Tanz / Ritual -
Integrität und das Fremde

Copyright (C) Marianne Nürnberger 2001
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7. Teil


Allgemeine Schlußfolgerungen

Arten der Konfrontation. Tanz und Kulturwandel - Ein dreidimensionales Entwicklungsmodell.

 

 

Arten der Konfrontation

 

In einer Erweiterung der Gedanken von Tatlow (1994: 83-85) lässt sich illustrieren, auf welche Weise die künstlerische Konfrontation mit dem Fremden von grundlegenden Möglichkeiten der Funktionalisierung geprägt sein kann (143):

  1. Das Fremde kann als Fundus für neue und 'modische' Formen verwendet werden. Einzelne Elemente werden aus ihrem Kontext gerissen und dem Eigenen zweckgerichtet hinzugefügt und einverleibt, ohne das gesamte Gefüge der eigenen Kultur wesentlich zu verändern (sei es um den Tourismus zu fördern, sei es um Attraktivität durch Exotik und Neues zu erreichen oder aus anderen Gründen).

Siegel (1991:16) schreibt in diesem Zusammenhang über den Tanz:

 

Ich habe viel Platz in dieser Arbeit drauf verwendet, um zu zeigen, dass dies vielleicht in bestimmten Fällen den Erwartungen einer Mehrheit des Publikums entspricht, jedoch keinesfalls immer den Bemühungen der Tänzer, Choreographen und Direktoren gerecht wird, die sich sehr wohl auch über den 'rein künstlerischen' Rahmen hinaus um die Vermittlung von Wahrnehmungsalternativen bemüht haben.

 

  1. Die Begegnung mit dem Fremden kann zu einer Hinterfragung des persönlichen und gesellschaftlichen Selbst genützt werden. Die Hinwendung zum Fremden ist oft eine Flucht vor den eigenen sozialen und kulturellen Verhältnissen (Zivilisationsflucht ebenso wie Flucht vor dem postkolonialen Image der unterlegenen Kultur). Die künstlerische Hinwendung zum Fremden kann der Suche nach neuen und der sich verändernden Gesellschaft angepassteren Formen, Techniken und Inhalten dienen. Insgesamt taucht die Frage nach den Verantwortlichkeiten des Künstlers auf.

 

Wenn Fremdes in tänzerische Darstellungen miteinbezogen wird, ergibt sich daraus eine Palette von Verantwortlichkeiten, der selten voll Rechnung getragen wird. Steven Murillo (1983: 22) nennt drei essentielle Bereiche:

  1. Verantwortlichkeit gegenüber der Kultur, die die Quelle des tänzerischen Materials ist.
  2. Verantwortlichkeit gegenüber sich selbst, als Ethnologe und als Tänzer.
  3. Verantwortlichkeit gegenüber den Zusehern und der eigenen Kultur.

Murillo (ibid.: 23) diskutiert zu Punkt 1 als Bewertungskriterium einer Bühnenadaption die Erkennbarkeit der Tänze durch Angehörige der Quellenkultur. Dabei scheint die Weitergabe von Tänzen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen oft unproblematischer zu verlaufen, als eine Bühnenübertragung eines bestimmten Volkstanzes, selbst wenn diese durch Angehörige der Quellenkultur ausgeführt wird. In ähnliche Richtung weisen auch Untersuchungen zu Wandelprozessen räumlicher Deixis in Bühnenübertragungen durch Drid Williams (1996). Die Erkennbarkeit der Tänze wird nicht immer ein vertrauenswürdiges Kriterium in der Wahrnehmung der Verantwortung gegenüber der Quellenkultur sein. Es kann aber doch förderlich sein, sie im Auge zu behalten, um eine künstlerische Produktion in korrekter Weise durchzuführen (Murillo: op.cit.). Für Punkt 2 ist die Kenntnis darzustellenden Tänze aus erster Hand, also aus eigener Feldforschungserfahrung, ebenso unabdingbar wie die Beherrschung des Bühnenhandwerks, eben das Verständnis für die Gesetze der Bühne. Murillo (op. cit.) fügt hier noch die Bedeutung der unverwechselbaren künstlerischen Signatur der Bühneninterpretation hinzu. Das ist bei näherem Augenschein weniger ein moralisches Muss der Verantwortung als Bedingung nachhaltigen kommerziellen künstlerischen Erfolges im Westen.

Zu Punkt 3 bemerkt Murillo (1983:24), dass die Verantwortung gegenüber der eigenen Kultur die wichtigste und umfassendste ist. Ihre Wahrnehmung ist jedoch eng mit der Wahrung der Verantwortlichkeit gegenüber der Quellenkultur verbunden, denn:It is a responsibility to stand against cultural imperialism by representing cultures as independent, valid forms of human expression and endeavor, different from ours, but not subordinate. (ibid.) Jeder Choreograph oder Tänzer, der seinem Publikum einen Tanz aus einer anderen Kultur zeigt, prägt durch diese Darbietung alle ihm nachfolgenden Interpretationen, es sei denn diese beziehen neue Informationen ein, die durch einen erneuten Rückgriff auf das Quellenmaterial zu Tage gefördert wurden. Heute werden solche 'authentisierenden' Rückgriffe durch die internationale Präsenz erstklassiger Lehrer verschiedener ethnischer Tanz- formen, die ihr Wissen aus erster Hand erhalten haben, erleichtert und sind unter professionellen Choreographen und Tänzern, die ethnische Tänze in eine multikulturelle Arbeit einbeziehen, zum Standard geworden.

 

  1. Auch bei gutem Willen ist innerhalb von Kulturbetrieben in den allermeisten Fällen das Erkennen der ganzen Bandbreite des Fremden in Frage gestellt und müsste demzufolge die Begrenztheit des Zugangs auch öffentlich eingestanden werden. Der praktizierte selektive Zugang zum Fremden lässt große Teile der Kultur des Fremden unsichtbar werden.

 

Dieser Punkt bezieht sich beispielsweise auf die Beurteilung der Authentizität von fremden Werken, wie sie etwa im Rahmen von Kulturwochen und Tanzfestspielen gezeigt werden. Es wird zwar meist versucht, dem Zuseher durch Programmhefte und Flugzettel Hintergrundinformationen zu vermitteln, die jedoch oft in bedauerlicher Weise sehr beschränkt bleiben. Es werden so immer wieder unstatthafte Verkürzungen in den Erklärungen zu den einzelnen Stilen, deren gesellschaftlichen Kontext usw. vermittelt, die die Wahrnehmung der Zuseher präjudizieren statt informieren.

Tara Rajkumar wies 1983 im Academy of Indian Dance Seminar darauf hin, dass in Indien der Notwendigkeit einer fundierten Einführung in seine klassische Tanzkunst schon seit seiner frühesten Geschichte Anerkennung gezollt wurde. De facto ist das erste Kapitel des indischen Kompendiums über die Tanz- und Theaterkunst des Landes, Natyashastra, welches bereits um das 2. Jahrhundert n.u.Z. größtenteils vollendet war, dem Problem gewidmet, in welcher Weise der Zuseher am besten in die Kunstform eingeführt wird. Die Vermittlung des Verständnisses für die kulturspezifische thematische Verwendung des Körpers involviert die Tänzer und Tänzerinnen ebenso, wie ihr Publikum. Aus dieser Erkenntnis leiten englische Organisationen, wie die Academy of Indian Dance ihr Anliegen ab, nämlich ebenso kompetente Zuseher wie Akteure auszubilden.

Das Eingeständnis, das Siegel (1991:15) von ihren Kritikerkollegen fordert, nämlich jenes, keine Anthropologen zu sein, erscheint hier nicht genug: Anthropologen müssten in ganz selbstverständlicher Weise für die Erstellung von Hintergrundinformationen für alle Veranstaltungen die fremde Kulturen zeigen, herangezogen werden. Da gibt es zum einen das Problem der immensen Vielfalt, "die es in jeder Kultur gibt, selbst innerhalb eines scheinbar normativen Stils" (Siegel ibid.). Ein anderes Problem ist die hierarchische Wertung von 'hoher' und 'niederer' Kunst. Ein heute praktizierter Weg ist der, die Wertungen des Herkunftslandes zu übernehmen. Das bedeutet jedoch in vielen Fällen die unreflektierte Übernahme von Meinungen ganz bestimmter Personenkreise, entweder von Regierungs- kreisen oder Lokalgruppen oder bestimmten kunstpolitischen Eliten. Alltäglichere Tanzstile und Tänze werden so z.B. oft von vornherein von Subventionen und von Präsentationen im Ausland ausgeklammert, auch wenn sie besonderes künstlerisches oder anthropologisches oder anderweitiges Interesse verdienten.

Ein drittes Problem ist die Frage des Verhältnisses von Authentizität zu Alter und Kulturwandel. Siegel (ibid.) bemerkt dazu:

Jede Kultur ist ununterbrochen Veränderungen ausgesetzt und man findet gerade im außereuropäischen Raum Tanztraditionen von mehreren Jahrtausenden an Alter - und selbstverständlich mit einer entsprechenden Geschichte an Veränderungsprozessen. Es ist vor diesem Hintergrund sicherlich ein kluger Vorschlag Siegels (ibid.), anstatt über Zerstörung und Zerfall von etwas Statischem über Prozesse zu sprechen. Doch wies steht es mit ihrem kühnen Folgesatz "Alles ist authentisch"? Ich hoffe durch das noch zu Sagende hier einen differenzierteren Zugang zu ermöglichen.

Vorerst sei festgehalten, dass durch verschiedene ungerechtfertigte Selektionsprozesse Teile fremder Kulturen systematisch unsichtbar gemacht werden. Zu diesen zählen auf dem Gebiet des Tanzes vor allem jene Bereiche, die nicht dem Theatertanz zugerechnet werden, wie Gemeinschaftstänze, ritueller Tanz, traditionelle Heiltänze, usw. Ich habe deshalb gemeinsam mit und auf Anregung von Wolfgang Mey vom Museumsdienst Hamburg versucht, in einem innovativen Projekt srilankischen Ritualtanz und Beispiele moderner pädagogischer Anwendungen derselben Tanzkunst im Rahmen der Expo 2000 nach Hannover zu bringen. Wir wollten damit unter anderem eben auch solche 'unsichtbaren' Bereiche des außereuropäischen Tanzes im Rahmen eines Schwerpunktthemas 'Gesundheit' sichtbar und nachvollziehbar machen. Leider wurde ein solch unkonventioneller Zugang zu einer fremden Kultur von den verantwortlichen Organisatoren abgelehnt, obwohl im selben Schreiben der innovative Charakter des Projekts prinzipiell begrüßt und gewürdigt wurde.

 

  1. Besonders bei Nichterkennen des Fremden kann die Tendenz zu einer bloß projizierenden Selbstbegegnung vorherrschen. Eine echte Begegnung zwischen den Kulturen findet dann eigentlich nicht statt. Es kommt zu keiner Bereicherung oder Transformation des Selbst, sondern zu Selbstschutzmechanismen und einer Inkriminierung des Fremden. Das inkriminierte Fremde kann aber auch dazu dienen, etwas neues Eigenes zu erhöhen und durch die Kontrastierung wertvoller erscheinen zu lassen.

Abgesehen von den ohne weiteres nachvollziehbaren Fällen der präjudizierenden Inkriminierung wie ich sie etwa in den Abschnitten "Exotismus und andere Verzerrungen und Missverständnisse", "Primitivität, das Einfache, das Natürliche und das Fremde" und auch sonst immer wieder an geeigneter Stelle ausgeführt habe, beinhaltet natürlich auch die zuvor genannte 'Unsichtbarmachung' der Kultur der Fremden genau dieselbe Gefahr. Hierzu zählt die weitverbreitete Praxis der Ignorierung kultureller Ereignisse und Praktiken von ethnischen Minderheiten durch Presse und Subventionspolitik, seien diese Minderheiten nun Einheimische von 'naher' Fremdheit oder durch die Wirren der Politik und Geschichte zu uns verpflanzte Ausländer der 'fernen' Fremde. Das kommt letztlich der Leugnung der Kultur dieser Fremden gleich und erleichtert extremistischen, sogenannten 'nationalen' Bestrebungen eine Argumentation, die letztlich immer auf der vorgeblichen Minderwertigkeit gewisser anderer Volksgruppen aufbaut. Es ist deshalb von vorrangigem politischen Interesse, in demokratischen Gesellschaften Fragen über die Praxis der Multikulturalität zu stellen:

Die Leugnung der Kultur der Fremden wird auf der anderen Seite 'ergänzt' durch die gängigste moderne Form des Exotismus, den kommerziellen Tourismus, der in seinem Gefolge weltweit leider auch jene Art von Tourismuskultur hervorbringt, die den kulturellen Ausverkauf zu ihrem Programm erhoben hat, die Klischees produziert und am Leben erhält und in für die Reisenden wohltuender Weise deren finanziellen Aderlass schmückt. Dazu gehört natürlich der Schuhplattler des 'herzig' ausstaffierten 'Tirolers' ebenso wie die diversen außereuropäischen Hotelchoreographien vormals ritueller Tänze in den ihnen jeweils eigenen Kostümkarikaturen. Nur wenige Staaten bemühen sich um die Vorgabe von Richtlinien für Tourismuskunst. Geld zählt noch immer mehr als die planvolle Gestaltung der Wahrnehmung von Kultur.

Subtilere und multivalente Ausformungen des Problems sind ebenfalls in der vorliegenden Arbeit angesprochen worden: Duncan kontrastierte ihren Tanz zum Beispiel zu einem vermeintlichen 'afrikanischem Primitivismus' und strich dadurch die Spiritualität ihres tänzerischen Anliegens gegenüber der 'anstößigen' Sinnlichkeit der - wie sie glaubte - 'unzivilisierten' und 'profanen' afrikanischen Tänze heraus. Gleichzeitig erhöhte sie ihre Kunst durch die konstruierte Nähe zur Antike, die damals als 'Wiege der Kultur' gefeiert wurde, sowie zu klassischer, 'ernster' Musik und zu gefeierten Wissenschaftlern, Philosophen und Dichtern ihrer Zeit, wie Darwin, Haeckel, Whitman, Schopenhauer und Nietzsche. Nietzsches Konzept des 'Willens' und der 'Körperlichkeit der Seele' verband sie zu der ihr eigenen Form von Körperreligion (Daly 1995: 7, 16f., 31f., 34) .

Multikulturalität wird auch heute noch nur genau bis zu jenem Grad gerne gesehen, bis zu dem die eigenen Maßstäbe geltend gemacht werden können. So bleiben die uns bisher offerierten Gastspiele indischer, afrikanischer, südamerikanischer Tanzensembles, in erster Linie interessant für Ethnologen oder Enthusiasten. Die übrigen Zuseher werden selten über einen streng genommen bloß voyeuristischen Standpunkt hinausgelangen, und das ist für sie eine problematische Erfahrung, zumal sie mit ihrer eigenen Ignoranz konfrontiert werden. Viele reagieren darauf mit pauschalierenden Abwertungen und zitieren Klischees, um sich in bequeme Sichtweisen zurückziehen zu können. Auch deshalb wären zu solchen Gastspielen auf dem aktuellsten Stand der Forschung stehende Berichterstattungen über die Medien und fundierteste Informationen in Programmheften oder dergleichen so überaus notwendig. Eine verantwortungsbewusste Festivalkultur beschäftigt sich gründlich mit der jeweiligen Bewegungssprache, bietet ein intensives Studium der Kultur an, über Geschichte, Lebensbedingungen, Arbeits- und Lernbedingungen der Tänzer, über sozialen, psychologischen, therapeutischen, religiösen Kontext und über das Spannungsfeld des kulturellen Wandels, der politisch-ökonomischen Lage, etc. Spektakuläre Auftritte, wie jener der Don Kosaken in der populären Ed Sullivan Show des amerikanischen Fernsehens würden an Tiefe gewinnen, wäre das Publikum über die signifikanten Veränderungen in Tanztechnik und Kostümierung gegenüber der Quellenkultur zumindest rudimentär informiert (Murillo 1983:23f). Insbesondere müssen auch Hintergrundinformationen zu eventuell vorhandenen Spannungsbeziehungen zu anderen kulturellen Formen, beispielsweise westlich inspirierten Balletten im selben Land geboten werden. Kirchner (1991:23) nennt hierzu zwei Beispiele: die Beziehung der südafrikanischen Protestbewegung der Township-Tänze zu der Hochkultur des weißen Balletts und jene der kubanischen Folklore zur dominierenden Präsenz Alicia Alonsos im klassischen Ballett. Zu einer solchen Information können Rahmenprogramme, Workshops, Podiumsdiskussionen, Programmhefte und Begleitbroschüren ihren Beitrag leisten. Eine weitere, oft unterschätzte Möglichkeit ist die Einbeziehung von außereuropäischen Künstlern, die in Europa wohnen, wie dies Wangenheim (1989:60) vorschlägt. Sie schreibt zu diesem Thema (ibid.):

 

  1. Die Begegnung mit dem Fremden kann überschwemmend wirken und das Eigene in einem Ausmaß verdrängen, das bedrohlich für die Aufrechterhaltung der eigenen kultureller Kontinuität sein kann. Im Tanz kann sich das in einem Verlust an eigenkulturellen Bewegungsmerkmalen und in der Präsentation einer Ersatz- oder Pseudoidentität ausdrücken. Andererseits können die Zuseher von fremden Tanzkünsten auf die Erfahrung der Erschütterungen des eigenen Verständnisses mit Angst und Abwehr reagieren.

In der Auseinandersetzung mit den Bühnentanzformen des Westens tendieren moderne Tanztruppen aus nichtwestlichen Ländern bisweilen in bestürzender Weise dazu, ihre eigene Bewegungsidentität zu vernachlässigen ohne noch eine neue gewonnen zu haben. Dies wird z.B. von Merz (1996:37) anhand des Auftritts der Tumbuka Dance Company bei den Steps 96 in Zürich abgehandelt. Hier wie so oft scheint ein Versuch, der sich darauf beschränkt, das im Westen längst Übliche zu produzieren, in bescheidenen Anfängen und bei noch sehr unzulänglicher Beherrschung der Mittel stecken zu bleiben. Interessant ist, dass die genannte Truppe durch Presse und Kritik als Beispiel von Kreativität des neuen südlichen Afrika breit angekündigt wurde. Denn das bedeutet, dass Tanzkritiker dazu neigen können, Imitationen ihrer eigenen Kultur höher zu schätzen, als authentischere Darbietungen von Fremdem. Hier wie dort wird die Gefahr der Überschwemmung durch das Fremde und der Verlust der eigenen Identität thematisiert und illustriert: eine Tanztruppe wird Opfer des Ausgesetztwerdens gegenüber überschwemmenden Eindrücken des Fremden, während die Kritiker Opfer ihrer Immunisierungsstrategien gegenüber derselben Gefahr geworden sind.

Am 3. September 1990 hielt die Tanzautorin Marcia B. Siegel einen Vortrag 'Über Multikulturelles und Authentizität im Tanz' zum Abschluss der Jahreskonferenz des amerikanischen Tanzkritikerverbandes in Los Angeles. Sie problematisierte darin die oft geforderte Aufgabe des Kritikers Normen zu bewahren und sagte weiter:

Es sind solche Ängste, die eine direkte Annäherung an fremde Tanztraditionen verhindern können. Es besteht die Gefahr, dass der Zuseher auf die Erfahrung der eigenen Ignoranz mit Widerwillen gegen eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Fremden reagiert. Choreographen haben daher stets versucht, das Fremde mehr oder weniger sorgfältig - um mit Kirchners Worten zu sprechen - in den europäischen Kunstraster zu pressen. Sie schreibt zu diesem Thema:

Deutlicher noch als Siegel oder Kirchner behandelt Banes (1990) die Notwendigkeit einer Verbindung zwischen Tanzkritik und Tanzethnographie im multikulturellen Kontext. Auch Schechner (1990:23) hat auf die Notwendigkeit der Erweiterung des Vergleichs von technischen Aspekten hin zu dem ästhetischer Systeme hingewiesen.

Von einem Kunstkritiker ist jedoch idealerweise anderes und in gewissem Sinne mehr gefordert als unparteiische Aneinanderreihung von lexikalischem Wissen. Er muss der 'Übersetzer' sein, der laienhafteren Zusehern ein sinnhaftes Einordnen ihrer Erfahrung ermöglicht, das heißt, er muss sich und ihnen die Perspektive der eigenen Kultur bewusst halten.

Doch auch Kirchner (1991:21) billigt dem modernen Tanztheater einen gewissen Grad an Bewusstseinswandel zu, der, wie sie betont, in erster Linie durch ein Tanzpublikum ermöglicht wurde, dass eigene Körpererfahrungen, auch durch die mittlerweile mögliche praktische Beschäftigung mit T'ai Chi, mit afrikanischen Trancetänzen, Flamenco, Bauchtanz und indischen Meditationsübungen, gemacht hatte. Dabei ist Tanz oft Mittel zur Erforschung des Ich und des Seins geworden.

Einige der typischeren Hintergrundbedingungen einer gelungenen kreativen Neugestaltung aus der Begegnung mit dem Fremden sind zum einen oft relativ lange Assimilations- und Annäherungsprozesse, die der Kreation vorausgehen, zum anderen die Verwendung von klar nachvollziehbaren eigencharakteristischen Formen oder auch die deutliche Thematisierung aufeinanderprallender, nicht assimilierter Elemente des heutigen Lebens (Siegel 1991: 15; Kirchner 1991:21).

 

  1. Tanz ist im Rahmen interkultureller Prozesse nicht nur Kommunikation zwischen den Kulturen, sondern darüber hinaus auch Metakommunikation über die Art und Weise eben jener Kommunikation. 'Multikulturalismus' kann zum Decknamen für Diskriminierung fremder Kulturen im eigenen Land werden, wenn Interkulturalität systematisch unterdrückt wird. Die Wertschätzung der ehemals kolonisierten Kulturen durch die Kulturen der ehemaligen Aggressoren kann das Trauma der Kolonisation mildern helfen

 

Naturgemäß werden interkulturellen Prozesse in besonders direkter Weise im Bereich des Dramatischen, des Rituals und des Darstellenden öffentlich sichtbar. Performances dieser Art stellen nicht unbedingt die irrationale Seite einer Kultur dar, sondern beinhalten immer auch eine Verarbeitung objektiver Bedingungen und Veränderungen. Ich habe bereits mehrfach angedeutet, wie wichtig es in diesem Rahmen ist, künstlerische Intentionen offenzulegen: erstens, was gezeigt wird - also etwa ein Original oder ein Stück, das nur inspiriert ist durch ein Original und zweitens, warum es gezeigt wird - also etwa um das Verständnis einer fremden Kultur zu fördern oder um Angehörigen der eigenen Kultur Alternativen oder auch bloße Unterhaltung anzubieten. Nicht nur die Künstler sind hier ethisch gefordert, auch der ganze Verkaufsapparat, Gestalter der Programmhefte, der Publicity in der Presse, etc., sollten sich diesen grundlegenden Kriterien unterwerfen, um die Art der Metakommunikation ausgewogen und frei von Ausbeutung des Fremden zu halten. Fortschritte sind vor allem dort zu beobachten, wo der moderne westliche Vermarktungsapparat dahingehend wirkt, dass der nichtwestliche Künstler aus seiner Anonymität herausgehoben wird, nicht mehr als bloß rezeptiver Interpret ewig gleicher 'Traditionen' aufgefasst wird, sondern auch in seiner persönlichen Kreativität Würdigung erfährt.

Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass Entlehnungen auch im Rahmen eines ethischen Gefälles zwischen Kulturen stattfinden, welches Ergebnis eines politisch-ökonomischen Gefälles kolonialer Ausbeutung und Macht ist, und zwar insofern, als die Maßstäbe an die Art der Metakommunikation westlicher Kulturprovenienz härtere sein müssen, denn wir haben die Wunden geschaffen, die es zu heilen gilt. Eine Einverleibung westlicher Inhalte in die indische Kultur ist eine Antwort auf die Vergangenheit, in der die Umkehrung dieses Vorgangs die Regel war, in der indische Kultur als Befriedigung des Selbstwertgefühls von Europäern geduldet und in die europäische Kultur einverleibt wurde. Einverleibung von Fremden wird zu einem sozialpolitischen Akt (Nürnberger 1993a und 1998b), zu einem Prozess, der die Vergangenheit bewältigbar macht und die Zukunft in einem besseren Licht erscheinen lässt.

Zurecht wird das Schlagwort 'Multikulturalismus' von wissenschaftlicher Seite mit Misstrauen bedacht. Blacking (1986:17f) hat darauf hingewiesen, dass dieses Wort etwa in Südafrika zur Rechtfertigung von Segregation missbraucht wurde, in dem willentlichen Versuch, die Talente und die soziale Mobilität der Schwarzen zu unterdrücken. Anstatt die Angehörigen verschiedener Kulturen in einen Dialog zu bringen, wurden sie separat und auf ungleichem Niveau unterrichtet. Ich teile jedoch Blackings Auffassung nicht, dass verschiedene kulturspezifische Unterrichtssysteme generell nicht miteinander kombiniert werden können, weil ein Staat per se nur monokulturell sein kann. Angesichts der zunehmenden ethnischen Ghettobildung in den westlichen Großstädten erscheint diese Sichtweise als schlicht realitätsverleugnend. Ich habe in dieser Arbeit verschiedene Beispiele genannt, in denen theoretische Einblicke in die Kultur des Anderen durch ein direktes Erleben dieser Kultur in körperlicher künstlerischer Auseinandersetzung und unter Anwendung fremder Lehrmethoden ergänzt wurde. Anhand der breit dargelegten multikulturellen Praxis der tänzerischen Erziehung an englischen Schulen erklärt sich auch, wer die Nutznießer solcher Praktiken sind - nämlich alle Beteiligten. Die 'Fremden' vor allem indem sie näher gerückt werden und ihre Akzeptanz gesteigert wird und die 'Einheimischen' vor allem indem sie andere Möglichkeiten des integralen Seins erfahren und ihren Horizont erweiterten.

Der Themenkreis der partiellen Wiedergutmachung kultureller Schäden erscheint mir als wichtigster Leitgedanke zu Interkulturalität und als essentieller Lerninhalt, der nach der Kritik der Literatur-, Tanz- und Theaterwissenschaftler an den permanent fortgeführten, verdeckten Formen der Kolonisation noch erstrebenswert ist.

Yaya Diallo entstammt der westafrikanischen Kultur der Minianka und legte einen langen Weg bis zu seinem Abbruch einer vielversprechenden naturwissenschaftlichen Universitätskarriere in Kanada zurück, bevor er sich auf seine frühe Ausbildung und Berufung als afrikanischer Musiktherapeut besinnen konnte. Er schreibt über die Bedeutung, die eine neue Gattung von weißen Besuchern für sein Heimatdorf nun erlangt hat, Besucher, die kommen, um von ihm, seiner Mutter und seiner afrikanischen Heimatkultur zu lernen. Er schreibt, welch positiven Einfluss das auf seine Nachbarn, aber auch seine intellektuellen afrikanischen Freunde hat, die sich dadurch verpflichtet fühlen, ihre eigenen Kultur ebenfalls höher zu schätzen. Und er fährt fort:

Viele Schätze indigener Kulturen sind so wie die Tanz- und Musiktherapie der Minianka oder das große harmonisierende priesterliche Tanzritual des Hochlands von Sri Lanka vom Aussterben bedroht. Kulturelle Werte haben sich gemeinsam mit den ökonomischen Voraussetzungen verändert. Die Autorität der Alten wird in Bereichen der Kunst zumindest teilweise durch die Autorität ausländischer Stars ersetzt. Der Nachwuchs träumt von vollen Zuschauerrängen, von grellem Rampenlicht und von der Bewunderung durch gegengeschlechtliche Verehrer oder Verehrerinnen. Wenn sie erfolgreich sind, wenn sie Millioneneinnahmen machen, wird sie das immer mehr von der Autorität der alten Lehrmeister und Lehrmeisterinnen entfernen. Sie werden kein Interesse mehr an Lehren finden, deren Hauptinhalt etwa die Bedeutung der Selbstaufopferung für das Wohl der Gemeinschaft, für Kranke und Hilflose ist. Sie werden im allgemeinen die Bühne nicht mehr verlassen wollen, um mit Geistern, Göttern und Dämonen über die Harmonie in ihrem Heimatdorf zu verhandeln.

Gleichzeitig werden ironischerweise verschiedene Akkulturationsprodukte indigener Kulturen, wie etwa jene Tänze, die von verwestlichten Schwarzen als Reaktion auf weiße Kultur erfunden wurden (Diallo & Hall 1989:197), als originaler Ausdruck ganzer nicht-westlicher Nationen betrachtet. Einige Jahre der Kolonisation genügten, um Instrumente, Rhythmen, Harmonien, Melodien, Tänze von vielen Hunderten ethnischen Gruppen, von Jahrtausenden an Alter, an den Rand des Vergessens zu bringen. Diallo führt dazu aus:

In diesem Sinne ist es durchaus ethisch aus der Fremde zu entlehnen, wenn die zwei großen immanenten Chancen wahrgenommen und richtig benannt werden -
1.- eine Vielfalt authentischer Kulturen und auch bloße Teilaspekte davon zu pflegen und 2.- die eigene Kultur im Sinne einer lebendigen Integration des Fremden daran wachsen zu lassen.

 

 

Tanz und Kulturwandel - Ein dreidimensionales Entwicklungsmodell

Interaktivität der Genres quer durch Raum und Zeit. Ethik und Kulturpolitik.

 

Wenn wir interkulturelle Entstehungsprozesse von Tanzvorführungen im Detail betrachten, so fällt die Komplexität dieser Prozesse ins Auge. Zusätzlich zu den im vorangegangen Kapitel dargestellten Faktoren wird die Auseinandersetzung mit dem Fremden in der Regel durch Prozesse der Rückführung von in der Fremde eingeführten und transformierten Kulturbestandteilen in die eigene Kultur kompliziert. Darüber hinaus kommt es zu Rückwirkungen von Bühnenadaptionen auf die Volks- und Ritualtänze, die als Quellen herangezogen wurden (z.B.: Franken 1996:36; Nürnberger 1994:102, 137, 215; Schmiderer 1996:114, 122, 135f.). Die Kombination mehrerer der bereits genannten Prozesse in einer Kultur ist sehr wahrscheinlich. Die entstandenen Produkte haben dadurch indexikalischen Charakter nicht nur für die eigene Kultur, sondern verweisen auch auf Teilaspekte der am Produkt in irgendeiner Weise beteiligten Kulturen, insbesondere auf der zuvor schon angerissenen Ebene der kulturellen Metakommunikation: auf das Wie der Interaktion zwischen den Kulturen.

 

 

Interkulturelle Indexikalität von Tanz

 

Das psychophysische Gesamterlebnis einer Bewegungs-Performance verweist auf Anspruch, Freiheit, Beschränkung, sowie Orientierung einer Kultur, kann diese indexikalisch wiedergeben, aber auch kritisieren, weiterentwickeln oder neu definieren.

Was mag Maurice Dias Chitrasena, berühmtester SchülerLapaya Gurunnanses, gefühlt haben, als er in seiner späten Pubertät seine künstlerische Verwandtschaft mit Isadora Duncan entdeckte, die wie er bloßfüßig tanzte und - ähnlich den Ritualtänzern seiner Heimat - ihren Körper als ein Gefäß Gottes auffasste? Als derselbe Mann, als gereifter Künstler auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als populärster Bühnentänzer Sri Lankas, mit Martha Graham, der geheimnisvollen und archaischen Graham des "Appalachian Spring" persönlich zusammentraf? Als er für sie in seinem Haus in Colombo tanzte und sie ihn als ihresgleichen erkannte? Was bedeutet es, wenn sich 'vom Wind getrieben' die Geister der französischen Kolonisatoren, die Haukas ausbreiten, die von westafrikanischen Ritualtänzern verkörpert werden. Diese bedrohlich-komischen Geister inkarnieren sich unter verschiedenen ethnischen Lokalgruppen. Seit 1925 verbreiten sie sich vom Niger bis zur Goldküste, und sie zerstreuen sich bis heute immer weiter. - Ihr Wirken dringt über die Produkte von Filmschaffenden wie Jean Rouch und Ethnologen wie Paul Stoller bis nach Europa und Amerika (Stoller 1996: bes. 10 ff). Was bedeutet schließlich die in größerem Maß relevante Diaspora postkolonialer Kulturen, die afrikanische Diaspora in Süd- und Mittelamerika sowie in Frankreich, oder die südasiatische Diaspora in Großbritannien, für den körperbestimmenden Anteil des Fremden an einer Kultur, für diesen formenden, skulpturierenden, typisierenden, den im Zeitalter der globalen Vernetzung indentitätsnotwendigen Anteil an weitgereister Realität?

Dem Begriff der kulturellen Indexikalität von Kunst, Riten und Tanz haftet bislang etwas Missverständlich Statisches an. Die 'verstörenden' Bewegungsmuster des 'Anderen' werden alltäglich in ekstatischer Tanzerfahrung, privat, in Diskotheken, auf der Bühne und im Ritual körperlich eingefangen, gefiltert und abstrahiert durch die Verstärkungen der Fremdwahrnehmung. Diese persönlichkeits- und kulturbestimmten, politikgefärbten und ästhetischen Kriterien unterworfenen Filter funktionieren zumindest zum Teil dabei durchaus 'automatisiert', das heißt ganz direkt durch den Körper des Künstlers oder eines beliebigen 'darstellenden' menschlichen Mediums hindurch diktiert und bis zu einem bestimmten Grad unabhängig von rationalen oder willentlichen persönlichen Entscheidungen des Einzelnen.

Die 'Besessenheit', wie jene durch die Haukas, ist der vollkommendste Ausdruck dieses Prozesses: unter mehr oder weniger vollständiger Bewusstlosigkeit, bisweilen infolge hartnäckiger psychischer Widerstände auch unter der Begleiterscheinung nachfolgender Amnesie, dringen fremde motorische Anteil durch, die Stimmen verändern oder den Speichel vermehrt fließen lassen, die Wirbelsäule, Schultern, Gliedmaßen ausrichten und welche die 'fremden' Typen an Bewegungsmustern 'ablaufen' lassen, so dass 'man getanzt wird'. Gedanken schwinden, wenn man sich tänzerischen Bewegungsmustern ergibt (auch ohne amnesieartige Nachwirkungen) ganz von selbst. Das wird von zahlreichen Tanzaktiven bestätigt und das ist auch meine persönliche Erfahrung. Leicht kann da 'etwas' auf einen übergreifen, eine als numinos erlebte Kraft, die im Tänzer eine facettenreiche 'andere' Persönlichkeit entwickeln kann, die nicht mit der Alltagspersönlichkeit übereinstimmt, die vielmehr dem Alltagsbewusstsein unzugängliche Erfahrungen integriert, die etwas 'Fremdes', Machtvolles bedeutet und die fasziniert. Die große Faszination des Tanzes ist dieses transformierende Potential, dieses Sich-selbst-Überwindende.

Kultur besteht zu einem gewichtigen Anteil aus verkörperlichten Haltungen, die ihrerseits vielfältige Inhalte kommunizieren. Der Kommunikationsforscher Paul Watzlawick (1993:52) hat festgestellt, dass es unmöglich ist, in Gesellschaft nicht zu kommunizieren. Auch wenn man sich abwendet, signalisiert man seinem Gegenüber etwas. Man wird jedoch oft Missverständlich kommunizieren. Der Wahrnehmung von Diskrepanzen zwischen körperlicher und verbaler Nachricht kommt in der Deutung von Kommunikationsinhalten große Bedeutung zu. Gerade Formen körperlicher Mitteilungen unterliegen jedoch starken kulturellen Schwankungen. Der leicht gebeugte Rücken des höflichen chinesischen Gelehrten mag auf Angehörige westlicher Kulturen als wenig sympathische Unterwerfungsgeste wirken. Doch diese chinesische Haltung des 'kindly bent to ease you' will den Zuhörer entspannen und ihm das Zuhören erleichtern. Sie zeugt von Bescheidenheit, Reife und Überwindung des Erfahrungsstolzes. Und sie bedeutet, dass man seine Weisheit in den Dienst der Allgemeinheit stellt. Die aufrechte Haltung des europäischen Menschen will seine Integrität und Ehrlichkeit, seinen Stolz, Unbestechlichkeit, Gruppendisziplin und Willen kommunizieren, weniger jedoch Inhalte wie Militarismus, Selbstgerechtigkeit und Machtanspruch, die andere darin sehen könnten. Personen aus meinem Bekanntenkreis, die das Konzentrationslager Mauthausen überlebten, waren Zeit ihres restlichen Lebens von einem tiefen Misstrauen gegen allzu stramme Körperhaltungen geprägt. Die strammen Schultern der komisch-erschreckenden Haukas - obwohl dem deutsch-millitanten Habitus sehr ähnlich - bedeuten in ihrem spezifischen und andersartigen Kontext indes wieder etwas anderes, werden zu einem eigenen signifikanten und spezifisch ambivalenten Zeichen einer kolonial/anti-kolonialen Autorität und Entscheidungsgewalt (Stoller 1996).

Kommunikationsspezialisten sagen, dass exakte interkulturelle Kommunikation gerade wegen des Auftretens von nonverbalen kulturspezifischen Codes eher selten ist. Ein Mittel zur Kontrolle der Effizienz der Kommunikation stellt Metakommunikation dar, die sich als Kontrollmechanismus, der Aussagen über das Funktionieren der Kommunikation erlaubt, verschiedener Techniken bedient, welche Störfaktoren und Missverständnissen entgegenarbeiten. Zu ihnen gehört die Technik des "Feedback", der Rückkoppelung:

Dem könnte man hinzufügen, dass viele Menschen sich direkt gegen Rückmeldungen von anderen durch Immunisierungsstrategien abschirmen, wie dies im Kapitel "Arten der Konfrontation mit dem Fremden" thematisiert wurde.

Statt Annäherung an das Unbekannte durch verbale kommunikative und metakommunikative Prozesse kann, gerade wegen der damit verbundenen Gefahr der prekären emotionalen Geladenheit, auf eine mehr oder weniger ekstatische, mehr oder weniger mediale Verkörperung als eine andere Form der (Meta-)Kommunikation ausgewichen werden. Sie kann zum Beispiel, wie im Falle der Haukas, die Nachbearbeitung des durch Gewaltsamkeit hervorgerufenen, kolonialen Kommunikationsshocks bedeuten. Sie kann jedoch nach den Thesen des Kapitels "Arten der Konfrontation" nur dort kulturell integritätserhaltend funktionieren, wo ein Rapport mit Anteilen des Fremden tatsächlich erreicht wird. Dort wo die afrikanische Darstellung des kolonialen Habitus im medialen Besessenheitstanz (und im übrigen auch in Skulpturen) jene unübertreffliche Grenzqualität zwischen Ästhetik und Peinlichkeit für den westlichen Beobachter erreicht, von der Stoller (1996) so beredt spricht, muss von dem Funktionieren dieses Rapports ausgegangen werden. Die schockartige Erfahrung dieses 'second contact' findet letztlich statt, weil sich der westliche Beobachter als dargestellt empfindet, weil die Verzerrungen durch den Spiegel der fremden Sichtweise Charakteristika erhöhen, die er an sich selbst wiedererkennt.

Zur Stellung des Tanzes im Verhältnis zu Körperlichkeit und Kultur ist zu sagen, dass er sich nicht um die bloße Verkörperung der Kultur bemüht, sondern primär Kultur über Körperlichkeit entstehen läßt. Blacking (1976, 1986:14) äußerte sogar die Auffassung, dass der sogenannte biosoziale Tanz als spezienspezifische Anlage größtenteils für die Ermöglichung der frühmenschlichen Denkentwicklung, Technologie und Erfindung von Kultur verantwortlich war, bis sich verbale Sprache entwickeln konnte und die Führung unter den kulturtragenden menschlichen Fähigkeiten übernahm.

Erst der homo sapiens entwickelte eine verbale Sprache, die freilich nicht zum Verschwinden der aller Wahrscheinlichkeit nach wesentlich älteren Kommunikationsweise über Bewegungsausdruck führte. Verbale Sprache brachte breitere Möglichkeiten kultureller Intentionalität und beschleunigte das Entwicklungstempo beträchtlich. Doch gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass die evolutionäre Rolle des biosozialen Tanzes dadurch erfüllt und erloschen ist:

Dies gilt sicherlich für das interkulturelle kommunikative Potential sowohl ekstatischen rituellen Tanzes als auch von Bühnenformen. Die Erfahrung des ekstatischen Tanzes beinhaltet in besonderem Maß den Prozess der Bewusstseinsveränderung, der Selbstüberwindung in Selbstvergessenheit und bewirkt eine mystische Projektion eines machtvolleren und allumfassenderen Selbst als einer höheren Oktave des Seins. Das Paradoxon dieser transformativen Erfahrung ist, dass gerade in passiver medialer Ergebung gegenüber dem aggressiven Eindringen des Unbegreiflichen und Fremden im Tanz dieses Fremde einverleibt, beherrschbar und dienstbar gemacht werden kann. Die in dieser Arbeit erwähnten österreichischen Schulversuche in ethnisch gemischten Klassen, mit gemeinsamen Tanz über Körpererlebnisse Kulturbarrieren zu überwinden, sind Beispiel eines nur leicht ekstatischen, leicht 'medialen' Weges zur Kommunion mit dem Fremden, etwa in der bereits erwähnten gemeinsamen Erfahrung des 'Getragenwerdens' durch die Gruppe im Tanzen des jugoslawischen Kreistanzes Kolo.

Die Basis dieses transformierenden, ekstatischen und nicht zuletzt auch numinosen Erfahrungspotentials ist ein dialektischer kognitiver Prozess, der aufgrund seiner Komplexität in nicht immer klar beobachtbarer Weise aber durchaus permanent zwischen Individuum und Kollektiv stattfindet. Kollektive Anteile an individueller Erfahrung werden aktiviert, individuelle Erfahrung schreibt sich andererseits in kollektive Formen ein. Für das trancende Individuum bedeutet dies die Möglichkeit von Erfahrungen von individueller Zusammensetzung, aber mit zahlreichen bewusstseinstranszendierenden Prägungen aus dem kollektiven Erleben mehrerer Kulturen. Gleichzeitig ist auch dieser Akt des verkörpernden Tanzes selbst kulturschöpferisch und greift von den ungesicherten kulturellen Randzonen her transformierend und korrigierend in die kollektiven Ebenen ein.

Kein Begriff des 'Volksgeistes' oder der 'Volksseele' im Sinne der Völkerpsychologie, wie sie von Wilhelm Wundt geprägt wurde, kann die kollektive Grundlage einer solchen Erfahrung definieren. Er würde Gefahr laufen, im Sinne des Romantizismus Missverstanden zu werden, indem nach fixen 'Wesenszügen' oder gar einer 'kollektiven Seele' der einzelnen Kulturen Ausschau gehalten wird. Diese Basis weist auch nicht die typischen holistischen Züge des völkerpsychologischen Konzepts der 'Grundpersönlichkeit' auf (Zusammen- fassung in Vester 1996:18). Sie ist keine statische 'Basispersönlichkeit' im Sinn von Abram Kardiners Interpretation der 'Culture and Personality School' (Kardiner 1945: vii-x), worunter entdeckbare und geradezu messbare kulturell determinierte Eigenschaften verstanden wurden, Konstrukte, die schließlich zur Etablierung von Vorurteilen gegen andere Kulturen hervorragende Dienste leisten konnten.

Die kollektiven Anteile eines Individuums sind prozesshaft, in ständiger Verwandlung begriffen und aus der Art der Interaktion des sich verändernden spezifischen Individuums mit einer ebenso wandelbaren kollektiven kulturellen Realität heraus konstituiert. Heimatliche Erfahrungen stehen dem Individuum von sich aus Nahe. Sehnsucht nach Alternativen zu diesen Erfahrungen, nach Freiheit von kulturellen Zwängen, Begehren nach ideellen und materiellen Objekten der Fremde, aber vor allem auch traumatische Ängste und Hassgefühle, die aus Erfahrungen integritätsbedrohlicher Übergriffe des Fremden geboren wurden, vermögen die Faszination des Fremden derart zu steigern, dass große Anteile davon oder auch bloß von 'stereotypen Attributionen' des Fremden (Klineberg 1980, zitiert nach Vester 1996: 25) in den dialektischen Urgrund der kulturellen oder kollektiven Anteile des Einzelnen einzudringen vermögen.

Die körperliche Begegnung mit dem Fremden reformiert soziale Muster, welche unser Selbst geprägt haben nicht direkt, sondern zuallererst auf der Ebene des Individuums. Die alten sozialen Muster mögen noch eine Weile oder lange Zeit fortbestehen, ein Leben jenseits der einander begegnenden Lebensweisen vortäuschend, doch mit der Zunahme der Häufigkeit interkultureller Begegnung wird sich ihre Veränderung schließlich nach und nach manifestieren. Die sich daraus ergebende Richtung folgt dabei selten dauerhaft einer der beiden ursprünglichen Formen - der eigenen oder der fremden -, was ja nur aufgrund von Selbstverleugnung einerseits oder Immunisierung gegenüber dem Fremden andererseits möglich wäre. Im vielleicht besten Fall büßen sie ihre Strenge ein, ihre Endgültigkeit und ihre Ausschließlichkeit.

Das Positive einer solchen immer auch verunsichernden Erfahrung mag indes nicht immer klar erkannt werden in Zeiten, da die häufigste Reaktion auf Kulturbegegnung angstvolle Versteifung der eigenen Strukturen zu sein scheint und das Eigene nach wie vor viel zu stark durch negative Klischees vom Fremden gegen überschwemmende Einbrüche des Fremden immunisiert wird. Wenn wir uns - wie dies Isadora Duncan als Pionierin des Modern Dance getan hat - auf die glorreiche Erhebung unserer Zivilisation aus der Wiege der griechischen Kultur berufen, so dürfen wir nicht vergessen, dass gerade die Griechen uns mit der Erfindung der Barbaren vorgeführt haben, wie sich die eigene Identität durch ein Zerrbild der anderen definieren und konstruieren lässt (Fontana 1995:11f zitiert nach Vester 1996:12).

Tanz zeigt indexikalisch generell bestimmte Charakteristika einer Kultur, wie Körperästhetik, Kommunikationsregeln, Geschlechterrollen, und darüber hinaus für jede Kultur zusätzliche, spezifische Facetten, wie die besondere Verbindung zwischen kodifizierten Tanzgesten, Religion und Geschichtenerzählen und zur Skulptur und Malerei im indischen Raum oder wie die erwähnte einzigartige Verbindung zwischen Arbeitstänzen und Tanztherapie bei den westafrikanischen Minianka. Die sozialisierenden Eigenschaften von Tanz machen ihn gemeinsam mit seiner Indexikalität zu einem potenten pädagogischen Mittel. Die kulturspezifischen Anteile an Tanz machen ihn zu einem mächtigen Instrument interkultureller Verständigung, insbesondere wenn fremde Bewegungsformen aktiv geübt werden. Durch fremden Tanz kann man nicht nur direkt fremde kulturspezifische Besonderheiten erfahren, die der eigene Tanz, die eigene Kultur nicht bieten kann. Man kann auch weder zur eigenen noch zur fremden Kultur gehörige neue Erfahrungen sammeln, die sich durch die bloße Ungewohntheit der Bewegung und den daraus entstehenden neuen Potentialen an Emotionen und Vorstellungen eröffnen.

 

 

Interaktivität der Genres quer durch Raum und Zeit

 

Die interkulturellen und multidimensionalen Entstehungsbedingungen moderner Tanzgenres lassen kein unilineares Entwicklungsmodell zu. Die populäre Auffassung von einer universalen Entwicklung in einem gemeinsamen rituellen Ursprung über Volkstanz (144), Gesellschaftstanz, Kunst- und Bühnentanzformen hin zu einer mehr oder minder universalen Kategorie des Balletts muss durch ein dreidimensionales Modell ersetzt werden, indem Rückgriffe auf ältere Wurzeln ebenso alltäglich sind, wie externe Beeinflussungen aus anderen Kulturräumen und auch willentliche 'Umformungen' oder Neuinterpretationen der Vergangenheit. Die externen Beeinflussungen können daneben entweder alte oder auch moderne Formen beinhalten, sodass komplexe Netzwerke gegenseitiger Beeinflussung entstehen. Es muss von einer gegenseitigen Beeinflussung und zuweilen hochgradig virtuellen Gleichzeitigkeit aller Formen ausgegangen werden. Nur so wird der Blick auf die tatsächlich bestehenden Varianten und Formen freigelegt, auf ein bewegtes und multidimensionales Bild, das den anderslautenden und weitverbreiteten Befürchtungen über eine globale kulturelle Homogenisierung bis dato jedenfalls kaum entspricht, wie ich dies a.a.O. (Nürnberger 1993a: bes. 249-252) bereits angedeutet habe. Ritual-, Unterhaltungs-, Kunsttanz, westlicher Tanz und Ethnotanz, World Dance (145), etc. erscheinen somit als einander bedingende Facetten aller Kulturen, die in unterschiedlichen Anteilen zu unterschiedlichen Anlässen eine schier unendliche Vielfalt an Formen hervorzubringen vermögen. So ist auch Tradition keine fixe Größe mehr, es gibt nur das, was unter bestimmten gegebenen Bedingungen als Tradition gilt. Es muss von einer Prozesshaftigkeit von Tradition ausgegangen werden, indem im günstigsten Fall jene Faktoren bestimmend wirken, die für die Erhaltung kultureller Integrität in der spezifischen historischen Situation am funktionellsten sind.

Ein Beispiel: nach einfacher alter Denkweise erscheint der moderne japanische Butoh als Endprodukt einer jahrtausendealten Entwicklung, an deren Anfang rituelle Tänze Japans standen, die landwirtschaftliche und religiöse Prägungen aufwiesen und von denen die Gattung Odori von Laien, die Gattung Mai von Professionalisten aufgeführt wurden. Über verschiedene Zwischenstationen entwickelten sich seit dem 13. Jh. sukzessive die komplexen Stilprägungen des Nô und während der Edo-Zeit (1600-1868) jene des Kabuki. Während der Meiji-Restauration (1867/68) kam es zur Öffnung gegenüber euroamerikanischen Formen. Westlicher Tanz wurde zuerst undifferenziert als fremdes Kulturgut, später deutlicher nach Gesellschaftstanz, Ballett und modernen Kunsttanzformen unterschieden wahrgenommen. Daraus wiederum entwickelte sich unter anderem und neben dem modernen japanische Bühnentanz der Butoh.

In dieser nach konventioneller Sicht linear gedachten Entwicklung wird keine tiefere Einsicht in die Besonderheiten des modernen Butoh ermöglicht. Die kulturhistorische Brisanz des plötzlichen kulturellen Umbruchs der Meiji-Ära und die Tiefe der Identitätskrise Japans nach dem zweiten Weltkrieg und den Erfahrungen des Faschismus werden nicht gewürdigt.

Die Besonderheiten des Butoh erklären sich besser aus einer Netzwerkanalyse der Entwicklungsbedingungen: Der Butoh muss zuerst einmal als Produkt einer dialektischen Reaktion auf die Verwestlichung und nicht als einfache Weiterentwicklung aufgefasst werden, da er ebenso Elemente des Widerstands gegen die Verfremdung des Japanischen aufgrund von Amerikanisierung und Kommerzialisierung enthält als auch eine Weiterentwicklung bestimmter Elemente aus dem Westen bietet. Er stellt den Versuch einer Neuorientierung nach einer Phase der Entwurzelung und existentiellen Verunsicherung dar. Er ist aber auch Ausdruck des Widerstands gegen die glatte Fassade des westlichen Schönheitsbegriffs, gegen die verunsichernde Präsenz puppenhafter Mannequin-Ästhetik und die erdfremde Schwebesucht unjapanisch langbeiniger Balletteusen. Gespielt und kokettiert wird hingegen vor allem mit populären Formen westlichen Tanzes, Walzer, Disco: "Stampftänze", wurden diese fremden Formen genannt, eben "Butoh", und sie standen im Gegensatz zu Buyoh, zu traditionellem japanischem Tanz (Murobushi: ibid.).

Japan tendiert dazu, alte theatrale Formen nicht verloren gehen zu lassen, sondern sie in einer Art musealer und doch lebendiger Kultur zu pflegen. Dies wird durch Tradierungssysteme innerhalb alter Künstlerfamilien unterstützt. Origuchi Shinobu (1887-1953), der Begründer der modernen japanischen Volkskunde, beschreibt als Hauptmerkmal des japanischen Theaters "das Prinzip der Überlieferung und Kontinuität", "das besagt, dass das klassische japanische Theater wesentlich auf Überlieferung beruht, ohne dabei museal zu werden und Neuentwicklungen zu verhindern" (Zenshu [Gesammelte Werke], Noto-kan [Anmerkungen], Bd.5, 1971, zitiert nach Seym 1992:33). Dieses Prinzip unterscheide sich deutlich von der europäischen Theatertradition, die von Diskontinuität, von Sequenzen einander ablösender Stilperioden geprägt ist (Seym 1992:33).

Die nähere "Vergangenheit" der Nô- und Kabuki-Formen war in der Geburtsstunde des Butoh noch immer gegenwärtig und erschien vielleicht gerade deshalb als zahnlose Waffe im Kampf gegen die neuen Verlockungen des Westens. Der Butoh übersprang einerseits diese Formen in seiner Rückbesinnung auf altjapanische Körperkultur, indem er sich an schamanistischen und agrarischen Ritualtanzformen orientierte, oder vielmehr an Bewegungselementen, die seitens moderner Künstler mit solchen Formen, mit Totenkulten und buddhistischen Ideen in Zusammenhang gebracht wurden und andererseits auch darüber hinaus mit dem Kampf gegen die unbarmherzige Natur, mit Armut, Elend und Schmerz: das war der Ankoku Butoh, der 'Tanz der Dunkelheit' Tatsumi Hijikatas (Gohda 1988:142, Haerdter & Kawai 1988: 42-56, 98). Andererseits suchten Japaner nach zeitgemäßen Ausdrucksformen und stießen auf den Deutschen Tanz des Harald Kreuzberg oder der Mary Wigman. Eiko und Koma, die 1971 Mitglieder bei Tatsumi Hijikatas Theater-Avantgarde- Ensemble waren, lernten wie andere vor ihnen auch in Deutschland, in ihrem Fall unter Manja Chmiel, einer Schülerin von Mary Wigman (Programmheft Wiener Internationales Ballett-Fest Tanz '84: 22). Min Tanaka studierte Ballett und modernen Tanz, bevor er zu seiner Interpretation des Butoh - vorwiegend nackt und als momentanes Erleben - fand (ibid.: 8). Kazuo Ohno lernte bei Takaya Eguchi, der seinerseits bei Mary Wigman studiert hatte (Haerdter & Kawai 1988: 111 f). Ohno begegnete aber vor allem dem Ausdruckstanz von La Argentina (146) aus einer anderen und ebenfalls westlichen Raum-Zeit Dimension (Haerdter & Kawai 1988: 57-75).

Ohne einer Einbeziehung der transsexuellen Onnagata-Traditionen des Kabuki erscheint es unverständlich, warum der Mann Kazu Ohno für den Rest seines Lebens die Tänzerin La Argentina künstlerisch verkörperte und damit als einer der Begründer des Butoh berühmt werden konnte. In Bezug auf den Butoh hat das Phänomen der Transsexualität als "Tradition" eine neue und wiederbelebende Stilisierung erfahren. Schon in den dramatischen Teilen (147) der Nô-Stücke, die seit dem 13. Jh. vor adeligem Publikum aufgeführt wurden, gab es die sogenannten "Perückenstücke" (katsura mono), in denen männliche Darsteller weibliche Charaktere präsentierten. Der Kabuki brachte eine einzigartige Institution des männlichen Frauendarstellers in Gestalt des Onnagata hervor, der für vollendete Stilisierung des weiblichen Ideals verantwortlich zeichnete.

Tatsumi Hijikata (148) widmete seine ersten 'verweiblichten' Tänze seiner Schwester (Haerdter & Kawai 1988: 40, 42), die seine Familie in der Erfüllung traditioneller Pflichten verlassen musste und deren Geist er - in individueller künstlerischer 'Verleugnung' ihres Entschwindens aus seinem Leben - in sich beständig wiederaufleben ließ. Die spezifisch japanische Haltung und seine persönliche Familiengeschichte prädisponierten ihn zu seiner modernisierten Butoh-'Frauenrolle' im Tanz. Kazuo Ohno wurde in der endgültigen Gestaltung 'seiner' Frauenrolle ebenfalls durch ein individuelles Zusammentreffen geprägt: noch als Student der Sportakademie sah er La Argentina tanzen. Kazuo Ohno ließ sich ab 1977 in der Gestaltung seines Soloauftrittes in "Admiring La Argentina" und dann für den Rest seines künstlerischen Schaffens von dieser Tänzerin inspirieren, deren Anblick er als ganz junger Mann fest in seinem Innersten verwahrt hatte und die er wie eine Verwandte ehrte (Haerdter & Kawai 1988: 55-60). Ohno griff auch über die tragische Leidenschaft in der Gestalt dieser Tänzerin mittelbar auf das japanische Kulturerbe zurück und verwandelte sich während zahlloser Abende in seine Reflexion von La Argentina - in einer Darstellung, durch die er freilich im Laufe seiner persönlichen künstlerischen Entwicklung auch immer mehr seine eigene Altersgebrechlichkeit und empfindliche Verwundbarkeit am Grat zwischen den Zeiten und Kulturen bewusst hindurchschimmern ließ, aber auch zwischen der tragischen Größe und Lächerlichkeit dessen, was in den Schranken gesellschaftlich geprägter Vorstellungen und oft im Spannungsfeld zu persönlichem Schicksal Weiblichkeit an sich bedeutet.

Kazuo Ohno sagt, er tanzt keinen Butoh. Auch Charlotte Ikeda 'tanzt ihn nicht' (Kurzgespräch, Wien 1996) und auch Kô Murobushi 'ist kein Butoh-Tänzer' (Interview, Wien 1994), dennoch gehören diese Interpreten in den Augen der Welt zu den wichtigsten Interpreten des Butoh. Butoh ist unfassbar, verborgen, undefiniert und bleibt auch nach seinem Siegeszug wesentlich Underground. Seine Interpreten und Tänzerinnen gibt es nicht ohne ihre direkte oder mittelbare Auseinandersetzung mit Modern Dance und Ausdruckstanz, mit La Argentina, mit japanischen Totenkulten und altjapanischen Tänzen.

Und natürlich ist das nicht das Ende der Geschichte. Der Butoh wirft sein japanisches Reflexionsbild des westlichen modernen Tanzes nun auf die westliche Postmoderne zurück. Ari Tenhula etwa, einer der Choreographen des weltberühmten postmodernen Finnischen Nationalballetts, ist Schüler der Butoh-Ikone Kazuo Ohno und der ebenfalls auch im Westen berühmt gewordenen Butoh-Tänzerin Anzu Furukawa. Wie sie 'stürzt er die Zuseher in Verwirrung', wenn er als Choreograph 'eine aus einem inneren Zustand resultierende meditative Bewegung auf die Bühne bringt und so die Abläufe eines tiefen inneren Prozesses suggeriert' (ImPuls Peformance-Festival 1993, Wiener Volkstheater). Oder bleiben wir in Wien, nehmen wir den multikulturellen Virtuosen Ismael Ivo, geborener Brasilianer, langjähriges Mitglied der Alvin Ailey - Kompanie aus New York, Mitbegründer und künstlerischer Direktor der Wiener Tanzwochen, mit ihren multikulturellen Kursangeboten und Performancefestivals. Ismael Ivos Auseinandersetzung mit dem Butoh stammt bereits aus seiner Lehrzeit in Brasilien und ist eng mit der sozialkritischen Perspektive seiner Arbeiten verbunden:

Als Ivo mit Ushio Amagatsu, dem Leiter der berühmten, 1975 gegründeten (Haerdter und Kawai 1988:188) Butoh-Gruppe Sankai-juku, in Japan arbeitete, war es die gewaltsame Emotionalität von Ivos Arbeit, die das japanische Publikum am meisten erschütterte. Japanische Kultur schließt spontane Zurschaustellung von Emotionalität in besonderer Weise aus und verbannt Emotionalität in den rituellen und dramatischen Bereich und hinter stilisierten Formen. Denn auch dort ist der traditionelle Raum für Emotionen und große Gefühle eng umgrenzt und ästhetisiert und verbirgt sich hinter Masken, stilisierten großen Gesten und aufwühlenden musikalischen Klängen. Die Off-Kunst des Butoh erkundet das Terrain jenseits dieses Rahmens - und das galt auch für Ivos Solotanz in "Apocalypse", dem Stück, welches er in Japan zeigte:

Der Pianist Takashi Kako hatte Ivo als Tänzer zu der gemeinsamen Produktion "Apocalypse" mit Amagatsu als Choreograph eingeladen, nachdem er Ivos japanisches Gastspiel von "Under Skin" gesehen hatte.

Amagatsu gehört derselben frühen Butoh-Generation wie auch Ikeda oder Murobushi an, deren Arbeit Ivo auch in Europa gesehen hat und die ihn faszinierten. Doch Ivo fühlt eine darüber hinausgehende Verwandtschaft seiner Arbeit mit dem Butoh:

Butoh ist im Westen zuerst durch Kazuo Ohno und schließlich durch viele andere Interpreten, so auch durch Kô Murobushi und seine Partnerin Urara Kusanagi, die 1994 zum Zeitpunkt meines Interviews mit ihnen in Paris ihren Wohnsitz hatten, bekannt geworden. Auf die Frage nach der Motivation Butoh in Europa zu zeigen statt in Japan, antwortete Murobushi:

Natürlich ist Butoh keine einheitliche und nicht die einzige Entwicklung aus der tänzerischen Auseinandersetzung Japans mit dem Westen. Erstens ist jeder einzelne der im Westen bekannten Vertreter, Ohno, Ikeda, Murobushi, etc..., ein Künstler oder Künstlerin für sich und deshalb - wie bereits oben bemerkt - eben auch 'kein' Butoh-Tänzer, und zweitens gibt es auch modernen japanischen Ausdruckstanz, wie ihn etwa Emi Hatano als universalen Modern Dance in ihrem eigenen Institut und als Professorin der Nippon Universität in Tokyo lehrt (Hatano 1996).

Die komplizierten Verbindungen des Butoh zu Tanzgenres verschiedenen Zeiten und verschiedenen Räumen lassen sich in einem generischen Netzwerkdiagramm wie folgt skizzieren:

 

 

 

generisches Netzwerkdiagramm: Butoh

(Anm. 1: Zur Beziehung zwischen Jesuitenballett und Kabuki siehe vorliegende Arbeit Seiten 261 und 364, sowie Leims 1990).

 

Nichts Gegenwärtiges ist in einem solchen Diagramm mehr einfaches Produkt einer Entwicklung von A nach B. Alles ist miteinander verbunden, nichts scheint mehr getrennt von anderen Räumen und Zeiten denkbar.

Es ist ein Kompromiss, Tanzformen, wie im obigen Diagramm, entlang eines Zeitpfeils zu platzieren, denn sie bestehen fort und tragen mehr oder weniger Anteil an ihrer Vergangenheit in die Gegenwart. Wie bereits erwähnt, ist dies in Japan durch das gleichzeitige Fortbestehen der Formen über die traditionellen Überlieferungssysteme in besonderem Maße der Fall. Sie berühren einander mehrfach und in mehrdeutiger Weise, sich gegeneinander abgrenzend, einander beeinflussend, und indem sie nicht nur Zeiten, sondern auch Räume durchdringen:

Nach Gunji (1985: 80, zitiert nach Seym 1992: 41) hält Maurice Béjart den Kabuki für die fortgeschrittenste Form des Theaters in der heutigen Gesellschaft und reiht ihn somit in die Gegenwartskunst oder sogar Avantgarde ein. Thomas Leims stellte die provokante These auf, dass es die europäischen Elemente seien, die den Kabuki von allen anderen japanischen Formen unterscheiden und die in der Folge auch seine gegenwärtige Bedeutung erklären. Leims datiert den modernen Kabuki in das 16. Jahrhundert zurück. Nach Leims kam es im 16. Jahrhundert zu einen historischen Wendepunkt des japanischen Theaters. Zwischen 1592 und 1604 habe ein Transkulturationsprozess besonders mit der portugiesischen Kultur stattgefunden, der nicht nur auf Äußerlichkeiten, wie Kostümierung und Requisiten beschränkt geblieben sei, sondern auch auf das Gebiet der Choreographie seine Auswirkungen gehabt hätte. Gerade wegen der Mündigkeit und Reife des Kabuki hätte sich dieser erlauben können, Fremdes zu inkorporieren und daraus ein eigenständiges Genre, kabuki odori, zu schaffen (Leims 1990: 314-332, Seym 1992: 41f.).

Aus gegenwartsbezogener Sicht wird die eigenkulturelle Vergangenheit virtualisiert. Die Linien des generischen Netzwerkdiagramms machen die intentionalen Rückgriffe seiner Agenten - der Begründer eines Genre - auf ausgewählte 'mögliche Vergangenheiten' - auf das Werk anderer Agenten, aber auch auf bloße Fiktionen oder Mythen über deren Werk - sichtbar. Ähnlich wie zwischen den Netzwerkagenten der transaktionalen Ethnologie besteht ein Spannungsverhältnis zwischen Tradition oder institutionalisierter Struktur und dem Nützlichkeitsprinzip, dem das Handeln des Künstlers, als Agent eines Netzwerks künstlerischer Bezüge, unterworfen ist. Das Nützlichkeitsprinzip wirkt bei der Etablierung einer generischen Beziehung in Bezug auf die künstlerische Verwendbarkeit und ökonomische Marktgängigkeit des oder der fokussierten Form, Inhalts, Agenten oder Genres usw. Sie ist von persönlichen Neigungen des Künstlers ebenso abhängig wie von den herrschenden soziokulturellen und politischen Verhältnissen.

Für die Gegenwart funktionalisierte Vergangenheit wirkt strukturverändernd, Geschichte wird dort neue Realität, wo sie kreativ manipuliert wird. Der Zeitpfeil kann da viel von seiner Entschiedenheit verlieren. Vergangenheit wird ganz ähnlich wie das Fremde behandelt, nämlich den Erfordernissen der Gegenwart entsprechend verändert, verzerrt, entstellt, einer Auslese unterzogen, unter ablehnender Kontrastierung zu ihr oder unter der Negierung bzw. Aufblähung gewisser Charakteristika und Formen als 'Kulturgeschichte' prozesshaft angeeignet und in das gesellschaftliche Sein reintegriert. Erinnern wir uns etwa an die bereits erwähnte und analysierte schöpferische 'Wiederentdeckung' des 'traditionellen' indischen Tanzes unter der neuen und 'altertümelnden' Bezeichnung 'Bharata Natyam'. Oder die Verwendung der Begriffe 'Antike' und 'Natur' durch Isadora Duncan in einem Akt der kreativen Erfindung von Tradition für ihren neuen Tanz.

In einer präziseren graphischen Darstellung, die dem Hier und Jetzt gerechter würde, fänden wir kein Netzwerk entlang eines Zeitpfeils mehr vor, in dem Rückgriffe noch als solche erkennbar sind, sondern alles wäre gleichzeitig und mehrdeutig und erschaffte einander in jedem Akt neu. Das Netz der Beziehungen wölbt sich dann dreidimensional, etwa in Gestalt eines unregelmäßigen Kristallgitters, dessen Eckpunkte untereinander auch mehrfach und unregelmäßig verbunden sind. Suzanne K. Langers 'virtuelle Gestik' des Tanzes, die den "Anschein von Macht, Einflussnahme und Wirkkraft erweckt" (Langer 1953: 175) erfährt eine Vergrößerung in einer 'virtuellen Geschichtlichkeit des Tanzes', in der geschichtliche Fakten aufgrund kultureller Notwendigkeiten und Modeerscheinungen - bis hin zu ihrem gänzlichen Verschwinden zugunsten von Erfindung von Traditionen - neue Bedeutung und neuen Anschein erhalten.

Ähnliches gilt für die Dimension des Raumes: der Ort oder das Land, an dem Kultur passiert, ist nicht mehr identisch mit dem Ort oder Land seiner Entstehung, denn Entstehung universalisiert sich, die Wurzeln der Kunstprodukte reichen heute, da die Menschheit alt ist, in die verschiedensten Regionen der Erde. Mit Ismael Ivos Worten:

Bedeutet das nun einen ständigen und unvermeidlichen Zuwachs an Beliebigkeit und Individualität? Der Butoh-Tänzer Min Tanaka spricht von einer "Meteorologie des Körpers" (Hardter & Kawai 1988:84): Der Körper reagiert einerseits individuell, andererseits auf das, was von außen auf ihn einwirkt. Tanz erscheint so neben seiner Individualität auch als ein Medium des jeweiligen Ortes und seiner Geschichtlichkeit und auch, wie Tatsumi Hijikata (149) hervorhob, eines spezifischen kollektiven Körperbewusstseins. In dieser 'Medialität' findet der Butoh seinen Apologetik der 'heiligen Schaustellung', seinen Bezug zum Wahnsinn (ibid.: 50), zu Schamanismus und Totenkulten (ibid.: 24, 55f, 79, 98), aber auch zum Zen, in seiner Ablehnung von Schulen und abstraktem Wissen in Form systematischer Lehranweisungen (ibid.: 25) und zu seiner Umarmung von Kindlichkeit in der Wahrnehmung des Körpers (ibid.: 39), letzteres auch als körperliche Rebellion gegen gesellschaftlich bedingte körperliche Konditionierung (ibid.: 112). Auf den vorangegangenen Seiten wurde immer wieder betont, wie sehr die sich so rasch verändernden Fakten interkultureller Tanzgeschichte durch gesellschaftliche Prozesse der Funktionalisierung und Anpassung an spezifische gesellschaftliche, historische und politische Bedingungen geprägt ist. Diese Faktoren umreißen die Grenzen künstlerischer 'Virtualität' und sie garantieren bis heute internationale künstlerische Vielfalt an der Stelle von bedrohlicher Beliebigkeit oder - noch schlimmer - des entgegengesetzten Extrems einer globalen Einheitskultur.

 

 

Ethik und Kulturpolitik
 

In dem Kapitel über "Tanz als Sprache" wurde auf den Gebrauch und die Bedeutung des Tanzes zur Emotionalisierung eines Kollektivs und auf das Faktum der diesem Gebrauch zugrundeliegenden menschlichen Intelligenz hingewiesen - und im Zusammenhang mit dem Faschismus auch die Frage nach der inhärenten Moral oder der gesellschaftlichen Gefährdung durch diese Praktiken gestellt. Hier möchte ich nun an diese Überlegungen anknüpfend der Frage nachgehen, ob in der eben argumentierten raumzeitlichen Virtualität von performativem Verhalten nicht ebenfalls eine gesellschaftliche Gefährdung gesehen werden kann, insbesondere auch in Bezug auf die zweifellos vorhandene kollektiv emotionalisierende Potenz des Genre.

Willentlich gesetzte Veränderungen in der Definition dessen, was wir sind, sind für kulturelle Anpassungsbewegungen an geänderte Lebensbedingungen im Sinne der Erhaltung kultureller Integrität unumgänglich. Doch Virtualität von Kunst gewinnt auch genau erst dort gesellschaftliche Realität und substantielle gesellschaftliche Bedeutung, wo eben der Prozess der Erneuerung von Integrität auch tatsächlich durch diese Veränderungen befeuert wird, das heißt, wo historisch veränderndes performatives Verhalten tatsächlich eine tragfähige 'kunstvolle' Erweiterung des gesellschaftlichen Horizonts be'deutet' und nicht bloß kurzsichtige 'künstliche' Lösungen geifernde Emotionalisierung bewirkt oder oberflächliche Klischees und Vorurteile reproduziert. Obwohl dieser Punkt auch die Frage nach einer Abgrenzung zwischen Kitsch und Kunst berührt, geht es mir hier nicht um Parameter des künstlerischen, sondern des moralischen Urteils. Nach dem indischen Kunstphilosophen Coomaraswamy (1974:24) gilt:

Sowenig man eine Tänzerin von ihrer moralischen Verantwortung lossprechen kann, sowenig kann man den Menschen an sich, den Konsumenten zum Beispiel, aus der künstlerischen Verantwortung entschuldigen, wenn Kunst, wie bei Coomaraswamy, durch ihre Entsprechung und Nützlichkeit in Bezug auf gewisse menschliche Grundbedürfnisse und nicht allein durch ästhetische Erwägungen definiert wird. Die Trennung zwischen künstlerischer Form und moralischer Sünde, die im Gegensatz zu dieser Auffassung im christlich- abendländischen Raum so scharf gezogen wird, spiegelt sich gewissermaßen auch bei Konfuzius wieder, wenn er sagt, dass ein höfischer Tanz sowohl von vollendeter Schönheit als auch von vollkommener Tugend, ein Kriegstanz indessen vielleicht vollendet schön, aber nie vollkommen gut sei. Kunst selbst kann in dieser Sicht keinem moralischen Urteil unterworfen werden, da Kunst eine Art von Wissen oder Macht ist, durch die die Dinge gut, also perfekt gemacht werden, ob zu moralischem oder unmoralischem Gebrauch. Kunstfertigkeit ist keine Art des Wollens, sondern eine Art des Wissens, sagt Coomaraswamy (1974: 28). Der Künstler als Mensch, der Kunstfertigkeit erwirbt und anwendet, muss jedoch moralisch gefordert werden:

Nur wenn diese hohen Erwartungen an Lernwille, Hingabe und visionärer Kraft sich erfüllen, kann ein Künstler kulturelle Werte schaffen, was in anderen Worten bedeutet, mit geschickten kommunikativen Mitteln zum Prozess kultureller Integration beitragen.

Es ist jedoch elitäres Wunschdenken, wenn man, wie die modern-indische Tänzerin Shobana Jeyasingh darauf drängt, dass alleine Künstlern die kontinuitätssichernde Auswahl und Balance zwischen Anteilen an Tradition und Innovation vorbehalten sein sollte (Academy 1994: 2,9). Selbst wenn man wie ich zu jenen gehört, die der Idee der Kontrolle durch eine künstlerische Elite über die kulturellen Formen der Masse einiges abgewinnen, kommt man nicht umhin, die Existenz eines Spannungsfeldes zwischen individualistischer Virtualität und kollektiver Notwendigkeit anzuerkennen, was zum Beispiel beinhaltet, dass in der Realität dieser Balanceakt sehr viel mehr öffentlich als künstlerisch gesteuert wird: über die Gesetze des Marktes und der Verkaufbarkeit, über die Medien etwa, die die 'allgemeine Meinung' prägen, und vor allem über die Subventionspolitik der jeweiligen Regierungen, die das Überleben nicht kommerziell orientierter künstlerischer Aktivitäten absolut kontrollieren, die auch den Aufbau neuer künstlerischer Märkte fördern oder zu Fall bringen. Diese Subventionspolitik sollte sich ebensosehr um die Erhaltung von traditionellen - populären und klassischen - Formen wie um die Förderung von innovativer Kunst bemühen. Es wurde bereits dargelegt, dass avantgardistische Innovation nicht weltweit in denselben krisenhaften Brüchen und Verwerfungen verläuft wie im Westen. Das Publikum liebt jedoch auch im Westen oft gerade jene Innovationen, die sich aus einer gut sichtbaren Verwurzelung in Traditionen heraus entwickeln. Und bei aller Notwendigkeit zur Innovation indischen Tanzes im kulturellen Umfeld Englands kann man sich über Bedürfnisse jenes speziellen Publikums, das sich aus den Vertretern einer Minorität zusammensetzt, Bedürfnisse nach der Sicherheit und Eindeutigkeit seiner Traditionen nicht einfach hinwegsetzen, indem man eine solche Haltung als die Wahl des leichteren Weges gegenüber einer direkten künstlerischen Konfrontation mit der Moderne brandmarkt, wie dies Jeyasingh tut (Academy 1994:8).

Kulturpolitik muss multilinearer Entwicklungen auch in Bezug auf ihre unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten managen. Was für die zweite und dritte Generation der indischen Emigranten in England als Kunst bereits 'alt' aussieht, ist für die erste Generation noch immer überlebenswichtig und kann für eine sechste Generation neuerlich eine Bedeutung als Reservoir an Formen und Inhalten erlangen, die für uns noch nicht ermessbar ist. Eine gute künstlerische Infrastruktur mit voll entwickelten Kommunikationsmöglichkeiten auch zwischen verschiedenen künstlerischen Genres und insbesondere auch zwischen den verschiedenen Kulturen erleichtert in Umbruchsphasen Neuorientierun- gen, die sich der politischen Verantwortung bewusst bleiben und nicht in konturlosen Mischprodukten resultieren sollen. Teil dieser Forderungen an eine moderne Kulturpolitik ist auch die Beachtung einer Sprachethik, indem man sich in der interkulturellen Arbeit zum Beispiel nicht auf den afrikanischen, asiatischen oder sonstigen Tanz bezieht, sondern auf die tatsächlich in Frage kommenden einzelnen Formen und Stile, indem man also keine unzulässigen Generalisierungen begeht, die nur neue Vorurteile hervorbringen können. Erst dann kann auch die klischeehafte Parallelisierung der Gegensatzpaare Ost - West und Tradition - Moderne, die Jeyasingh (Academy 1994:6) kritisiert, durchbrochen und in aktuellere und gültigere Gegensatzpaare, wie dies nach Jeyasingh vielleicht die Gegensatzpaare Stadt - Land oder postindustriell - heilig darstellen, umgewandelt werden.

Unter anderen hat Joseph Roach (1996) an zahlreichen Beispielen erläutert, wie Performer durch ihre Darstellungen die Geschichte ihrer Kulturen regenerieren und auch revidieren können und auf diese Weise letztendlich Vorstellungen über neue Sinngebungen und Identitäten hervorbringen. Er verarbeitet für seine Analyse zeitgenössische theoretischen Ansätze zu performativem Verhalten, die Performance als 'carrying out a purpose thoroughly' ( Tuner 1989), 'actualizing a potential' (Bauman 1989) und 'as restored behaviour' (Schechner 1985) begreifen (zitiert nach Alleyne-Dettmers 1997:618). In diesem Zusammenhang muss wohl von einer notwendigen Revidierung der Auffassung körperorientierter (im Gegensatz zu sprachorientierter) performativer Kunst als Kulturbereich von genereller Marginalität ausgegangen werden und die potentielle Bedeutung einer diesbezüglichen Kulturpolitik für die Steuerung der daraus resultierenden Prozesse hervorgehoben werden.

  
Anmerkungen

143 Ähnlich wie Tatlow 1994 (83-85) habe ich bereits 1993 (Nürnberger 1993a) auf die Komplexität interkultureller Prozesse hingewiesen, wobei anders als bei Tatlow stets die Rolle des Tanzes sowie des enkulturierten und kulturprägenden Körpers im Zentrum meines Interesses standen, und ich habe diese Ideen 1996 (Nürnberger 1996:bes. 253-260) erstmals etwas näher ausgeführt.  blue2_5.gif zur Textstelle

144 Der Begriff 'Volkstanz' bezeichnet hier Tänze, die zumindest überwiegend der Unterhaltung dienen und die relativ geringe technische Virtuosität verlangen. 'Volk' steht hier für das Charakteristikum der Markierung lokaler Identität durch Tanz, aber auch für den allgemeinen Zugang, den nichtelitären Charakter der Tanzform. Viele dieser Tänze stehen in einer mehr oder weniger engen und mehr oder weniger historischen Beziehung zu Ritualtanzformen. Im selben Ausmaß, wie rituelle Bedeutungen allmählich in das Unbewusste der Kulturträger absinken, verallgemeinert sich meist auch die sozio-religiöse Herkunftsgruppe der Tänzer (vgl. Maitänze in Europa). Volkstänze können über ihre lokalen Grenzen hinaus populär und so zu Gesellschaftstänzen werden. Gesellschaftstänze sind unterhaltende Tänze, die eher geringe technische Virtuosität verlangen und die bei unterschiedlichen gesellschaftlichen Anlässen und 'profanen Riten', von Vergnügungstanzveranstaltungen bis zu Empfängen am königlichen Hof getanzt werden. Sie umfassen kurzlebige Modetänze, wie Twist oder Hip Hop, ebenso wie 'klassische' Vergnügungstänze, wie Walzer oder Tango. Sie kennzeichnen meist eher eine soziale Schichte als eine Lokalgruppe, können von verschiedenen Nationalitäten getanzt werden und Stilmerkmale fremder Völker beinhalten. Sowohl Volkstänze als auch Gesellschaftstänze können zu Kunsttänzen weiterentwickelt werden, die Begabung und langes Training erfordern.  blue2_5.gif zur Textstelle

145 Der Begriff 'Ethnotanz' bezeichnet hier Tänze außereuropäischer Herkunft, parallel zur Bedeutung des Begriffs Ethnologie im deutschen Sprachraum. Ethnotänze umfassen Volks-, Ritual- und Kunsttänze, sowie deren Übergangsformen, welche für die Bühne zu Kunsttänzen gestaltet wurden. Das Ausgangsmaterial des Ethnotanzes sind ethnische (d.h. außereuropäische) Tänze. Es findet hier ein Übertragungsprozess des Tanzmaterials für den westlichen Theaterraum statt, dessen Problematik mit dem Prozess der Übersetzung eines Textes von einer Sprache in die andere vergleichbar ist. Steven Murillo (1983:22), der das Problem der Authentizität von Ethnotanz behandelt, spricht deshalb von 'Repräsentationen' originaler Tänze.   

Der Begriff 'World Dance' bezeichnet hier modernen und postmodernen Kunsttanz, der gleichermaßen Gestaltungsmaterial aus ethnischem Tanz und aus europäischem Tanz mit einbezieht.  blue2_5.gif zur Textstelle

146 La Argentina hieß mit bürgerlichem Namen Antonia Mercé (1890-1936). Sie wurde in Buenos Aires in Argentinien geboren. Ihre Karriere als schließlich weltweit gefeierte Tänzerin begann mit ihrem Debüt als Neunjährige an der Königlichen Oper in Madrid und erreichte ihren Höhepunkt in den Zwanzigerjahren. 1929 gastierte sie im Kaiserlichen Theater in Tokyo (Haerdter & Kawai 1988:60).  blue2_5.gif zur Textstelle

147 Tanz war zwar traditioneller Bestandteil des Nô, beschränkte sich aber weitgehend auf abbildungsfreie, nichtdarstellerische Formen.  blue2_5.gif zur Textstelle

148 Hijikatas bürgerlicher Name lautet Kunio Motofuji (Haerdter & Kawai 1988:43)  blue2_5.gif zur Textstelle

149 Hijikatas breit kolportierte Formel zu dieser Frage lautete: "Schwanensee paßt nicht zum japanischen Körper" (Haerdter & Kawai 1988:24). Im Gegensatz zu dem europäischen Körperideal der Jugendlichkeit und der gestreckten Gliedmaßen, von Schmuck und Kostümen auf weiten Bühnenräumen sehen Vertreter des Butoh als typisch japanische Ideale das Greisenalter, die Hockstellung und gekrümmte Gliedmaßen, die Nacktheit und Leere auf kleiner Bühne (ibid.: 51, 98).  blue2_5.gif zur Textstelle

 

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"Tanz/Ritual - Integrität und das Fremde"

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Univ.-Doz. Dr. Marianne Nürnberger Uni Wien