erklärung legten DeSteno und Salovey (1996a) den Versuchspersonen das gleiche Szenario vor wie Buss (1992), zusätzlich zu der Entscheidung, aufgrund welcher der beiden Formen der Untreue man stärker aufgebracht wäre, hatten die Vpn jeweils auf einer 9-Punkte-Skala einzuschätzen,

  1. wie wahrscheinlich eine emotional untreue Person des anderen Geschlechts auch sexuell untreu sei
  2. wie wahrscheinlich eine sexuell untreue Person des anderen Geschlechts auch emotional untreu sei
In Übereinstimmung mit den Befunden von Buss und Buunk gab die überwiegende Mehrheit der Frauen an, aufgrund emotionaler Untreue des Partners stärker aufgebracht zu sein als aufgrund sexueller Untreue (75% vs. 25%), gleichzeitig hielten es die Frauen auch für wahrscheinlicher, daß ein emotional untreuer Mann auch sexuell untreu ist als umgekehrt. Von den Männern war im Vergleich zu den Frauen zwar ein größerer Prozentsatz aufgrund sexueller Untreue stärker aufgebracht, der Unterschied belief sich aber im Widerspruch zur evolutionstheoretischen Hypothese nur auf einen prozentuelles Verhältnis von 51% zu 49%. Gleichzeitig schätzten die Männer die Wahrscheinlichkeit, daß eine sexuell untreue Frau auch emotional untreu ist, genau so hoch ein wie die Wahrscheinlicheit, daß eine emotional untreue Frau auch sexuell untreu ist.

Kritik: Ethnisch-kulturelle Faktoren werden nach der Untersuchung von Buunk nicht mehr berücksichtigt.
 
 

Literaturverzeichnis:

Meyer, W.U., Schützwohl, A. & Reisenzein, R. (1997). Einführung in die Emotionspsychologie. Band II. Evolutionspsychologische Emotionstheorien. Verlag Hans Huber.