Habilitationsschrift
Marianne Nürnberger

Tanz / Ritual -
Integrität und das Fremde

Copyright (C) Marianne Nürnberger 2001
Nachdruck und Veröffentlichung auf Medien aller Art, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin gestattet.
PC-print nur für den persönlichen Gebrauch genehmigt.

Die Verleihung der venia docendi "Ethnologie des Tanzes, Rituals, der Körperlichkeit (Ethnology of Dance, Ritual, the Body)" erfolgte am 25.01.2000 am "Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie" der Fakultät für Grund- und Integrativwissenschaften der Universität Wien.

1. Teil


Danksagung

 

Ich verdanke folgenden Personen und Institutionen Unterstützung bei der Verwirklichung der vorliegenden Arbeit:

Die Österreichische Akademie der Wissenschaften gewährte ein dreijähriges APART- Stipendium für die Forschungsarbeit.

Der Fonds für Wissenschaftliche Forschung gewährte ein einjähriges Charlotte-Bühler-Habilitations-Stipendium für Frauen für die Fertigstellung und Niederschrift der Arbeit.

Am ehem. Institut für Völkerkunde der Universität Wien wurde ich in der schwierigen Anfangsphase durch Thomas Fillitz und durch Manfred Kremser mit Ermutigung, Literaturhinweisen und Ratschlägen versorgt. In der Endphase der Arbeit fand ich am Institut für Geschichte der Medizin derselben Universität fachkritische Unterstützung durch Armin Prinz, Department Ethnomedizin.

Die Direktoren, Angestellten, Lehrer und Freunde der Chitrasena School of Dance in Colombo, der Academy of Indian Dance und des Bharata Vidiya Bhavan, der Tanzschule von Vijayambigai Indra Kumar, die Tänzerin Shobana Jeyasingh und ihre Angestellten, das Tänzerpaar Pushkala Gopal und Unnikrishnan, alle in London, die Tänzerin Nilima Devi in Leicester, die Leiterin und die Angestellten von Sampad in Birmingham, die Leiterin Radha Anjali des indischen Kulturvereins Natya Mandir in Wien und ihr indische Lehrmeister Adyar K. Lakshman, der künstlerische Leiter der Wiener Internationalen Tanz-Festivals, Gerhard Brunner, die Leiter des ImPuls Tanz Festivals und der Sommer- und Wintertanzwochen, Karl Regensburger und Ismael Ivo, sowie das Butoh-Tänzerpaar Ko Murobushi und Usara Kusanagi, alle in Wien, haben mich in außerordentlich geduldiger Weise mit Informationen versorgt und mir schriftliche sowie Photo- und Videomaterialien zukommen lassen. Viele andere Künstler, Ritualtänzer und Kulturschaffende meiner Heimat und aus dem Ausland, die hier nicht alle genannt werden können, haben in unterschiedlicher Weise, durch die Interviews, die sie mir gaben, durch Ratschläge und Bemerkungen, durch ihre Auftritte und ihr Schaffen zu dieser Arbeit beigetragen und werden an den entsprechenden Stellen darin genannt und gewürdigt.

Erika Neuber, Bibliothekarin des Instituts für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie und Ruth Kutalek, Assistentin des Instituts für Geschichte der Medizin, beide Universität Wien, Iris Kuschke, Bibliothekarin des Kölner Tanzarchivs sowie die Angestellten der New York Public Library for the Performing Arts unterstützten in freundlichster Weise meine Literaturrecherchen.

Den innigsten Dank schulde ich jedoch meinem Gefährten, dem Komponisten und Musiker, Piloten und Techniker Robert Julian Horky, für seine Assistenz und Hilfe bei Aufnahmen und Interviews, für seine treffende Kritik, für inspirierende Diskussionen mit ihm und für seine Wärme und Geduld, die er mir gegenüber während all der Zeit bewies, in der diese Arbeit nicht nur den größten Teil meiner Zeit beanspruchte, sondern auch meiner emotionalen und seelischen Energien.

 


Einführung

Zum Verständnis dieser Habilitation, Thema, Forschungsansatz und Methode.
Interkulturalität und Integrität. Der historische Rahmen.

 

 

Zum Verständnis dieser Habilitation (Vortrag zur Habilitation)

 

Ich habe ein Thema aufgriffen, das innerhalb der Theoriengeschichte nicht nur der Ethnologie, sondern auch der Soziologie oder Kunstwissenschaft vor der Jahrtausendwende wohl eher en passant und marginal behandelt wurde - der vielgestaltige Gebrauch von kulturgeprägter Bewegung, Gesten, Ritual und Tanz in der Begegnung mit dem Fremden, das heißt vom nächsten Fremden des anderen Geschlechts, bis zum entferntesten Fremden aus jeder kulturellen Sichtweise: dem ungesicherten und unbekannten Schicksal und damit der Welt der Götter und Dämonen.
      Dieses Thema bot mir Gelegenheit, eine spezielle Sichtweise auf die Zusammenhänge zwischen Körperlichkeit und Kultur zu entwerfen, und diese Sichtweise berührt wiederum sehr grundlegende und auch erkenntnistheoretische Fragen.
      Weltweit haben die Instanzen gesellschaftlicher Kontrolle, wie Heer, Hof, Staat, Kolonialmacht, Klerus, Erziehung und Kultur bestimmte Facetten von Ritual, kodierter Bewegung und Tanz vereinnahmt und gefördert und andere gebrandmarkt und verfolgt. Es gibt Kulturen, in denen Tanz wie in Österreich eine vergleichsweise eher marginale Rolle spielt. In zahlreichen anderen Kulturen, wie insbesondere auch in afrikanischen sowie süd- und ostasiatischen und in den meisten schamanistisch orientierten Kulturen, kommt dem Tanz als Kunst-, Geschicklichkeits- und Lebensform jedoch der zentralste Platz innerhalb der Kultur zu, um den herum sich alle anderen Künste und Kunsthandwerke organisieren. In den westlichen Kulturen wird ein Bedürfnis nach Tanz oder ritueller Körperbewegung im allgemeinen als unnötig erachtet, aus der schulischen Erziehung ausgeklammert und das Thema Tanz auch in der Forschung vernachlässigt. Für viele andere Kulturen, wie zum Beispiel jenen der Minianka in Westafrika (Diallo und Hall 1989) ist Tanz notwendiger Bestandteil des Lebens, der Religion und Weltsicht, der Arbeit und Medizin oder, wie in Sri Lanka (Nürnberger 1998) und Bali (Rein 1996) in neuerer Zeit auch des Pflichtschulunterrichts. In Kulturen, in denen Tanz eine zentrale Bedeutung hat, kann sich Tanz in seinem integritätserhaltenden Potential in selbstverständlicher moralischer Würde und Ethik entfalten. In günstigem Umfeld entwickelt sich Tanz zu einem geschickten Mittel sozialer, psychischer und physischer Therapie weiter, wird Tanz als sinnvolle Arbeit betrachtet und dementsprechend geachtet. Tanz ist nicht per se von untergeordneter Bedeutung – er wurde vielmehr für lange Zeit in unseren Breitengraden an den gesellschaftlichen Rand gedrängt, und diese Marginalisierung bedeutet Verlust an einzigartigem Potential.
      Tanz ist nicht bloß physisch manifestierte Idee - Tanz ist aus sich selbst heraus bestehender, direkter Entwurf. Tanz ist vor allem beherrschte und projizierte Kraft und wird darum unter anderem weltweit als wichtigstes Mittel zur Erzeugung ritueller Intensität und zur Veränderung von Bewusstseinszuständen benutzt (Bourguignon 1968; Tart 1969, u.a.). Norbert Elias, Foucault, Bourdieu und andere haben den menschlichen Körper als kulturgeprägt erläutert. Bryan Turner (1984), Lyon und Barbalet (1997) und andere haben entgegengehalten, dass der Körper aktiv Kultur prägt, Kultur erarbeitet. Ebenso ist Tanz kulturgeprägt und prägt und erarbeitet Tanz Kultur. Jedenfalls wirken Tanz und andere kulturgeprägte Bewegungstechniken nie eindimensional oder linear, sondern zum Beispiel im Zusammenspiel zwischen den Persönlichkeiten der Tanzenden und jenen des Publikums und jedenfalls immer in einem kulturellen Umfeld. Wenn in diesen Gruppierungen einander kulturell Fremde gegenüberstehen, kommt es zu sehr komplexen Prozessen zwischen Abwehr und Überschwemmung, zwischen Faszination und Überforderung, wie sie in den letzten Kapiteln dieser Arbeit überblicksartig zusammengefasst werden.
      In diesem komplexen Prozess aus Wirkung und Gegenwirkung sind verschiedene Elemente der Integritätserhaltung oder auch -zerrüttung zu lokalisieren. Diese betreffen einerseits Kultur, Ästhetik, Politik, Weltsicht, Religion, andererseits aber auch weniger rationalisierbare Facetten, wie Abwehr, Verlangen, Begierden und Projektionen. Spezifische Aufführungssituationen steuern und kultivieren diese Dimensionen entweder bewusst, wie im rituellen Umfeld, etwa dem Sēma der Sufis, dem Ritualtanz der Singhalesen oder der modernen, bewusst sozialtherapeutisch wirksamen tanzkünstlerischen Ereignisse. In anderem Kontext entfalten diese Dimensionen eher chaotische, zufallsgesteuerte und individuell unterschiedliche Wirkung, die durch kulturelle Prägung nicht viel von ihrer Unberechenbarkeit, Einzigartigkeit und Eigenwilligkeit verliert – wie viele der Bühnenaufführungen außereuropäischer Stile im Rahmen multikultureller Unterhaltungstanzveranstaltungen.
      Es fasziniert an diesen Prozessen jedenfalls, dass sich hier sozusagen direkt am Körper grundlegendste Mechanismen kultureller Geburt, kultureller Gestaltung erforschen lassen, die - und das erscheint sehr wesentlich - ohne Erfassung der emotionalen, der bewusstseinsverändernden und der befindlichkeitsverändernden Komponenten körperkünstlerischer Aktivitäten nur bruchstückhaft erklärt werden können. In diesem Sinn wird Kultur durch zutiefst verdrängbare Bedingungen genährt, die deshalb auch imstande ist, ebenso faschismusartigen Fanatismus wie großartige integritätserhaltende Leistungen hervorzubringen.
      Aus erkenntnistheoretischem Interesse motiviert, orientiert sich der Aufbau dieser Arbeit zunächst entlang der Konstitutiven dessen, was in einem der zentraleren Kapitel der Arbeit "die Wirkkraft" von Ritual und Tanz genannt wird. Als Komponenten dieser Wirkkraft kamen hier zunächst einmal, so wie dies im Kapitel "Grundlagen" dargestellt wird, Facetten zum Vorschein, die keineswegs per se auf das Vorhandensein eines irgendwie bedeutenderen interkulturellen Potentials von Tanz und anderen Köperkünsten schließen lassen würden:
- Das betrifft zum Beispiel breite Bereiche der Ästhetik des Körpers, die radikal kulturabhängig sind und die interkulturelle Wahrnehmung empfindlich beeinträchtigen können. Beispiele reichen von der von den Wiener Kollegen Prinz und Wernhart gewürdigten Palette an rituellen und ästhetischen Körpermutilisationen bei verschiedenen Ethnien, insbesondere auch afrikanischen sowie süd- und südostasiatischen, bis hin zur Ästhetik des Alters in Japan und der Ästhetik der Jugendlichkeit in Europa, wie sie sich etwa in Butoh und Ballett finden.
- Das betrifft ganz sicher auch die Vielfalt der kulturgebundenen Assoziationen von Körperlichkeit und Gesellschaft und das Gebiet der Wertzuschreibungen, der Dämonisierung des Körpers und dergleichen.
- Dies betrifft zudem auch die Kulturbedingtheit der Differenzierung von angeblichen "Urgesten" der Neugeborenen bis hin zu den bedeutungstragenden und sprachbegleitenden Gesten von Erwachsenen. Denn obwohl die Entwicklung des menschlichen Repertoires an bedeutungstragenden Bewegungen (Kestenberg et al.:1999) universalen biologischen Gesetzen folgt, hat – wie schon Birdwhistell (1970) nachwies – kaum eine der komplexeren Ausdrucksgesten in zwei Kulturen der gegenwärtigen Welt genau dieselbe Bedeutung.

Die im Kapitel "Grundlagen" dargestellten kulturellen Besonderheiten genügen jedenfalls zu einer Absage an eine idealisierende und romantische Vorstellung über eine vorgeblich schrankenlos international verständliche und überall irgendwie ähnliche Tanzsprache. Es gibt keine solche. Eine transkulturelle Verständigung allein auf Basis einer "ur-emotionalen" und quasi transkulturellen Qualität des Tanzes ist nicht möglich. Denn Tanz ist nun einmal ein komplexes, kultiviertes und ebenso auch kultivierendes Phänomen, das durchaus konträre Reaktionen zwischen ZuseherInnen oder auch AkteurInnen verschiedener soziokultureller Herkunft hervorrufen kann.
      Die erste Sichtung, die im Kapitel "Grundlagen" erfolgt, erbrachte aber auch, dass sowohl dem menschlichen Körper als auch menschlichen Emotionen quer durch alle Kulturen kognitives Potential zueigen ist. Schon das Habitus-Konzept von Mauss beinhaltet ja eine Sichtweise der Techniken des Körpers als Quelle von Sozialisation. Kultur wird über den Körper – und auch über emotionale Kanäle gelehrt und gelernt. Körperliche Wege zur Erkenntnis und Spiritualität sind Bestandteil vieler Religionen.
      Der Musik- und Tanzethnologe John Blacking (1986:7) prägte den Begriff der "dance mode", der Tanz als eine angeborene Art kognitiver und sensorischer Kapazität würdigt, als eigenständige und grundlegende Denkweise (mode of thought). Eine zweite Definition von Tanz durch Blacking (1986:6) lautet: dance is an innate, species-specific set of cognitive and sensory capacities which human beings are predisposed to use for communication and making sense of the world. Ebenso spricht Allegra Fuller Snyder (1986:22) von Tanz als einem transformierenden Prozess, der Veränderungen der kognitiven Prozesse nach sich zieht.
      Andererseits ergibt sich aus der kulturindexikalischen Eigenschaft von Tanz auch seine sehr spezielle Eignung für holistische Annäherungen an fremde Kulturen, sofern das Erleben des Tanzes und der kulturspezifisch geprägten Körperbewegung durch Begleitinformationen über die jeweilige Herkunftskultur ergänzt wird. Bis zu einem gewissen Grad ist in ähnlichem Rahmen wie bei Körpertechnik oder Emotionsbewältigung auch stark kulturell determiniertes körperkünstlerisches Erleben erlernbar, nachvollziehbar und analysierbar. Eine solche Analyse sollte, den vorangehenden Einsichten folgend, ohne die Bereitschaft zum Körperexperiment und zum experimentellen Erfahren des emotionalen Kontextes - als unvollständig bezeichnet werden.
      Diesem Gedanken wird in den etwas ausführlicheren Erkundungen zu den sehr komplizierten Phänomenen der Bewusstseins- und Befindlichkeitsveränderung durch Tanz und rituelle Bewegung sowie den Möglichkeiten und Grenzen ihrer transkulturellen Übertragbarkeit unter Erklärung und Anwendung der kinetologischen Methode in dem Kapitel "rituelle Wirkkraft - das transkulturelle Potential" nachgegangen. Diese Methode basiert auf der Verknüpfung von zwei Ebenen der Untersuchung: Zum einen wird der jeweilige kulturelle Kontext des Kunst- oder Ritualereignisses mit den hier diskutierten konventionellen Mitteln der Kultur- und Sozialanthropologie erschlossen, zum anderen wird eine mehr physiologisch und psychologisch orientierte Deutung des unmittelbaren Ausdrucks und Intentionscharakters von Körperbewegung und Musik miteinbezogen, um genauere Belege zur Wirkung und Bedeutung von Tanz- und Ritualbewegungen zu erhalten.
      Auch Birdwhistell (1970), der wie etwa auch Hall (1969, 1973) vorrangig die kulturelle Prägung körperlicher Ausdrucksbewegung betont, räumt ein, dass es Gesten gibt, die transkulturell beobachtbar sind, und zwar jene Gesten, die mehr zu den motorisch-physisch bedingten Notwendigkeiten gehören, wie Aspekte des Gehens oder Hebens. Obwohl auch diese Tätigkeiten durch gesellschaftlich geprägte "Techniken des Körpers", im Sinne von Mauss (1935) überlagert werden. Es ist leicht vorstellbar, dass zu diesen transkulturellen Gesten zum Beispiel das Aufreißen und Herausquellen der Augen im Stadium der Besessenheit durch Gottheiten gehört, wie es sich zumindest ebenso bei den Trancer/innen des Voodoo wie auch der sri-lankischen sogenannten "Teufelstänze" (der Begriff "devildance" ist ein bis dato in Sri Lanka verwendetes Derivat des Kolonialismus) findet. Das gesamte Ambiente, die Mythologie, die Kodifizierung der Tanzbewegungen, die soziale Herkunft und Prägung der Tanzenden, die zugrundeliegende Ästhetik, sind indes weitgehend kulturabhängig. Zu den mehr physisch oder biologisch zuordenbaren transkulturellen Erscheinungen gehören unter anderem Gesten, die zu den archaischsten Kommunikations- und Grußformen gehören, wie etwa der durch die Humanethologen Eibl-Eibesfeld, Rinde und Polhemus belegte sogenannte "Augengruß". Über diese ursprünglichsten Gesten hinausgehend, wird in dem Abschnitt über die transkulturelle Übertragbarkeit von Wirkkraft in Anknüpfung an Erkenntnisse der Graphologie und der Bewegungsanalyse der Gruppe um Kestenberg (Kestenberg et al.: 1999), über die kinetologische Analyse versucht, elementare direktionale Symboliken komplexer kulturgeprägter körperlicher Bewegung in ihrer Verknüpfung mit intentionalem Handeln herauszuarbeiten.
      Die kinetologische Analyse beinhaltet ein zweifaches Herangehen über eine ethnologische und eine Bewegungsausdrucks-Analyse, was dem Umstand Rechnung trägt, dass Menschen aller Erdteile von vergleichbaren physischen und emotionalen Prämissen ausgehen, dass sie aber in kulturabhängig unterschiedlicher Weise Bewegungstechniken zur Übermittlung von Bedeutungsinhalten und darauf aufbauende unterschiedliche körperorientierte Riten und Kulttänze entwickelt haben. Diese Bewegungstechniken, Riten und Kulttänze, Heiltänze und Sozialisationstänze sind nicht bloß Ausdruck menschlicher Schaffensfreude. Sie sind auch geschickte Mitteln zur Erreichung unterschiedlicher Heilungs- und Sozialisationsziele. Snyder (1986:22), betonte, dass das Ritual, in gewissem Sinne, der kognitive Prozess selbst, greifbar gemacht, ist. Auch die hier präsentierte kinetologische Analyse versteht sich als ein Beitrag zur Erforschung ritueller Rationalität als einer Leistung sinnlicher und emotionaler Intelligenz, welche auf Wechselwirkungen zwischen Wahrnehmung,  Emotionalität, Vorstellungskraft und Physis aufbaut, ähnlich wie dies zur Zeit auch Anliegen der ethnopsychologischen Forschung bzw. der transpersonalen Psychologie, Psi-, Schamanismus- und Heilungsforschung zum Beispiel durch Wilber, Walsh, Taft, Andritzky und Quekelberghe ist. Dieses Anliegen erschüttert populäre Vorstellungen über einen irgendwie chaotischen, weil nicht logisch nachvollziehbaren oder irrationalen Charakter von Riten. Der kinetologische Ansatz wendet sich sowohl gegen die nach wie vor kursierende kartesische Trennung von Körper und Geist, als auch gegen die abwertende Sicht von Riten als Handlungen, die ausschließlich anderen als den vorgeblichen Zielen dienen. Hierzu gehört letztlich ja auch die These vom Ritual als bloßes Mittel sozialer Kontrolle, als Zwang zum Gruppenzusammenhalt und Ideologie wie bei Durkheim oder Bloch, vom Ritual als bloße Erleichterung von Übergängen wie bei van Gennep oder Leach und vom Ritual als konfliktentlastende Gegenstruktur wie bei Victor Turner – wobei allen diesen Blickwinkeln im Sinne von Teilaspekten selbstverständlich nach wie vor große Relevanz zukommt. Es bleibt zu hoffen, dass die in diesem Buch präsentierten Ergebnisse helfen, rituelle Rationalität über die Nachvollziehbarkeit ritueller Wirkkraft ernster als bisher zu nehmen, neue Fragestellungen aufzuzeigen und die Beschränkungen verbreiteter Sichtweisen zu Ritualen, zum Beispiel als vornehmlich schauspielerische, mithin irgendwie "unechte" oder als deutlich glaubens- aber niemals erkenntnisorientierte Aktivität, hinsichtlich ihrer Beschränktheit und eigentlich auch Arroganz, offen zu legen. Zugleich soll diese Arbeit dazu beitragen, zu hochgesteckte, idealisierende Erwartungen an rituelle Traditionen fremder Kulturen, wie sie etwa überwiegend durch die Kurse und Publikationen der New-Age-Bewegung kolportiert wurden und immer noch werden, auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren.
      Die transkulturelle Übertragbarkeit ritueller Wirkkraft ist Teil der Untersuchung des komplexen Potentials von Tanz und Ritual in bezug auf die Aufrechterhaltung kultureller und persönlicher Integrität in der Begegnung mit dem Fremden. Besser erforscht und mit viel Erfolg auch gelebt wird die Praxis interkultureller Tanzprojekte, die zeitgenössischen Tanz in das Zentrum der Begegnung stellt. Hier erweist sich tagtäglich die kulturelle, soziale, psychologische und medizinische Wirkkraft, indem zum Beispiel Tanz in unterschiedlichstem kulturellem Umfeld in Ost und West die verschiedensten Facetten kultur- und persönlichkeitsintegrativer Bedürfnisse abdecken kann. Hier war in den späten 90er Jahren – als die Materialien für diese Arbeit gesammelt wurden – besonders die Tanzkultur Englands der kritischen Analyse wert, vor allem in bezug auf das, was prinzipiell durch interkulturelle Tanzarbeit in den Sektoren Unterricht und Sozialarbeit geleistet werden kann, aber auch wegen des Beitrags virtuoser Bühnentanzkunst zum integrativen Funktionieren interkultureller Begegnungsfelder. Und zwar vom ersten Begegnungsfeld, der relativ konventionellen Darbietung ethnischen Tanzes in den modernen Emigranten-Ghettos der Großstädte, bis zu den neuesten Bühnenexperimenten des Worlddance Genres, die alle spezifische und wichtige Bedürfnisse innerhalb einer multikulturellen Umgebung erfüllen. Die internationalen Tanzfestivals und internationalen Tanzworkshop-Reihen Österreichs zur Jahrtausendwende werden als Podien interkultureller Auseinandersetzung über Tanz, die nahezu vollständig von individuellen Initiativen abhängen, kritisch gewürdigt. Darin werden auch Unterschiede in und Auswirkungen der Kulturförderungspolitik an den Beispielen Österreichs und Großbritanniens sichtbar. Es ist deutlich geworden, dass die relative Konjunktur des Tanzes in Österreich im Untersuchungszeitraum noch auf fragiler Basis ruhte, von der Initiative und dem Einsatz weniger Menschen abhing und noch kaum sinnvoll in eine nationale Integrationspolitik oder Integrationspädagogik eingebunden war. Die Kapitel "Multikulturalität und Tanz" und "Die neuen Riten" sind in gewisser Weise auch Brainstorming auf der Suche nach Inspiration der Pädagogik und Sozialarbeit sowie vor allem auch der Kulturpolitik in Österreich, mithin nach einer Übertragung sozialanthropologischer Erkenntnisse in die Praxis. 
      Zwei zentrale, miteinander in wechselseitiger Verbindung stehende Themen dieser Arbeit sind das Verhältnis zwischen Ritual und Bühne einerseits und jenem zwischen Tradition und Moderne andererseits. Einige populäre jedoch veraltete Vorstellungen über diese beiden Themen stehen einer Nutzbarmachung von Tanz und Ritual in der Moderne entgegen. Diese zwei Themenstränge werden entlang von verschiedenen Kapiteln zum Schlusskapitel hin entwickelt, in dem ein dreidimensionales Entwicklungsmodell zu Tanzkunst und Ritual vorgestellt wird. Dieses Modell baut im Wesentlichen auf die im Kapitel "Übersetzbarkeit performativer Traditionen" dargelegten Konzepte der Kunsthistoriker und Kunstethnologen Pavis, Leims und Eco auf. Sie haben in unterschiedlicher Weise lineare Entwicklungsmodelle des Prozesses der Überführung fremder Elemente in die eigene Kultur durch genauere Detailanalysen bereichert und ersetzt. Es erscheinen heute alle Elemente zeitgenössischer Tanzkunst, Ritual, Volkstanz, Ethnotanz, europäischer Kunsttanz, Worlddance usw., inklusive aller je existierenden historischen Stile miteinander durch die virtuelle Möglichkeit des modernen Berufstanzkünstlers aber auch des modernen Ritualspezialisten verknüpfbar, wobei die Art und Vielfalt dieser Verknüpfungen durch ideengeschichtliche, soziale, politische, ökonomische und andere kulturelle Bedingungen und Bedürfnisse geformt, eingeschränkt bzw. gefördert wird.
- In diesem engumschriebenen Kontext kann Vergangenheit zur Zukunft werden und umgekehrt - "der Zeitpfeil seine Entschiedenheit verlieren."
- Hier ist die Domäne der Korrektiven und Re-Interpretationen der Vergangenheit von Ritual und Kunst. Hier werden liminoide Bedürfnisse in marginaler, avantgardistischer Weise erfüllbar, wie anhand der Geschichte des Butoh aus Japan abgehandelt wird. Oder diese Eingriffe erlangen allgemeinkulturelle Bedeutung, wenn sie für gesamtgesellschaftliche Ziele funktionalisierbar sind, wie ich dies am Beispiel des Bharāta Nātyam aus Indien darlege.
- In diesem Entstehungsmodel zeitgenössischer Kunst wirken Strömungen verschiedener Kulturen aufeinander, Aktionen, Reaktionen, Exporte, Importe und Reimporte auch von nahezu "ausgestorbenem" Kulturgut. Hier wirkt ein ständiger Prozess der Ersetzung, Ergänzung und Wiederentdeckung, ohne den Kultur in Zeiten rascher materieller Veränderungen keinen Bestand haben kann.
- Hier relativiert sich auch der Begriff des Primitiven zum zweitenmal. Zunächst hatte ihm, im Kapitel über die rituelle Wirkkraft, das Attribut des "geschickten Mittels" den Boden entzogen. Diesmal relativiert sich der Begriff der Primitivität als ein sehr unterschiedlich gehandhabtes Konzept, dass auch zur Erneuerung politischer, sozialer und thera­peutischer Anwendungen rezenter Kunst dienstbar gemacht wird.
- Hier relativiert sich jedenfalls auch die Idee der Gerichtetheit eines historischen Prozesses "vom Ritual zur Bühne" (Grundidee von V. Turner) oder "von der Bühne zum Ritual" (Grundidee von Innes), jeweils auch mit Fragezeichen ausgestattete Kapitelüberschriften dieser Arbeit, die nur als bestimmte Blickwinkel auf gleichzeitig und auf unterschiedlichen Ebenen stattfindende, einander beständig beeinflussende Bewegung verstanden werden wollen. Dabei soll die Komplexität durch einige (scheinbar) widersprüchliche Inhalte dieser Kapitel noch erhöht wahrnehmbar gemacht werden. So zum Beispiel die Beobachtungen zur Re-Ritualisierung im Bharāta Nātyam unter dem Titel "Vom Ritual zur Bühne?" und die Kritik der Divergenz zwischen Anspruch und exotistischem Gebrauch entlehnter Formen und Inhalte, etwa im Werk Bejarts oder Artauds, im Abschnitt "Von der Bühne zum Ritual?".
- Hier stellt sich auch die Frage nach der Moral und Verantwortung des "World-Artist" und der Kulturpolitik in bezug auf Kulturgestaltung, nach der moralischen Bedeutung liminoider Kunst im Sinne von Victor Turner, also der gesellschaftserneuernden Funktion von Theater, Tanz und Ritual. Hier weitet sich die Arbeit auf allgemeinkulturelle Fragestellungen aus, die an Kunstethnologie und Kunstgeschichte aber auch an Überlegungen zum Verhältnis von staatlicher Macht zu Fragen des Gesundheitswesens und Sozialwesens anschließen.

Foucault hat uns gelehrt, scheinbar "neutrale" Institutionen, wie Spitäler, als Exekutivorgane staatlicher Macht zu verstehen. Ähnlich lässt sich auch Kunstpolitik als Exekution einer staatlichen Macht, als Mittel der Integration oder Ausgrenzung, als Förderung der Vielfalt oder als Wegbereiter kultureller Beliebigkeit im Zeichen ökonomischer Verwertbarkeit analysieren.
      Aus diesen Hauptthemen entwickeln sich schließlich: - das Anliegen an die Begegnungspolitik gegenüber fremder Tanzkultur, - die Erwägungen zur moralischen Verantwortung der Kunst und - die diagnostischen Orientierungspunkte anhand der interkulturellen Indexikalität von Tanz, welche die abschließenden Teile der Arbeit bilden.

 

 

Thema, Forschungsansatz und Methode

 

Der Titel "Tanz/Ritual – Integrität und das Fremde" verweist auf jene kulturelle und rituelle Leistung, die in Form von Tanz und anderen virtuosen Bewegungsformen - von sakralen Gesten bis zur modernen Performance-Kunst - erbracht wird, und zwar insbesondere dort, wo es in der Auseinan­dersetzung mit dem nahen und fernen Fremden um die Erhaltung und Erneuerung der eigenen kulturellen und persönlichen Integrität geht. "Tanz / Ritual" ist hier eine Art Platzhalter für ein umfassenderes Gebiet, eine Verkürzung oder auch Metapher für einen Bereich, der ein Schnittsegment zwischen Körperlichkeit, Kunst und Kultur umfasst. Kulturelle Dialoge und interkulturelle Prozesse auf dem Gebiet virtuoser Bewegung, des Tanzes, des Rituals und der Bühnenkünste können von vielen Gesichtspunkten her beschrieben werden. Die Beschreibung aus dem Blickwinkel der Ethnologie bietet die Möglichkeit, politische, historische, gesellschaftliche, ideologische, ästhetische, ethische und sozio-psychologische Bereiche für eine kultur­vergleichende Analyse heranzuziehen. Die vorliegende Arbeit fällt also nicht in den Bereich der Tanz- und Theaterethnologie, sondern sie wendet aus dem generellen Blickwinkel der Ethnologie in übergreifender Weise Ansätze an, die sich mit kulturgeprägter Bewegung, Tanz und Ritual im Spannungsfeld zwischen Körperlichkeit (in der älteren Literatur: "Leiblichkeit") und Kultur auseinandersetzen. Es werden in dieser Arbeit Aussagen verschiedener Fachrichtungen, neben der Tanz- und Theaterethnologie, der Ritual- und der Performanceforschung sowie der sozialanthropologischen body and society - Forschung vor allem auch Erkenntnisse der Ethnosoziologie, Ethnomedizin und Ethnopsychologie und der Erkenntnistheorie zusammengeführt und auf die Analyse angewendet.

Um interkulturelle Prozesse nachvollziehbar zu machen, ist es oft notwendig sowohl auf breitester als auch auf detailliertester Ebene zu argumentieren. Es wurden daher in die vorliegende Untersuchung sowohl vergleichende strukturelle, funktionale und historische Überlegungen miteinbezogen als auch zu einzelnen Fragen empirische Datenerhebungen (Interviews mit Tänzer/innen und Vertreter/innen von Institutionen, Protokolle von Vorführungsbesuchen, etc.) und Recherchen anhand des Studiums schriftlicher und bildlicher Quellen (Biographien, Videos, Filme, Aus­stellun­gen) durchgeführt. Ich habe von 1994 bis 1998 dreißig Personen, die interkulturell auf dem Gebiet des Tanzes arbeiten und zwölf Ritualtänzer(1) in qualitativen Interviews, die sich in der Regel über mehrere Tage erstreckten, persönlich befragt. Zudem flossen aus einer standardisierten Befragung im Jahr 1980 von 54 Lehrern und Schülern einer modernen Tanzschule in Colombo weitere Ergebnisse in die vorliegende Untersuchung ein. Die Teilnahme an Konferenzen und informellen Gruppengesprächen mit Kulturschaffenden und Wissenschaftlern in Wien, London und Colombo Mitte bis Ende der 90er-Jahre, diente der Vertiefung des Themas. Diese Arbeit verwertet zwei kinetologische Analysen von Tanzereignissen als methodisch gebundene Inhaltsanalysen und mehr als vierzig offene Analysen von Tanzereignissen. Sie bezieht meine Arbeit als Leiterin von 12 Workshops mit Gruppen von 5 bis 40 Erwachsenen, davon 4 Einzelveranstaltungen und 8 Serien von je 12-14 Treffen, zu den Themen konzentrative Bewegung und Techniken ritueller Befindlichkeitsveränderung mit ein. Weiters wurden aus zahlreichen Individual- und Aggregatdaten, aus Filmen, Statistiken, Berich­ten von Tänzer/innen oder Tanzinstituten, und natürlich aus der gängigen Fachliteratur Sekundäranalysen erstellt. Die Arbeit präsentiert Untersuchungsergebnisse sowohl anhand von Einzelbeispielen, als auch als Trends und Zeitreihen im Längsschnitt, als auch als Querschnitte durch verschiedene Kulturen, v.a. Europas und Asiens aber auch Einzelbeispiele von anderen Kontinenten.

Tanz ist im Sinne von Allegra Fuller Snyder (1986:25f) ein transformierender Prozess, der Veränderungen des Bewusstseins (ASC), Veränderungen der Aufnahme sensorischer Stimuli, der emotionalen Verfassung, der Organisation kognitiver Prozesse sowie der normalen Abfolge motorischer Impulse mit einbezieht, wobei letzteres nach Fuller Tanz ja geradezu definiert. Im Jahr 1980, das ich zur Gänze in Sri Lanka verbrachte, übte ich abends die untertags beobachteten Techniken und Etüden des srilankischen Ritualtanzes. Unter der Anleitung mehrerer Lehrer unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse wurde ich in Sri Lanka in verschiedene Meditations- und Ekstasetechniken eingeführt und begann noch im selben Jahr mit den transformierenden Möglichkeiten außeralltäglicher Konzentration und Bewegung zu experimentieren. 1982 begann ich dann, diese Wirkungen mit kleinen Gruppen von Gleichgesinnten weiter zu erforschen. In Tarthang Tulkus Buch über die Kum Nye-Übungen des tibetischen Buddhismus, dass ich 1987 für mich entdeckte, fand ich viele Parallelen zu den von mir spontan entwickelten Übungen. Ich hielt in der Folge verschiedene Workshops in zumeist kleinem Rahmen im In- und Ausland über die Zusammenhänge zwischen konzentrativer (2) körperlicher Bewegung und Befindlichkeitsveränderung ab, die meisten davon über mehrere Jahre im Tai Chi-Verein Shambhala in Wien.

Es ist ein Verdienst der modernen Tanzanthropologie seit den Fünfzigerjahren, dass Bewegungskunst und Tanz in der westlichen Hemisphäre wieder als eigenständige kulturelle Leistung einer sozialwissenschaftlichen Analyse wert erscheint. Die im Westen bis heute dominierende, judeo-christlich und kartesisch geprägten Weltanschauung, geht von einer Trennung von geistiger, gedanklicher Gehirnleistung (englisch 'mind', im folgenden 'Geist') und physisch-emotionalem Körper (im folgenden 'Körper') aus und von einer ethischen Notwendigkeit der Subordination des Körpers unter den Geist. Tanz ist aufgrund dieser religiösen und philosophischen Vorbehalte bei uns aus dem sakralen Bereich verbannt und in den Bereich des bloß 'Unterhaltenden', oft auch des 'Lasterhaften' verwiesen worden. Obwohl der pädagogische und sozialisierende Wert eines Unterrichts von Gesellschaftstänzen selten in Frage gestellt, sondern zumeist geradezu als Bildungsprivileg der Jugendlichen höherer Stände gehandhabt wurde, erschien doch Körperlichkeit häufig ganz allgemein, bewusst oder unbewusst, als dem Bereich der 'Natur' und der 'Wildheit' zugeordnet und wurde dann oft ganz selbstverständlich als dem Begriff der 'Kultur' entgegengesetzt aufgefasst.

Dennoch kommt bis heute auch in unserer Hemisphäre kaum ein wichtigeres Ritual, sei dies nun sakraler oder profaner Art, ohne das Element der festgelegten und koordinierten, bis zu einem gewissen Grad auch virtuosen und trainierten, also auch choreographierten körperlichen Bewegung aus. Dabei fungiert choreographierte Bewegung nicht nur als 'Rahmen' für soziale Anlässe, sondern konstituiert und formt diese Ereignisse bisweilen geradezu. Tänzer im engeren Sinn - und ihre Begleitmusiker - sind außerhalb des Westens (3) oft genug Spezialisten des sozialen Zusammenhaltes in rituellen Situationen. Manchmal sind sie die einzigen, die aufgrund ihrer Ausbildung, ihrer Fähigkeiten und ihres Wissens diese Rolle ausüben. Tanz findet dann nicht so sehr 'in einem sozialen Kontext' statt, sondern ist vielmehr ein wesentlicher sozialer Kontext, ein konstitutiver und fundamentaler Prozess der Gesellschaftlichkeit, ähnlich, wie dies Blacking (1976:50f) für die Rolle der Musik beim Tschikona-Ritual der Venda festgestellt hat. In Analogie zu Blackings Aussagen über Musik kann auch von Tanz gesagt werden, dass Tanz selbst zuweilen den 'Kontext' liefern kann, in dem andere Ereignisse stattfinden - und ohne den diese nicht stattfinden könnten. Dies gilt auch für die Tanzriten Sri Lankas (Nürnberger 1994, 1998), in denen sich nicht nur Zuseher und Patienten, sondern auch die begleitenden Trommler nach den Ritualtänzern orientieren.

Insbesondere in den Kulturen des Westens haben Tänzer (4) - mehr noch als die ebenfalls häufig marginalisierten Musiker (z.B. Stokes 1997: 674f) - ambivalenten Status, was mit der historischen Entsakralisierung des Körpers in Zusammenhang steht und damit, dass Tanzkunst - ohne die quasi 'kulturbefähigende' und 'reinigende' Vermittlung durch ein 'Werkzeug', wie den Pinsel des Malers, den Meißel des Bildhauers oder das Instrument des Musikers - ganz direkt über den Körper ihren Ausdruck findet. Selbst das Ballett, mit seiner höfischen Entstehungsgeschichte, erschien bis vor ganz kurzer Zeit durch diese spezielle historische Bedingtheit mehr als Kunst'fertigkeit' denn als 'Kunst', ohne wesentlichen Anspruch auf den Lorbeerkranz der 'hohen' Kunst und Kultur. Tanz gilt noch immer nicht allgemein als 'richtige' Kunst, genießt auch heute noch nicht denselben Status wie die klassischen 'bildnerische Künste', Malerei und Bildhauerei, oder auch wie die Musik. Tanztheorie wurde nicht nur in Wien auch akademisch marginalisiert und der 'Musikwissenschaft' bzw. der 'angewandten Kunst' zugeordnet. Anders als Musik und bildnerische Erziehung ist Tanz in meiner Heimat Österreich kein Pflichtfach an den allgemeinbildenden Schulen und unter dem globalen und hegemonialen Einfluss westlicher Ökonomie, Ideologie und Lebensweise ist das auch nur in wenigen Ländern anders.

Dennoch beginnen sich seit einigen Jahrzehnten Veränderungen abzuzeichnen. In England hat sich diese Situation vor allem auch im Gefolge der Flucht von Jooss und Laban aus dem von Hitler regierten Deutschland entscheidend verändert. Aus Frankreich, Finnland und anderen Ländern kommen 'tanzfreundliche' Kultursignale und auch in einigen der ehemaligen Kolonialländer erfährt der Tanz – zumindest teilweise auch in einer erfrischenden Abkehr von den Normen der ehemaligen Okkupanten - eine kulturelle Neu- und Höherbewertung. Es muss indes immer noch als provokant erscheinen, bereits in der ersten Zeile einer Habilitation auf eine kulturelle Leistung, die durch Tanz oder Bewegungskunst erbracht wird, hinzuweisen, auf eine Leistung, die noch dazu schon durch den Wortlaut des Titels dem immanent moralischen Bereich der Integrität zugeordnet wird.

Doch damit nicht genug, wird das Leistungsattribut in dieser Arbeit auch noch auf die Auseinandersetzung mit dem Fremden ausgeweitet. Das Fremde wird von vielen Menschen gerade in letzter Zeit und ähnlich wie vor dem Zweiten Weltkrieg als große Gefahr erlebt, als zumindest potentielle Erschütterung des ohnehin krisenhaft gefährdeten Wohlstands, der Sicherheit und somit der 'heimischen Kultur'. Abgrenzung gegen das Fremde wird gerne wieder in reduktionistischer Weise als einzig angemessene Form der Auseinandersetzung mit dem Fremden gesehen und darf dann auch als einziges mit dem Begriff "kulturelle Leistung" apostrophiert werden. Die Fruchtbarkeit gegenseitiger Prozesse der Aneignung von Kultur wird unter vielen Vorwänden verleugnet.

Es ist nicht zu leugnen, dass mich bis zu einem gewissen Grad ein prinzipieller Widerspruch gegen die wiederaufkommende Tendenz zu Fremdenfeindlichkeit einerseits und gegen die verbreitete einseitige Überschätzung eines bloß verbalgedanklichen Erkenntnisweges bei vorwiegender Leugnung körperlicher und emotionaler Erkenntniswege andererseits zu dieser Arbeit motivierten. Doch ist diese kritische Haltung letztendlich von dem einen menschlichen Wunsch getragen, den ich mit den meisten meiner Fachkollegen teile, der Sehnsucht nach friedlicher Koexistenz möglichst vieler verschiedener Kultur- und Lebensformen. Diese Sehnsucht beinhaltet nach meinem Verständnis geradezu die Verpflichtung, nach Pfaden 'gegen den Strich' zu suchen, nach ungewöhnlichen und auch fächer­übergreifenden Theorien und wenig beachteten Techniken der Erkenntnisfindung, um der Ethnologie als einer moralischen Wissenschaft mit gesellschaftskritischem Potential regenerative Lebendigkeit und Daseinsberechtigung zu geben.

Tanz ist mehr als ein wichtiger Bestandteil von jenem kulturspezifischen Identifikationsfeld, das John Blacking (z.B. 1986: 10f) Körperstil (body style) genannt hat. Er ist eine seiner wichtigsten Quellen. Tanz informiert Körperstile nicht nur in bezug auf den Bewegungsstil, sondern auch auf spezifische Formen der Körperästhetik und auch Körperphilosophie. Durch den Körperstil grenzen sich einerseits Mitglieder verschiedener Länder, Sprachfamilien oder sogar Kontinente, andererseits aber auch sozialer Schichten innerhalb eines Landes als body groups (ibid.) gegeneinander ab. Nicht zuletzt gibt es body groups, die quer zu sozialen oder sogar nationalen und ethnischen Schichtungen verlaufen - man denke nur an den Typ des modernen Handelsvertreters oder aber des Hippies der Sechziger- und Siebzigerjahre. Es ist dennoch kaum zu bezweifeln, dass Fremde zuallererst als Mitglieder fremder body groups wahrgenommen werden. Die körperliche Repräsentation kultureller Zugehörigkeit, die sich in Körperstil ausdrückt, wird leicht als natürliche Divergenz verkannt. Dies ist auch der Grund, warum sich die falsche Verwendung des Begriffs der "Rasse", nämlich als als pseudobiologische Bezeichnung für Gruppen von Menschen, die in Wahrheit keineswegs durch eine gemeinsame Abstammung, sondern vielmehr durch unterschiedliche, einzelne Faktoren, wie z.B. eine gemeinsame Sprache, Bildung, Kultur, Nation, Region oder auch Religion gekennzeichnet sind, wie zum Beispiel im Zusammenhang mit einer angeblichen "Rasse" der "Arier“ (wobei „arisch“ in Wahrheit lediglich eine Sprachfamilie bezeichnet), "Asiaten" (eine in Wahrheit bloß geographische Zuordnung) oder "Juden" (in Wahrheit bloß die Bezeichnung für Angehörige einer Religion), so hartnäckig hält (Montagu 1998). Hier tut sich ein weites Feld für die „Körperlichkeit und Kultur“ - Forschung auch im Kampf gegen neokolonialistische Ideologien auf. Blacking hat überdies im Zusammenhang mit dem Neokolonialismus (Blacking 1986.: 14f) darauf hingewiesen, dass Staaten große Summen in die Erweiterung und Ausbeutung physikalischer Ressourcen stecken, während die Entwicklung und die rechte Handhabung angeborener menschlicher Ressourcen, wie eben jener kreativen Dispo­sitionen, die den Tanz ermöglichen, auf der Strecke bleiben.

Josef Salat, Lektor des Instituts für Völkerkunde der Universität Wien, verstarb 1982 jung an einem angeborenen Herzfehler. Seinem letzten Willen entsprechend wurde am Gang des Instituts ein Aushang als Abschied an uns, an seine damaligen StudentInnen angebracht. Das von ihm geplante kritische Seminar zu Castanedas Werk war an anderem Ort abgesagt. Der Aushang enthielt ein Zitat, das Castaneda seinem Mentor, dem Yaqui Don Juan zuschreibt. Sein Wortlaut war in etwa folgender:
"Für mich gibt es nur das Gehen auf Wegen mit Herz, auf irgendeinem Weg, der ein Herz haben könnte. Dort gehe ich, und die einzige Herausforderung von Wert für mich ist, diesen Weg in seiner vollen Länge zu durchschreiten. Und dort gehe ich - sehend, atemlos sehend." (aus: 'The Teachings of Don Juan: A Yaqui Way of Knowledge' von Carlos Castaneda; Übersetzung d.A..)
Das 'Gehen mit Herz' beschreibt hier - und das ist erkenntnistheoretisch interessant - Intelligenz als eine Summe von Denken und Körperlichkeit, beschreibt Erkenntnis als eine Sache des Seins. Die poetische Metapher des 'Gehens mit Herz' bezeichnet auch einen Weg zur Integrität, einen aufmerksamen und gefühlvollen Weg, der in vollem Bewusstsein, ohne Verdrängungen und angesichts der Gesamtheit psychophysischer Erinnerung beschritten wird - und auf dem man gerade deshalb von belastenden Vorurteilen Abstand gewinnt.
      Tanz und andere virtuose Bewegungsformen mögen Anteile am Irrationalen besitzen und aus diesem Grunde Anziehungskraft auf bestimmte Menschen ausüben und andere abstoßen. Als aus dem Augenblick geborene Virtuosität des Seins können sie indes auch - und das wird zu selten erkannt – selbst Erkenntnis bedeuten. Victor Turner (1988: 27) sagte über das Schauspiel, dass es im Lauf seiner Entwicklung dazu tendiere, ein Weg zu einer genauen Prüfung der Welt zu werden. Dasselbe gilt auch für den dramatischen und sogar für den abstrakten Tanz. Tanz vermittelt nicht nur körperliche Aspekte des Wissens. Tanz ist gerade durch seine emotionalisierende und stimmungssteuernde Kraft auch geistig produktiv, reflektierend, sinnstiftend und spirituell.
      'Fremdheit' wird zuerst und vor allem über Körperlichkeit erkannt. Was hat also nun die körperkünstlerische Auseinandersetzung mit fremden Kulturen mit Integrität und also auch mit Ethik zu tun?

 

 

Interkulturalität und Integrität

 

Moderne globale Kunstgeschichte kann heute nur in einem engen Zusammenhang von interkultureller Wirkung und Wechselwirkung und als Folge von Kolonisation und postkolonialer Migration und Diaspora analysiert werden. Multiethnische Staaten erscheinen heute zerbrechlicher denn je und doch feiert in diesem letzten Jahrzehnt des zweiten Jahrtausends das Schlagwort 'Multikulturalität' seinen Siegeszug unter Verfechtern theo­retischer und praktischer sozialer Anliegen. Während sich die Modewelt mit 'Ethnodesigns' schmückte und Peter Brooks Stück "Mahabharata" im Westen bekannter wurde als der indische Mythos, der Brooks Werk seinen Namen und darüber hinaus wohl nicht viel mehr als einige wenige Themen lieh, begannen sich kritische Stimmen aus dem Osten gegen den selbstgerechten Modetrend des Westens zu stellen.

Ethnische Identität ist seit den 80er und 90er Jahren vermehrt in den Blickpunkt ethnologischer und soziologischer Forschung gerückt (u.a. Barth 1969, Bell 1975, Geerz 1973, Gellner 1983 und 1993). Die traditionellen ethnologischen und soziologischen Definitionen von ethnischen Gruppen wurden von verschiedenen Seiten als statisch, überfrachtet oder additiv abgelehnt. Der Begriff der Ethnizität wurde auf der Suche nach umfassenderen, dynamischeren und analytisch sinnvolleren Definitionen geboren (Burgess 1978). Diese Diskussion spiegelte die Wiederentdeckung der ethnischen Vielfalt wieder, die sich in explosiven Konflikten in der Dritten Welt, in Integrations­problemen postkolonialer Gesellschaften, aber auch in den Spaltungstendenzen der postsozialistischen Staaten offenbaren. In diesen Arbeiten wird, und das ist für meine Problemstellung von großer Bedeutung, der Prozesshaftigkeit von 'Identität' Tribut gezollt, doch finden die befruchtenden Seiten, die dialoghaften Aspekte der Identitätsfindung im Spannungsfeld zwischen den Kulturen oft nicht genügend Beachtung und treten hinter den konflikthaften Auseinandersetzungen und Missver­ständ­nissen aufgrund unterschiedlicher Ethnizität zurück.

Begegnung und Auseinandersetzung zwischen den Kulturen weden dominant konflikthaft erlebt und auch wissenschaftlich dargestellt, und Positiva scheinen oft nur als geringfügiger Hoffnungsschimmer in einem düsteren Szenario der Gewalt auf: Said (1994: xxiii) sah in den Ausbrüchen separatistischer und chauvinistischer Ideologien eine gewisse Bestätigung des Vorhandenseins einer fundamentalen befreienden Energie, und ähnlich 'restoptimistisch' begreift der Entwicklungspsychologe E. Erikson (1995) rassistische Jugendbewegungen als den gewalttätigen Ausdruck eines individuationsbedingten Kampfes um kulturelle Integrität. Das destruktive Potential konflikthafter Begegnungen ist offensichtlich. Es darf aber auch nicht vergessen werden, dass es gerade das Erleben des 'Einbruchs' des Fremden in die eigene Kultur ist, das auch einen besonders fruchtbaren Boden zur Entfaltung und raschen Entwicklung von Kunst und Kultur bereiten kann. Maschke (1996) zeigte in ihrem Werk "Exotismus oder interkulturelles Lernen" das Spannungsfeld zwischen exotistischer Flucht ins Fremde und kritischer Revision des Eigenen durch kreativen Umgang mit dem Fremden aus ethno­psychologischer Sicht auf. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich innerhalb dieses Spannungsfeldes mit Inhalt und gesellschaftlicher Funktion bewegungskünstlerischer 'Dialoge' zwischen einander Fremden.

Kreative Kunst ist exemplarisch kognitiv (Hay 1994:152). Das bedeutet, dass sie uns zeigt 'wie' wir die Dinge wissen. Dies ist insbesondere für Tanz und Theater als Bewegungskunst von Interesse, die anders als materielle Artefakte nicht ohne weiteres als 'Formen ohne Inhalt' (im Sinne von Bromfield 1994:19) exportiert werden können. Tanz vermittelt, erhält, verändert und erzeugt Vorstellungen über Körperlichkeit und Bewusstsein, soziale und geschlechtsspezifische Rollenverteilung sowie andere politische, ethische und religiöse Inhalte. Tanz und auch andere Spielarten kunstvoller und konzentrativer körperlicher Bewegung sind deshalb von besonderer Bedeutung für Prozesse kultureller Identitätsfindung, wie sie in Zeiten von gesellschaftlichen Veränderungen und krisenhaften Umwälzungen notwendig werden. Die Begegnung mit der Fremde, also z.B. mit den die eigene Integrität irritierenden Aspekten einer anderen Kultur, kann selbst eine solche Krise auslösen. Das Fremde, Neue und Andere kann aber auch in unterschiedlichster Form zur Bewältigung innerer Konflikte herangezogen werden. Es kann z.B. den eigenen Bedürfnissen entsprechend umgeformt und in die eigene Kultur integriert werden, um zu einem neuen Ausgangspunkt in der sich, ob nun stetig oder sprunghaft, unumgänglich verändernden, in permanentem Prozess befindlichen kulturellen Integrität zu werden.

Interkulturelle Prozesse können unter dem Blickwinkel der Aneignung kulturellen Rohmaterials betrachtet werden, aber auch in ihrer Relation zur Herausbildung avantgardistischer Kunst. Auch Mythen über fremde Kunst, Meinungen, die der Realität entbehren, können der Kritik an der eigenen Kultur und der Herausbildung neuer Werte dienen. Begegnungen mit anderen Kulturen spielten jedenfalls immer wieder eine Rolle in der Relativierung westlicher Sichtweisen (Nürnberger 1993a, Bromfield 1994: 17f., Tatlow 1994:104), vergleichbar mit der Rolle der kindlichen Begegnung mit der fremden Umwelt (im Sinne des Entwicklungspsychologen E. Eriksons), zwischenmenschliche Begegnung also, welche erst nach und nach die eigene Identität zum Tragen bringt oder in Krisen stürzt.

Gibt es ein Neben- und Miteinander von verschiedenen Kulturen oder werden wir Zeugen einer alles durchdringenden westlichen transkulturellen Vereinnahmung, die Verschiedenheiten zu vernachlässigbaren Größen schrumpfen lässt? Ist die Globalisierung auf dem Siegeszug oder setzen sich separatistische Bewegungen zum 'Schutz von Ethnizität' vermehrt durch?

Rustom Bharucha (1993) betrachtet interkulturelle Auseinandersetzung aus östlicher Sicht und spricht von "Zusammenstößen". Er fordert Intrakulturalität, ein Eindringen in die komplexen Zusammenhänge des Fremden. Edward Said brachte durch seine Bücher "Orientalism" (1978) und "Culture and Imperialism" (1993) Anthropologen und Kunst- und Literaturwissenschaftler zum Nachdenken über die schmalen Grenzen zwischen der verständigen Anerkennung östlicher Kultur und deren ausbeuterischer Vereinnahmung in Verfälschung, Verkennung und projizierender Verzerrung zum Zwecke der Dienstbarmachung unter politischer, insbesondere kolonialer Gewalt (Gerstle & Milner 1994:1). Bromfield (1994:38f.) zeigt zwei Modelle für interkulturelle Kontakte, die ihm als zwei Seiten derselben Münze erscheinen: die subtile Fortsetzung des Kolonialismus in Form von westlichen 'Rollenzuweisungen' für fremde Kulturen und die Entwicklung einer kultivierten Empathie für die fremden Künste. Multikulturalität versus Transkulturalismus - gibt es denn überhaupt kulturelle Dialoge?

Die Aneignung kultureller Elemente ist kein Privileg des Westens, sie floriert im Osten genauso. Es liegen ihr auch dort unterschiedliche Motivationen zugrunde, und ökonomischer oder politischer Nutzen sind oft ebenso vorrangig wie im Westen. Besonders im Osten sind es Prozesse der Identitätsfindung, die nach dem existentiellen Schock der Kolonisationserfahrung essentielle Bedeutung erlangen. In Asien, wie auch anderswo, wurde kulturelle Integrität durch Kolonisation, die immer auch einen nicht bloß militärischen, sondern auch 'moralischen' Sieg über die Kultur bedeutete, verletzt. Als 'primitive Exoten' von minderwertiger Qualität gebrandmarkt, bedienen sich gerade die berühmtesten Vertreter einiger nichtwestlichen Kulturen heute in ihrer modernen Tanzkunst der Elemente des Primitiven und Exotischen, um sich vom Westen abzugrenzen und in ihrer Daseinsberechtigung als eigenständige Kultur zu bestätigen. Auch der diametral entgegengesetzte Weg, den andere etwa in einer puritanischen Ablehnung von Sexualität im modernen Tanz beschreiten, ist Reaktion auf die Kolonisation und Suche nach Integrität. Integrität bedeutet im kulturellen Rahmen, die Unverletzbarkeit eines Volkes, seine nach außen und nach innen hin intakte ethische Makellosigkeit. Ist es in diesem Zusammenhang zynisch zu erwähnen, dass auch die Seite des Aggressors durch die brutale Erfahrung der Kolonisation verletzt wurde?

In hinterhältiger Weise schleicht sich die Erkenntnis der Größe des Gegners im Westen ein: als unbarmherzig kritischer Spiegel, welcher der eigenen Kultur vorgehalten wird, als Quelle der Unzufriedenheit und Unsicherheit gegenüber angelernten Bezugsrahmen, als Projektionsfläche der eigenen Sehnsüchte und Ängste. Zwischen 'Abwehr und Verlangen' - so der Titel eines Buches von Karl Heinz Kohl (1987) - müssen wir uns der Negati­vität unserer Begegnungsgeschichte stellen. Ethnologen und ihre Mitläufer fühlten sich immer wieder in besonderem Maß zur Kritik an der eigenen Kultur und zur Entwicklung kultureller Perspektiven aufgefordert, insbesondere in den Zwanziger- und Dreißigerjahren und dann wieder ab den Sechziger­jahren des zwanzigsten Jahrhunderts.

Marcus und Fischer (Marcus & Fischer 1986:111-136) meinen, eine schlagkräftige Praxis ethnologischer Kulturkritik sollte heute imstande sein, amerikanischen Empirismus und dokumentarischen Realismus mit der Visionskraft der frühen Frankfurter Schule und dem Mut und der Unbekümmertheit der Nebeneinanderstellungen des französischen Surrealismus zu vereinen. In Amerika betrieben Margeret Mead, Schülerin von Franz Boas und andere wie Edward Sapir und Ruth Benedict Kulturkritik im Sinne einer Kritik der zeitgenössischen Verhältnisse innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. In England waren es Ethnographen wie Malinowski und Evans-Pritchard, die sich Praktiken wie jenen der Hexerei und Magie zuwandten und sie auf gleichem Fuße mit westlicher Wissenschaft und Vernunft verglichen. Das Resultat war die Hinterfragung der Idee der Rationalität durch Relativierung, die Sichtbarmachung jener Mechanismen, durch die Glaubenssysteme, inklusive der Wissenschaften, sich gegenüber Widerlegungsversuchen immunisieren. Diese Arbeiten zeigten, dass es alternative Wege zur Ordnung einer Gesellschaft gibt, die, z.B. in Hinblick auf ökologisches Wissen oder traditionelles therapeutisches Wissen ebenso rational wie unsere sind oder sogar rationaler. Dieser eher liberalen Kritik der Bedingungen folgte in den Sechzigern eine radikalere Kritik globaler gesellschaftlicher, ökonomischer und psychisch nötigender Machtsysteme. Alle diese Themen nähren die ethnologische kulturkritische Arbeit der Gegenwart.

Interkulturelle Prozesse sind nach einer Periode der künstlerischen Vorliebe für das 'Ursprüngliche' und 'Typische' in fremden Kulturen nun vermehrt Themen ernsthafterer wissenschaftlicher Forschung. Dies vor allem deshalb, weil zu hoffen ist, dass wir unsere eigene Gegenwartsgeschichte durch diese Studien nicht nur besser verstehen, sondern auch kontrollieren lernen. Während interkulturelle Prozesse nahezu überall permanent und unauffällig stattfinden, treten sie besonders in Zeiten kultureller Umwälzungen deutlicher zutage. Man denke nur an die revolutionäre Verwandlung der Malerei, des Theaters, des Tanzes und der Mode um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert. Gemeinsam wurden sie maßgebend in der Auseinandersetzung mit den epochalen gesellschaftlichen Ergebnissen der Industrialisierung und Hegemonialisierung durch östliche, orientalische und exotische Vorbilder geprägt. Im Westen war ein Bedürfnis entstanden, welches nur in neuer oder fremder Lebensweise erfüllbar schien: in einem 'befreiten' Körper zu leben, in Einklang mit 'Natur' und 'Vernunft' zu leben,  mit einer funktionierenden Form einer für die Kulturerhaltung über die Folge vieler Generationen notwendigen Ritualisierung – kurz, in kultureller Integrität zu leben.

Neue Ritual- und Kunsttanzformen stehen in einem dialektischen Verhältnis zu Kulturwandelprozessen. Wenn wir in Anlehnung an Bell (1976) Kultur als einen Prozess der Aufrechterhaltung von Identität durch die Kohärenz konsistenter ästhetischer Auffassungen begreifen, die moralische Konzepte über das Selbst und den Lebensstil beinhalten, so kommt dem Tanz als einem Teilbereich der Kultur, der eng mit Gefühlsausdruck, Sexualität, Körperbewusstsein, aber auch mit Geschichts- und Nationalitätsbewusstsein, Religion, Ritual und Mythos verbunden ist, wesentliche Aussagekraft über weite Gebiete dessen zu, was Identität bestimmt. Kultur, als ein dynamisches Element der Gesellschaft, beinhaltet die Notwendigkeit der Suche nach neuen Ausdrucksformen, wenn ökonomische und technologische Veränderungen stattfinden. In diesem Rahmen wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Tanz im Kulturwandel durch koloniale Beeinflussung (z.B. Hanna 1979, Royce 1977, Keali'inohomoku 1973, Leims 1990, Nürnberger 1994 und 1998a) geführt. Auch zur Untersuchung der Einwirkungen in entgegengesetzter Richtung, zu den produktiven Einflüssen der aus kolonialgeschichtlicher Perspektive 'unterlegenen' Kulturen auf die Tanzkultur des Westens, sind bereits einige repräsentative Arbeiten erstellt worden (5). Zumeist lag hier jedoch der Schwerpunkt mehr auf einer phänomenologischen Beschreibung der Tanzstilentwicklung als auf gesamtgesellschaftlichen und allgemeinkulturellen Implikationen, die in der vorliegenden Arbeit wesentlich schwerer gewichtet sind, als Beispiele von Formanalysen stilistischer Entlehnungen.

Nicht überall hat sich Tanz in seiner zentralen kulturintegrativen Bedeutung erhalten. Es besteht aber auch kein einseitig determinierendes Verhältnis von Kultur zu Tanz. Es gilt vielmehr mit den Worten Blackings (1986:10):

Diese 'strukturell zufriedenstellende' Weise beinhaltete, dass Tanz vor allem im Einflussbereich des Christentums und des Islam marginalisiert wurde, während sich Tanz im afrikanischen Kontext als zentral kulturprägendes Element behaupten konnte (Thompson 1974) und auch in Asien eine bedeutende Rolle als Träger kultureller Identität, bis in die postkolonialen Nationalbewegungen und in die Gegenwart hinein, spielt (Bharucha 1995, Nürnberger 1994, 2000).

Darstellender Tanz (Sanskrit: nrtya) lehrt dem Südasiaten: Identität ist eine Illusion, erzeugt durch Schicksal und individuelle Wahl. - Und wir fügen hinzu: Identität steht in dialektischer Beziehung zur Kultur. Wenn Perfektion erreicht ist, wenn 'die Maske den Tänzer regiert' (z.B. Foley 1995, Nürnberger: Feldnotizen 1980), erweitert sich persönliche Identität zu kollektiven, kulturintegrativen Körper- und Bewusstseins-Wahrnehmungen. Nichtdarstellender Tanz (Sanskrit: nrtta) ist für den Südasiaten reiner und darum in besonderer Weise göttlicher Tanz, der Identität in der All-Einheit bedeutet. Für Inderinnen ist das ein Aufgehen in Shiva-Nataraj, dem König der Tänzer - Schöpfer, Erhalter und Zerstörer der Welt. Die ikonographische Darstellung zeigt diesen Gott unter dem Bogen des Schriftzeichens 'Om' tanzend, das die Aktivität der Materie, materielle und individuelle Energie symbolisiert aber auch Shakti, die weibliche, ursprüngliche Kreativität (Coomaraswamy 1976, Nürnberger 2000). Identität bedeutet im Sinne von Nietzsche Integrität durch die Anerkennung und willentliche Erfüllung des einzig korrekten Platzes, der innerhalb der kosmischen Ordnung für das Individuum möglich ist. Nietzsches Sicht wurde durch Schopenhauers Begegnung mit Indien geformt, durch einen Dialog mit Südasien, den Nietzsche in seiner sehr persönlichen Weise weiterführte. Asien hatte immer wieder ein Fremdes, das der Identität und Integrität von lyrischen Philosophen, von Psychologen oder vor allem auch von Künstlern dienlich war.

Tanz verweist uns auf unser reales Befinden - physisch, psychisch, seelisch, aber auch und vor allem sozial, familiär und kulturell. Tanz ist deshalb immer wieder therapeutisch, erzieherisch und religiös eingesetzt worden. Tanz spiegelt Werte wieder, insbesondere solche, die den Körper in seiner Sozialisation betreffen, Ideen über Geschlecht, physisches Aussehen, wie z.B. auch Rasse, und Körpersymbolik, wie z.B. Ideen über den körperlichen Sitz der Vernunft. Was Integrität und Selbstachtungsvermögen bedroht, dem wurde von Alters her mit Riten aus zahlreichen Gesten, Lauten und Tänzen und unter intensiver Beteiligung der betroffenen Gemeinschaft begegnet, mit Riten, die sich in Körper und Geist der Teilnehmer einschrieben und einen fruchtbaren Boden für flexible und subtile gesellschaftliche Steuerungsprozesse schufen. Tanz und Bewegungskunst, die Körperstile prägen und Menschen in Körpergruppen zusammenschließen, sind nicht bloß deshalb so interessant, weil sie gesellschaftliche Strukturierungen reflektieren, sondern vor allem auch weil sie kulturelle und gesellschaftliche Patterns selbst erzeugen (Blacking 1986:10):

Diese Prozesse dienen immer wieder der Erhaltung eines kulturellen Kontinuums, in dem - um mit E. Erikson (1959) zu sprechen - der Präadaption des Menschen genüge getan wird, in der für jeden Menschen unterschiedlichen, jeweils eigenen und spezifischen Weise Identität zu erlangen. Nach ihm bedeutet Integrität unter anderem - ähnlich wie für Nietzsche - die Annahme seines einen und einzigen Lebenszyklus, aber eben auch - und das gerät bei Nietzsche rasch in Vergessenheit - die Bewusstheit der Relativität unterschiedlicher Lebensweisen. Ohne Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie unkritisch auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen zu wollen, drängen sich doch Parallelen zur Thematik der vorliegenden Arbeit auf: es sind die krisenhaften, die als Bedrohungen durch das Unerwartete, das Fremde und das Andere erlebten Begegnungen, die über eine fruchtbare Verarbeitung des Erlebten (dies im Gegensatz zu einer pathologischen Verhärtung in bloßen Abwehrhaltungen, sowie in Vorstellungen und Befindlichkeiten aus der Vergangenheit) den Hintergrund zur Reifung von Identität und Integrität abgeben.

Die sozialisierende Eigenschaft des Tanzes ist schon früh von Tänzern und Tanzforschern gewürdigt worden. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert gibt es Belege für die Anerkennung der erzieherischen Bedeutung des Tanzes. Unter anderem haben in neuerer Zeit die Ethnologen und Ethnologinnen Margret Mead, Maurice Bloch, Judith L. Hanna, Anya Royce, Gerhard Kubik und John Blacking Sozialisation durch Tanz untersucht (Spencer 1985: 8-11, Hanna 1979, Royce 1977). Die individualtherapeutische Bedeutung des Tanzes zur Integration der Persönlichkeit, zur Wiederherstellung gestörter Ich-Identität, ist seit der Jahrhundertwende Ziel der modernen Tanztherapie geworden, welche nicht unerheblich durch die Begegnung mit asiatischen Tanzformen und konzentrativen Körpertechniken geprägt wurde (Nürnberger 2000). Riten und Feste bedienen sich weltweit seit Jahrtausenden der integrierenden und identitätsstärkenden Funktion des Tanzes.

Integrität beinhaltet Achtung und Selbstachtung. Integrität ist ein wesentlicher Bestandteil funktionierender kultureller Identität, die sich in den Zeiten kultureller Berührungen auch über das Fremde definieren, Elemente des Fremden zur eigenen Historie werden lassen, die kulturelle Arbeit der Aneignung des Anderen beinhalten muss. Der Prozess der Aneignung des Fremden führt tendenziell nicht zu einem Zerfließen der Grenzen zwischen den Kulturen, sondern zur Institutionalisierung von Fremdelementen in der eigenen Kultur. Die gefürchtete weltweite 'Einheitskultur' wäre das Resultat einer vollständigen Assimilation, Vereinnahmung und Verleugnung kultureller Identität. Integration bedeutet hingegen, Kulturen nebeneinander bestehen zu lassen und sie einer Vielfalt interaktiver Prozesse auszusetzen. Das Fremde kann zum Beispiel aus seinem Kontext gerissen und in anderen für die eigene Kultur sinnvollen Zusammenhängen verwertet werden. Solche Prozesse haben zur Folge, dass trotz dieses Prozesses der 'Einarbeitung' des Fremden die Widersprüche zwischen den Kulturen bestehen bleiben (Nürnberger 1993a).

Meine Ausgangsthese ist, dass ein befruchtender Dialog der Kulturen auf dem Gebiet des Tanzes aufgezeigt werden kann und dass diese interkulturellen Prozesse unter günstigen gesellschaftlichen Bedingungen einen wertvollen Beitrag zur Integrität von Gemeinschaften, in einer Spann­weite von kleinen body groups bis zu multikulturellen Staaten und multi­nationalen Verbänden, leisten. 'Bewegungskünste', Ritualtanz und Kunsttanz (6)sowie die neuen anspruchsvollen experimentellen Bühnenkünste geben kulturellen Begegnungen Ausdruck und werden bisweilen zu Vorreitern gesellschaftlicher Bewegungen, die auf kulturelle Kontakte Antworten bieten. Diese rituellen und künstlerischen Prozesse sind von hohem Interesse für das Potential menschlicher Konfliktbewältigung und das Potential des künstlerischen, kunstvollen Umgangs mit krisenhaften Kulturkontakten..

 

 

Der historische Rahmen

 

Der historische Rahmen der vorliegenden Untersuchung umfasst tanzkünstlerische Auseinandersetzungen mit dem Fremden und Exotischen, wie sie seit den Anfängen des europäischen Kunsttanzes immer wieder stattgefunden haben, verstärkt jedoch seit dem Beginn dieses Jahrhunderts und bis in die Gegenwart herein. Die Tänzergeneration der letzten Jahrhundertwende wurde von einer Welle von "Exotismus" und "Orientalismus" erfasst und brachte so illustre Charaktere wie Mata Hari, so phantasievolle Gestalter fiktiver Exotik wie Ruth St. Denis und Ted Shawn (Brauneck & Schneilin 1992: 621), aber auch die große Kulturbotschafterin Anna Pawlowa (Misra 1992: 31f., 46, 69) hervor. Mata Hari verdankte ihren Erfolg noch weitgehendst der Verknüpfung von ein wenig Tanz mit der verkaufsfördernden Mischung von Erotik und Exotik. Sie genoss dennoch auch als Tänzerin so große Popularität, dass Serge Diaghilew sie 1912 für eines der exotischen Ballette seiner Ballett Russes, "Dieu bleu", mit einem Kr((a-Motiv und choreographiert durch Fokine, unter Vertrag nahm (7). Serge Diaghilew initiierte 1909 die international erfolgreichen Ballets Russes, die er 20 Jahre lang bis zu seinem Tode leitete. In ihrem Verständnis eines totalen Theaters, setzten die Ballets Russes neue Maßstäbe für die Kunst des 20 Jahrhunderts. Die Kostüme und Choreographien ihrer Aufführungen begeisterten durch ihre phantasievolle und raffinierte Kombination von historischen und russisch-folkloristischen, besonders auch orientalischen Formen und Themen. Dies galt z.B. für die Ballette 'Cléopâtre' (1909), 'Scheherezade' (1910), 'Der Feuervogel' (1910), 'Les Orientales' (1910) und 'Die Josephs- legende' (1914), in denen Lèon Bakst durch seine Ausstattung das entsprechende exotisch- orientalische Stimmungskolorit auf die Bühne brachte (Buckle 1984: 148, 161f, 169-174, Werderitsch 1995: 15f, 18) und deren Ausstattungen bisweilen über Nacht eine neue Kleider- mode ins Rollen brachten (Buckle 1984: 148). Diaghilew war es dabei nicht um Authentizität ethnischer Tänze gegangen, sondern um die Spektakularität ungewohnter Formen (z.B. Buckle 1984:133). Michail Fokine, Diaghilews Choreograph der ersten Stunde, war ethnographische Korrektheit durchaus ein Anliegen - auch wenn nicht immer Zeit und Möglichkeiten dazu gegeben waren, und er ließ sich durch östliche Kunst tief beeindrucken, z.B. als er das Gastspiel der Tänzer des Königs von Siam 1901 Petersburg sah und dieses in seinem Werk "Les Oriental" verarbeitete (Buckle 1984:133,175,185). Waslaw Nijinsky, Diaghilews größter Tänzer und eigenwilligster Choreograph, benutzte exotische Materialien skrupellos als bloßen Fundus für neue und aufregende Formen. Er fand nichts dabei, ägyptische Perspektiven mit griechische Inhalten zu vermengen (Buckle 1984:187), solange nur eine ausreichende Verfremdung des Körperausdrucks erreicht wurde, die er für seine skandalträchtigen, erotisch ambivalenten und mystischen Stimmungsbilder benötigte.

Anna Pawlowa (1885-1931), die zuweilen mit Diaghilew zusammenarbeitete, war zum einen die unvergessene russische Primaballerina des 'Sterbenden Schwan', zum anderen aber auch die Entdeckerin des indischen Malereistudenten Uday Shankar in London, der später das moderne indische Ballett mitbegründen sollte. Anna Pawlowa war es, die einige der wichtigsten Exponenten süd- und südostasiatischer Tanzkunst dazu ermutigte, auf die Suche nach ihrer im Zuge des Kolonialismus verschütteten eigenen Tanztradition zu gehen (Misra: op.cit.; Hanna 1983: 64, 118, Hatano 1996:24).

Anders als Diaghilew, der vor allem den Unterhaltungswert orientalischer Themen schätzte, verstanden Ruth St. Denis, Laban, Mary Wigman und Isadora Duncan ihren exotistischen Tanz als anspruchsvolle neue Körperreligion (Brauneck & Schneilin 1992:621). Die Verknüpfung von Erotik und Exotismus, die auch bei den Ballet Russes noch vorherrschte, wurde dabei erstmals durchbrochen und bisweilen - vor allem durch den "Deutschen Ausdruckstanz" - auch gänzlich annulliert.

Die Amerikanerin Ruth St. Denis (1877-1968) führte 1906 in New York ihren Solotanz "Radha" erstmalig öffentlich auf, indem sie ihre subjektiven Eindrücke von indischem Tempeltanz, den sie nur aus Beschreibungen und Bildern kannte, choreographisch umsetzte. Das anhaltende Interesse an exotischen Kulturen und auch an Spiritualität (geprägt durch "Christian Science") teilte sie mit ihrem Tanzpartner und Ehemann Ted Shawn (1891-1972). Denishawn wurde der Markenname ihrer Tanzgruppe und Schule, aus denen mehrere Berühmtheiten des modernen Tanzes und auch der Tanztherapie hervorgingen. Zu ihren Schülern und Mitarbeitern zählten Martha Graham, Doris Humphrey und die Tanztherapeutin Marian Chace (Rick 1992: 24).

Viele der westlichen Tänzer und Tänzerinnen, die in stärkerem Ausmaß mit orientalischem oder indischem, afrikanischem und indianischem Bewegungsrepertoire experimentierten, vertraten hingegen eine Tanzkunst, die weniger anspruchsvoll war als der traditionelle westliche Kunsttanz, das Ballett, und die bis zu den Siebzigerjahren und in professionalisierterer Form bis in die Gegenwart hinein immer mehr neue Tänzer begeisterte. Solche Tänze, deren Interpreten die außereuropäischen Stile zunächst oft mit mehr Lust an der Bewegung als mit Sachkenntnis imitierten, wurden von ihren Anhängern im amerikanischen Raum als Tribal Dance (Gespräch mit Amoura 1994 in Wien) und später unter dem Einfluss von La Meri professionalisiert und als Ethnic Dance (La Meri 1939, 1977) bezeichnet. Erst heute verzichtet man nach und nach auf eine generalisierende Benennung außereuropäischer Stile und bemüht sich um die Einführung aussagekräftiger Stilbezeichnungen. Damals begann man jedoch bereits, nach Spezialisten Ausschau zu halten und kontaktierte Lehrer aus dem außerwestlichen Kulturraum. Die Amerikanerinnen La Meri und Ragini Devi, geborene Esther Sherman (Misra 1992: 2,64), gehörten zu den ersten, die in Indien studierten, die sich gewissenhafter mit nichtwestlichem und speziell mit indischem Tanz auseinander setzten und seinen komplexen technischen Charakter wahrnahmen.

Die Beiträge der Amerikaner und Amerikanerinnen La Meri, Ruth St. Denis und Ted Shawn, Ragini Devi sowie jener der Russin Anna Pawlowa zur internationalen Würdigung südasiatischer Tanztraditionen als wertvolles Kulturerbe werden in Asien sehr anerkannt. Diese Tänzerinnen waren nicht nur durch die Exotik asiatischen Tanzes gefangengenommen, sondern auch von seiner Spiritualität und künstlerischen Ausdruckskraft begeistert. Ihre Arbeit verhalf schließlich auch südasiatischen Ländern zu einer höheren Bewertung der indigenen Tanzformen.

In Sri Lanka war es unter dem Einfluss der Jahrhunderte langen christlichen Kolonisationen durch Holländer, Portugiesen und Briten zu einer allmählichen Verachtung der alten Tanzrituale gekommen. Das Christentum wurde prestigeträchtige Konkurrenz zu den alten Glaubensschichten, und die als überlegen erlebte 'rationale Weltsicht' der Briten konnte zwar als 'reformierter Buddhismus' enkulturiert werden, stand aber ebenfalls im Widerspruch zu den Tanzriten (z.B. Kapferer 1983:22f, Gombrich & Obeyesekere 1988: bes. 314-353, Nürnberger 1994: 38-40,52f., 57f.).

In Indien (z.B. Rebling 1981:129, Hanna 1993:126) kam es durch den Zusammenbruch der materiellen und moralischen Strukturen ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter der britischen Kolonialherrschaft zum Absinken der Tempeltänzerinnen in niedrige Formen der Prostitution (8), eine Entwicklung, die in der Prohibition des Tempeltanzes durch die Rajputen von Mysore und Travancore zu Anfang des 20. Jahrhunderts kulminierte. In den darauffolgenden Jahren erhielt der indische und srilankische Tanz jedoch im Rahmen der Nationalbewegungen neue Bedeutung und erlebte eine Phase der Rückbesinnung und Erneuerung, die durch die westlichen Rückimporte "orientalischen" Tanzes begünstigt wurde (z.B. Nürnberger 1994: bes.159-227, Bharucha 1995: bes.37-46).

In Japan brachte die kulturelle Öffnung der Meiji-Ära (1868-1912) eine wahre Überschwemmung mit westlicher Kultur und auch eine vermehrte Auseinandersetzung mit der Tanzkunst des Westens (Hendry 1994:16-20,152-160, Hatano 1996:13f). Neben Gesellschaftstänzen, wie Polka, Gavotte und Walzer fanden seit der Taishho Era (1912-1926) auch klassisches Ballett, seit den Zwanzigerjahren Deutscher Ausdruckstanz und in der Nachkriegsära vermehrt auch amerikanischer Modern Dance Eingang in die Metropolen Japans (Hatano 1996: 14f, 24-29). In einer Bewegung der Rückbindung dieser modernen Einflüsse an traditionellere japanische Formen und Inhalte wurde in den Fünfzigerjahren der Butô geboren, dessen eindrucksvoller Bewegungsstil und ernste Philosophie auf die westliche Postmoderne des Tanzes dramatisch zurückwirkt (z.B. Brauneck & Schneilin 1992: 206, Haerdter & Kawai 1988, Banu 1990: 41, 60, 122-133).

Auch der ethnische Tanz, eine exotistische Erfindung des Westens, wirkte auf jene Länder zurück, die ihn inspirierten, und führte in zahlreichen Staaten des Südens und Ostens vorerst zur Entstehung und Förderung von 'orientalischen' Tanzabenden, die dann oft genug die Gründung von staatlichen oder privaten Nationaltanztruppen mit bühnengerechter Verarbeitung indigener Tanzformen zur Folge hatten. Letzteres geschah recht häufig unter dem Einfluss der sowjetrussischen Bühnenkunst, die in diesem globaleren Bild durchaus unter die Vertreter westlicher Kultur gerechnet werden muss und deren Einbeziehung der Folklore in Ballett und Oper breiten Einfluss auf die Gestaltung von folkloristischem Bühnentanz zum Beispiel in Ägypten, Sri Lanka und Indien hatten.

Im Zuge dieser Auseinandersetzung zwischen Ost und West entstanden im Westen neue Nischen für Tänzer, da diese die bis dahin vernachlässigten philosophischen und therapeutischen Bereiche des Tanzes wiederentdeckten, jene Bereiche, die in erster Linie durch die überwiegend ablehnende Haltung der Kirche und die nachfolgende Profanation des Tanzes im Westen in den Hintergrund gedrängt worden waren. Die ersten Anfänge der Tanztherapie standen in Zusammenhang mit der Wiederentdeckung rituellen Tanzes. Dabei wurde die kurze Geschichte der Tanztherapie im Westen eng an jene des Ausdruckstanzes gekoppelt (Nürnberger 2000).

Der afrikanische Tanz beeinflusste die Entstehung des Jazz-Dance, des Rock 'n Roll und vieler anderer populärer Tanzstile des Westens mit großer Breitenwirkung, wie etwa des Breakdance und anderer neuer Disco-Stile. Der beträchtliche Einfluss des Black Dance auf den Modern Dance fand seit den 30er und 40er Jahren im wesentlichen im Gefolge des Jazz-Dance statt. Einige der bekanntesten Proponenten schwarzen Bühnentanzes sind Asdota Dafora Horton, Katherine Dunham, Pearl Primus, später Alvin Ailey, Talley Beatty oder Donald MacKayle (Steeh 1982:13). Der asiatische Tanz, der in dieser Arbeit aufgrund meiner fachlichen Spezialisierung vorwiegend im Zentrum steht, mit seiner oft hochkodifizierten Sprache und ausgeprägten Stilisierung, blieb hingegen stets mehr eine Sache der tanztechnischen Eliten und der Avantgarde. Als die europäische Theater- Avantgarde der Zwanzigerjahre von Artaud bis Yeats den defizitären Zustand der eigenen Theaterkultur beheben wollte, bediente sie sich für ihre diesbezüglichen Recherchen vor allem fernöstlicher Tanztheatertraditionen.

Heute erfreuen sich in Mitteleuropa die rituellen Tänze Asiens steigender Beliebtheit, wozu die moderne Tanzfestwochen-Kultur einen nicht unerheblichen Beitrag leistet. Asiatische Formen, Techniken und Inhalte beeinflussen westliche Kunst auch heute in hohem Maß. Große Tänzer, Choreographen und Tanz- und Schauspieltheoretiker Europas (Fokine, Nijinsky, Laban, Wigman, später Béjart, Mnouchkine, Grotowski, Brook, Barba und viele andere) und Amerikas (Duncan, St. Denis und Shawn, La Meri, Graham, usw.) haben in den westlichen Kunsttanz Elemente des Fremden und des Exotischen integriert, zum Spektakel gemacht oder zur ernsten Auseinandersetzung mit neuen Werten und Ideen angewendet (z.B. Steeh 1982, Brook 1985, Zarilli 1995a).

In Asien fanden vermehrt nach der Befreiung von den Kolonisatoren analoge Prozesse statt, die in einer Rückbesinnung auf 'das Eigene' auch Elemente der 'fremden' europäischen Bühnenkünste in die Bemühungen um die Erschaffung moderner nationaler Bühnenkunst einfließen lassen (z.B. Chitrasena und Vajira Dias in Sri Lanka, Uday Shankar, Rabindranath Tagore, Rukmini Devi, und neuerdings Chandralekha in Indien, Tatsumi Hijikata, Kazuo Ohno in Japan, Sardono in Indonesien, um nur einige zu nennen).

Diese gegenseitige Befruchtung spiegelt meines Erachtens gleichzeitig ganz unterschiedlich gestaltete Bedürfnisse wider, die die Künstler stellvertretend und für ihr Publikum erfüllen. Künstlerische Dialoge trugen viel dazu bei, die gegenseitige Akzeptanz und das gegenseitige Verständnis zwischen den Kulturen zu fördern, vor allem aber auch dazu, die Kulturen zu bereichern.

Heute ist ein enthusiastisches westliches Publikum für nicht-westliche Tänze herangewachsen, dem in den letzten Jahren in verschiedenen europäischen Städten vermehrt und mit großem Erfolg Rechnung getragen wird. In Wien wurden von 1982 bis 1996 alle zwei Jahre die Wiener Internationalen Tanzfestivals unter der künstlerischen Leitung von Gerhard Brunner im Rahmen der Wiener Festwochen organisiert, seit 1984 von Karl Regensburger und Ismael Ivo die internationalen Kursveranstaltungen der Internationalen Sommer- und Wintertanzwochen Wien und seit 1988 die Performancereihe ImPuls Tanz mit Vorstellungen internationaler Stile präsentiert, die ein stetig wachsendes und auch inter- nationales Publikum anziehen. Das Festival ImPuls Tanz 1997 brachte zum Beispiel vom 16. Juli bis zum 10. August - verteilt auf vier Spielorte - an 26 Abenden 32 Vorstellungen zur Aufführung. Unter ImPuls Tanz 1998 wurden die beiden Wiener Tanzfestivalreihen erstmals vereinigt präsentiert. In Ungarn werden seit 1985 vom International Dance and Movement Center (IDMC) unter der Leitung von Pál Regös biennale internationale Sommer-Workshops angeboten. Eugenio Barba organisiert mit seiner 1979 gegründeten International School of Theatre Anthropology (ISTA) in Holstebro, Dänemark, internationale Sommerakademien und Tanztheater-Festivals. Viele andere Aktivitäten, die dem künstlerischen Austausch zwischen Tänzern internationaler Herkunft dienen, finden regelmäßig in verschiedenen Gegenden Europas statt, so in Bonn, Berlin oder Nordrhein-Westfalen in Deutschland oder in Montpelier in Frankreich. Den großen Tanzhäusern Europas, wie dem Place Theatre in London, dem Dansens Hus von Stockholm, und der Maison de la danse in Lyon nachziehend, eröffnete beispielsweise 1998 das Tanzhaus NRW in Düsseldorf seine Arbeit unter der künstlerischen Leitung von Bertram Müller mit einem Konzept, das die künstlerische Darstellung des Tanzes mit dessen pädagogischer Vermittlung und der Kommunikation über die Tanzkultur nicht nur des eigenen Landes verbindet. Im April und Mai stellte sich das neue Haus der Öffentlichkeit mit einem Martial Arts Festival vor, in dem elf Großmeister aus Indien, China, Japan und den Philippinen die Schnittstelle zwischen darstellender Kunst und fernöstlichen Kampfkünsten erforschten. In der multikulturellen Gesellschaft Englands, wo Tanz - nicht zuletzt dank der Aktivitäten von vor dem Faschismus geflüchteten deutschen Emigranten - eine besondere Achtung und Förderung genießt, spielt heute zum Beispiel südasiatischer Tanz nicht nur im künstlerischen, erzieherischen und therapeutischen Bereich eine Rolle, er wird sogar in anglikanische Gottesdienste einbezogen (Feldnotizen 1994, 1995). Sammelbegriffe wie 'orientalischer' Tanz genügen heute nicht mehr, um die jahrhundertealten außereuropäischen Kunsttraditionen, so wie früher, in abschätziger Weise zu subsumieren. Die Vielfalt und Eigenständigkeit alter und neuer künstlerischer Entwicklungen außerhalb Europas und Amerikas wird vermehrt, wenn auch noch nicht ausreichend, gewürdigt.

'Orientalischer Tanz', ein diffamierender und alle außereuropäischen Tänze vereinheitlichender Begriff der Kolonisatoren, der durch die Assoziation mit sexuell verfügbaren Frauen geprägt war, wurde in arabischen Ländern, in Indien und Sri Lanka zu einer stolzen Bezeichnung für eigene staatliche Kulturressorts, aus denen sich dann gelegentlich auch solche für modernen Tanz und Ballett abgliederten, die sich alsbald auch mit den direkten Einflüssen westlicher bürgerlicher und marktorientierter Unterhaltungskunst befassten. Diesem Prozess entsprach im Westen der Jahrhundertwende eine Welle des Exotismus und neuer Körperideologien, dessen wichtigste Proponenten sich bald um mehr Authentizität ihres 'ethnischen' Tanzes bemühten und ihren Weg bis nach Asien fanden. Sie förderten direkt und indirekt ihrerseits asiatische Pioniere, und verhalfen indigenem Tanz zu ausgeprägterem gesellschaftlichen Profil. Sie brachten aber auch dem Westen eine Rückbesinnung auf die besonderen Qualitäten des Tanzes und anderer konzentrativer Bewegungstechniken, auf sozialisierende, therapeutische, transformierende und Bewusstseinsverändernde Funktionen. Im euro-amerikanischen Kulturraum kommt es nun zu interessanten Sekundärbewegungen in der Bühnentanzkunst durch die wiedererstarkten Tanzkulturen Afrikas, Afroamerikas und Asiens.

 

 


Grundlagen

Tanz- und Theaterethnologie. Körperlichkeit und Kultur.
Bewegung und Tanz als Sprache. Ästhetik und Wert
.

 

Um die Zusammenhänge zwischen Tanz, der Auseinandersetzung mit dem Fremden und der Schaffung kultureller Integrität erfassen zu können, ist es zunächst notwendig, sich zu vergegenwärtigen, welche Methoden und Forschungsansätze zur Untersuchung des Themas geeignet erscheinen und was heute über Tanz aus fremden Kulturen allgemein ausgesagt werden kann. Nach einer generellen Einführung in den allgemeinen Forschungsstand der Tanz- und Theaterethnologie unter besonderer Berücksichtigung des Themenschwerpunktes werden generelle Erkenntnisse zum Verhältnis zwischen Körperlichkeit und Kultur vorgestellt. Nach einer Übersicht über die Sichtweisen von körperlicher Bewegung und Tanz als Sprache im interkulturellen Kontext wird die Kulturimmanenz von Wert und Ästhetik des Tanzes behandelt.

 

 

Tanz- und Theaterethnologie

Tanzethnologie. Theaterethnologie. Definitionen von Tanz. Forschungsrichtungen.

 

Die Ethnologie des Tanzes und des Schauspiels ist eine relativ junge Wissenschaft. Umfangreiche Vorarbeit leistete der in Berlin geborene Curt Sachs (1881-1959), dessen Datenmaterial und Ansatzweise heute als teilweise überholt eingestuft werden müssen. Typisch erscheint bei seiner Auffassung von Tanz, dass sie einerseits unglaublich weit definiert ist (9), andererseits heute zentrale Fragestellungen, wie z.B. soziologische (Sachs 1933: 40) oder religionsethnologische (ibid: 13) - erstere bewusst, zweitere irrtümlich (10), ausklammert. Sachs verstand unter dem Einfluss der Kulturkreislehre kulturell isolierte Gruppen noch als 'Primitive', deren Lebensformen einer einheitlich konzipierten 'Urkultur' entsprachen. Tanz wurde von Sachs als eine Art universeller Lebensäußerung begriffen, die nicht auf die menschliche Spezies beschränkt, sondern auch im Tierreich anzutreffen sei. Er betrachtete das Paarungsverhalten von Affen etwa als eine Art echten Tanzes, ohne auf die grundlegenden sozialen und Verhaltensunterschiede zwischen Tier und Mensch Rücksicht zu nehmen, welche Hanna 1979 dazu veranlassten, ihr Buch "To Dance is Human" zu verfassen, in dem sie das spezifisch Menschliche an Tanz (und, so kann man erweiternd hinzufügen, auch am breiteren Genre der Bewegungskunst) im engeren Sinne herausstellte:

 

 

Tanzethnologie

 

Die moderne Tanzethnologie baut hauptsächlich auf den Arbeiten anglophoner Wissenschaftler auf, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in den USA aus der Cultural Anthropology und innerhalb Englands aus der Social Anthropology hervorgingen. Ihre wichtigsten Forschungsansätze entstammen dem Funktionalismus, Strukturalistismus und der Kommunikationstheorie beziehungsweise Kombinationen dieser Richtungen. In den Vierzigerjahren erarbeitete die Tänzerin, Kunsthistorikerin und Tanzforscherin Gertrude Prokosch Kurath, obwohl ohne eigentlich anthropologischer Ausbildung, Grundlagen vor allem anhand des Studiums der Tänze der Indianer Nordamerikas und Mexikos. Kurath (1960: 236, 250) vertrat ihren sogenannten ethnochoreologischen Ansatz: die Erfassung von Tänzen durch Notationssysteme wurde mit den Fragestellungen aus der Anthropologie vereint. Ihr ist es auch weitgehendst zu verdanken, dass der Begriff dance ethnology in die Terminologie der cultural anthropology eingeführt wurde. Er umfasst nach ihrer Definition die wissenschaftliche Untersuchung ethnischer Tänze in all ihren kulturellen Bedeutungen, religiöser Funktion, Symbolik oder sozialer Relevanz (1949-50:352). Judith Lynne Hanna bevorzugt die Bezeichnung anthropology of the dance, um den theoretischen und methodischen Rahmen der Anthropologie herauszustreichen (1979b:314).

Heute kann man sagen, dass der wissenschaftliche Ansatzpunkt von Curt Sachs, den Tanz als Bewegungsform, isoliert von dem religiösen und sozialen Kontext zu untersuchen reduktionistisch erscheint. Immerhin gibt es auch in der modernen Tanz- und Theaterethnologie Autoren, die reduktionistische Auffassungen über Tanz vertreten. Während Kurath in einer vorsichtigen Formulierung Tanz als eine Tätigkeit beschreibt, die "utilitaristische Ziele transzendiert" (11), geht Lomax einen Schritt weiter. Lomax et al. (1968) bemühten sich um eine crosscultural-Kategorisierung von Tanz. Lomax (ibid.: 222) umschreibt für diesen Zweck Tanz als physische Aktivität von hoher Redundanz, wobei er die Auffassung vertritt, dass Redundanz Kennzeichen 'künstlerischer' Aktivität im Unterschied zu 'zweckorientierter' Aktivität, wie sie in reproduktiver Arbeit auftritt, sein kann. Einem derartigen Ansatz ist entgegenzuhalten, dass in den meisten außereuropäischen Kulturen kein Konzept von alltagsenthobener und zweckfreier Kunst existiert, das den westlichen Vorstellungen vergleichbar wäre. Musik und Tanz stellen vielmehr in den meisten Kulturen geschickte technische Mittel dar, mit deren Hilfe zwischen den sichtbaren und unsichtbaren Welten vermittelnd und harmonisierend eingegriffen wird, ähnlich wie dies Diallo und Hall (1989: 80-116) am Beispiel der westafrikanischen Minianka aus Mali hervorheben. Es gibt eben elementare Unterschiede zwischen den Kulturen hinsichtlich der Bewertung und Verwendung von Tanz. Tanz wird in vielen Gesellschaften der Welt nicht nur bewusst dazu verwendet, sowohl die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu bestätigen als auch die Individualität des Einzelnen zu unterstützen, sondern auch ganz 'utilitaristisch' zur psychosozialen Prophylaxe und Therapie, indem Tanz etwa dazu eingesetzt wird, die Arbeitszufriedenheit zu erhöhen, Kranke zu heilen, Frieden zu stiften usw. Deshalb findet man in solchen Kulturen eine große Bandbreite an Formen von profanen Arbeitstänzen bis zu therapeutischen Heiltänzen und sakralen Riten. Ein professioneller Performer in einer solchen Gesellschaft, Tänzer wie Musiker, muss ein Vorbild an körperlicher, emotionaler, geistiger und konzentrativer Verfassung für seine Klienten sein können. Kunst steht außerhalb der westlichen Einflußsphäre zumeist in enger Verbindung zur Moralität. Darüber hinaus muss er über überdurchschnittliches Einfühlungsvermögen verfügen. Aus solchen und ähnlichen Gründen wird Tanz deshalb meist der Sphäre der Arbeit und nicht des 'redundanteren' Vergnügens zugerechnet. Ergebnisse reduktionistischer Ansätze können solchen Zusammenhängen keine Rechnung tragen. Sie leiden zwangsläufig unter dem hermeneutisch bedingten Mangel, dass auch Tanzbeschreibung, wie zum Beispiel McKay (1983) ausführt, stets ein Produkt des Wahrnehmungsrahmens des Tanzethnologen bleibt.

Die kulturvergleichenden und Grundlagen erstellenden Arbeiten der letzten beiden Jahrzehnte haben dazu beigetragen, dass sich die Tanzethnologie (z.B. durch Hanna 1979a, Keali'inohomoku 1973, Lomax et al. 1968, Royce 1977, Spencer 1988) und die Theateranthropologie (vor allem durch V.Turner 1989a, Barba & Savarese 1991, Schechner 1991) als eigenständige Forschungsgebiete etablieren konnten. Eine Zusammenschau beider Disziplinen erscheint zu einem kulturvergleichenden Verständnis der verschiedenen bewegungskünstlerischen Ausdrucksformen insofern notwendig, als die Trennung zwischen Tanz und Theater im außereuropäischen Raum meist nicht gegeben ist.

 

 

Theaterethnologie (12)
 

Richard Schechner (1990 a-c, 1991) baut seine Performance Studies auf den Begriff der Performance auf, den der Soziologe Goffman vor allem in seinem Werk "The Presentation of Self in Everyday Life" 1959 entwickelt hat. Schechner (1990) geht deshalb von einem weiten Definition des Begriffs Performance aus und bezieht auch öffentliche Ereignisse wie Paraden und Fußballspiel in seine tanz- und theateranthropologischen Studien mit ein. Er bemüht sich darum, anthropologisches und theatralisches Denken einander anzunähern und spricht dabei unter anderem vom Ethnographen als jemanden, der in einer anderen Kultur als Performer auftritt. Er interessiert sich ebenso wie Barba für die universalen Prinzipien des Theaters. Ich werde an geeigneterer Stelle (13) noch ausführen, dass man ihm im zwar gelegentlich Oberflächlichkeit und verzerrende etische Standpunkte in seinen kulturvergleichenden Statements nachweisen kann, doch zeichnet er sich auch durch Originalität seiner Ansätze und Denkweisen aus. Seiner Forderung nach einer interkulturellen Perspektive, die eine Vielzahl von Perspektiven umfasst (1990:23), wird er selbst jedenfalls nicht immer ganz gerecht. Barba, Grotowski, Brook, Turner und Turnbull gehören zu Schechners Inspirationsquellen und sie vereinten sich in wechselnden Gruppierungen auch immer wieder für gemeinsame theatralische und wissenschaftliche Projekte.

Eugenio Barba grenzt seine Form der theatre anthropology sowohl von der cultural anthropology als auch von der vor allem durch Schechner vertretenen anthropology of performance ab, indem er sie als eng auf das Studium des menschlichen Verhaltens in der Verwendung seiner physischen und mentalen Präsenz in einer organisierten außeralltäglichen Aufführungssituation beschränkt definiert. Im Zentrum seines Interesses steht dabei das sogenannte 'prä-expressive szenische Verhalten', welches den verschiedenen Genre, Rollen und persönlichen oder kollektiven Traditionen zugrunde liegt und das er nach Universalien untersucht. Die transkulturellen Prinzipien der Körper/Geist-Techniken sieht er durch die individuellen Merkmale des Künstlers und die kulturellen Eigenarten der Gesellschaft mit ihren Traditionen ergänzt. Obwohl Barba und Savarese soziologische Umfeldstudien in den Bereich der cultural anthropology verweisen, streifen die Einträge in ihrem 'Dictionary of Theatre Anthropology" (1991) unvermeidlich immer wieder soziokulturelle, aber auch vor allem psychologische Fragestellungen. Einen relativ breiten Raum nehmen Gegenwirkungen zwischen Physis und Psyche ein. Es werden verschiedene Psychotechniken beschrieben, die mehr eine Änderung der Physis als der Psyche bewirken. Dieser Ansatz erscheint besonders für die Untersuchung der Wirksamkeit und des transkulturellen Potentials der verschiedenen therapeutischen Tänze interessant (14). Ein relativ breiter Bereich ihrer Forschungen befasst sich auch mit pädagogischen und 'kulturheilenden' Aspekten, einem Bereich, der heute international durch die Anerkennung des sozialisierenden Potentials von Tanz und Theater an Bedeutung gewinnt. Insgesamt bleibt das Werk Barbas aber doch mehr eine Auseinandersetzung mit ästhetischen Prinzipien als mit ethnosoziologischen Fragestellungen. Auch Brook und Grotowski haben sich als Praktiker der Theaterarbeit an die Anthropologie angenähert.

Brook hat sich als Ergebnis seiner praktischen Arbeit um eine neue Definition der sozialen Funktion von Tänzern und Schauspielern bemüht. In seinen Universitätsvorlesungen (Brook 1985) legt er in den Metaphern 'das tödliche Theater', 'das heilige Theater' und das 'unmittelbare Theater' seine Vorstellungen von einem Theater der Gegenwart dar, das seine pädagogische und heilende, seine sozialisierende und aufklärende Funktion wahrnimmt, ohne dabei an Intensität zu verlieren. Für Brook (1985: 82f) ist Grotowski ein Protagonist des heiligen Theaters, indem dieser das Theater, vergleichbar mit Tanz und Musik gewisser Derwisch-Orden, für das Selbststudium, Selbsterforschung, kurz als Möglichkeit der Erlösung einsetzt. Das Theater muss nach Brook jenen gesellschaftlichen Platz einnehmen, den Kirche und Religion in der modernen Gesellschaft nicht mehr erfüllen können (ibid.: 86). Grotowski (1968) bezieht in seine Praxis, die er paratheatralisch nennt, rituelle Methoden der Bewusstseinsveränderung mit ein. In seinen Workshops bietet er eine breite Palette an außereuropäischen Bewegungs- und Konzentrationstechniken an, die er zum Teil durch Lehrer, die aus den Herkunftsländern dieser Techniken stammen, möglichst authentisch vermitteln möchte. Es geht ihm dabei um die Erziehung und das Erleben des Performers und nicht so sehr um die eigentliche Aufführungsarbeit. Das gesellschafts- und persönlichkeitsverändernde Anliegen tritt bei ihm in den Vordergrund.

Turner (1988, 1989a und b, 1991) hat sich hingegen immer für die gesamtgesellschaftliche Bedeutung und Funktion von Ritual und Theater interessiert. Von zentraler Bedeutung sind auch bei Turner die Gegenwirkungen zwischen strukturerhaltenden und strukturerneuernden Prozessen, die er mit Begriffen wie 'Struktur und Antistruktur', 'liminale und liminoide Prozesse' und seiner Vorstellung von der Herstellung einer außeralltäglichen 'Communitas' untersucht. Ebenso wie Schechner baut er einige seiner Überlegungen auf Genneps (1986) Ideen zu Riten als Übergangsprozessen auf, in deren Zentrum bei Turner die Dramatisierung des 'Schwellenzustands' steht.

Auch Zarilli (1995a, 1986) versucht ähnlich wie Barba oder Schechner die praktischen kulturübergreifenden Erfahrungen auf den Gebieten des Tanzes und des Theaters der letzten Jahrzehnte theoretisch aufzuarbeiten. Als Theaterdirektor und Universitätsprofessor in Wisconsin-Madison versucht er dabei eine ethnologisch analytische Vermittlung des Erlebnisbereichs der Performer zu finden. Im Zentrum seiner Untersuchungen stehen vor allem unterrichtstechnische Bezüge zwischen asiatischem (vor allem aus Indien, Japan, Bali) und westlichem Tanz- und Schauspieltraining (wie jenen von Meyerhold, Decroux, Grotowski) und die damit einhergehenden Prozesse der Neubewertung des Schauspieltrainings in Ost und West. Er ist einer der wenigen Theaterwissenschaftler, die auch die Problematik der Deformation anderer Kulturen durch einen generellen Diskurs des Interkulturalismus ansprechen (1995: 74f).

 

 

Definitionen von Tanz

 

Gemeinsam mit vielen zeitgenössischen Tanz- und Theaterethnologen (Keali'inohomoku 1972, Hanna 1979a, Royce 1977, Blacking 1986, Snyder 1986, Spencer 1988, V. Turner 1989a, 1989b, usw.) gehe ich davon aus, dass Tanz und andere Formen theatralischer und künstlerischer Körperbewegung multifunktionale und polysemantische kulturelle Erscheinungen sind, über die nicht genügend gesagt ist, wenn sie nur als eine spezifische Art der Körperbewegung verstanden wird. Tanz muss heute als ein umfassendes Geschehen begriffen werden, das tiefe Einblicke in gesamtgesellschaftliche Ereignisse ermöglicht und an dessen Erscheinungsform viele Faktoren mitwirken. Eine Konzentration auf choreometrische, kinetische und bewegungstechnische Notationen und Dokumentationen erscheint aus tanzethnologischer Sicht für umfassendere kultursoziologische und ethnopsychologische Fragestellungen, wie die der vorliegenden Arbeit, unbefriedigend (Blacking 1986:8, Snyder 1986: 13, 15f).

Es bleibt ein schicksalhaftes 'Paradox' (Blacking 1981, 1986) der Forschung, verbale Analysen nonverbaler Aktionen erstellen zu müssen. Wo es nicht um die Analyse der Tanztechnik selbst geht, bleiben Tanzschriften wirkungslos, müssen Worte als Hinweise auf die Bedeutung der Bewegung dienen. Im Hinblick auf die Kluft zwischen Sprache und Tanz und im Sinne eines Brückenschlags zwischen sagbaren und getanzten Inhalten erscheint zuweilen die zweckdienliche Verwendung auch subjektiv emotionsgeladener und persönlicher Sprache zulässig, die in der vorliegenden Arbeit insbesondere durch die Gesprächszitate, aber auch durch als solche kenntlich gemachte Berichte über Eigenerfahrungen einfließt. Außer Frage steht jedenfalls der Wert einer persönlicher Tanzerfahrung des Wissenschaftlers.

Ebenso unbefriedigend und unvollständig erscheinen auch die meisten Versuche Tanz und Theatralität allgemein zu definieren. Bestimmt Kurath (siehe letzte Fußnote) etwa die Alltagsbewegung als Quelle tänzerischer Bewegungen, so stehen für Snyder (1986:26) oder auch für Barba und Savarese (1991) Tanz und Theatralität als Technik per definitionem mit dem Attribut der Außeralltäglichkeit in Verbindung. Während die meisten Tanzethnologen Tanz auch als eine Form der Sozialisation untersuchen, stellen Barba und Savarese (1991:189) in Anlehnung an Stanislawski den inkulturierten Performer dem akkulturierten Performer gegenüber. Sie sind der Auffassung, dass den performativen Künstlern eine Art zweite außeralltägliche Kultur zueigen ist, die transkulturelle Züge aufweist. Man muss aus dieser Sicht von der Notwendigkeit einer Inkulturation in das Künstlerdasein ausgehen, die durch jahrelange Ausbildung in außeralltäglichen Techniken, die universelle Züge aufweisen, gewährleistet wird. Die Unterschiede in den genannten Standpunkten resultieren dabei teilweise auch aus der unterschiedlichen technischen Virtuosität der untersuchten Formen. Merriam (1972:13f.) vertritt einen sozialanthropologischer Ansatz, in dem Tanz als komplexes soziales Phänomen, als konstituierender und reflexiver Bestandteil einer Gesamtkultur aufgefasst wird. Er unterscheidet in Bezug auf die Kulturbezogenheit zwischen Tanz und Tanzbewegung, wobei ersteres als universelle menschliche Verhaltensform zu untersuchen sei. Ähnlich fasst Williams (1978:225), 'den Tanz' als Summe aller existierenden Tänze der menschlichen Kultur auf. Für Blacking (1986:6) gibt es zwei Ebenen der Definition von Tanz:

Blacking (ibid.) und verschiedene andere Autoren haben darüber hinaus immer wieder ausdrücklich darauf hingewiesen, dass einige Gesellschaften kein Wort für Tanz haben beziehungsweise kein begriffliches Konzept über Tänze als unterscheidbare Typen von Bewegung, die für bestimmte Gelegenheiten bestimmt sind. Darüber hinaus sind selbst dort, wo solche Kategorien von Bewegungsstilen erkannt werden, signifikante Unterschiede zu den im europäischen Raum als "Tanz" bezeichneten Kategorien möglich. Es erscheint also sinnvoll, in erster Linie emische Kategorisierungen von Tanz zu erheben und jedenfalls etische Kriterien klar als solche zu deklarieren.

Interessant ist in diesem Zusammenhang selbstverständlich auch, wie außereuropäische Theoretiker den Tanz Europas rezipieren. So entdeckt Emi Hatano (1996), Choreographin und Professorin für modernen Tanz in Tokio, auf ihrer Suche nach einer vereinheitlichten Theorie des Modern Dance, im europäischen Tanz Grundzüge des japanischen Tanzes: den mai, die Drehung, den odori, die Emotion, den furi, die Geste. Arnd Wesemann (1998:21), Chefredakteur der Zeitschrift Ballett international Tanz aktuell, schreibt in seiner Rezension ihres Buches in Bezugnahme auf Hatanos Strichmännchen- Notation von Prinzipien europäischen Tanzes:

Ihr Buch "Expression & Possibility" eignet sich europäische Kultur an, indem sie die freien Bewegungsformen des westlichen Tanzes katalogisiert, als seinen sie Walzerschritte. Sie unterwirft sie einer kalligraphischen Buchführung, der Europäer fühlt sich wie ein Eingeborener vorm Zeichenblock.

Ein weiterer Widerspruch in den hervorgebrachten wissenschaftlichen Definitionen von Tanz ist in den unterschiedlichen Auffassungen zu seiner Zweckgerichtetheit bzw. Redundanz zu bemerken, so wie dies im vorangegangenen Abschnitt bereits angerissen wurde. Lomax, Bartenieff und Paulay (1968: 223) beziehen sich auf eine alte Definition durch Hanna (1965), wenn sie Tanz als hoch redundante physische Aktivität beschreiben. Keali'inohomoku (1970:28) ist eine der Vetreterinnen der Gegenposition, indem sie Tanz als zweckbestimmtes, menschliches Verhalten mit beabsichtigter und kontrollierter rhythmischer Körperbewegung durch den Raum und aufgeführt in einer gegebenen Form und gegebenem Stil definiert.

Rhythmus und Struktur gehören zu den meistgenannten Attributen von Tanz. Wobei Barba und Savarese (1991: 211) auch die Bedeutung von Stille, Brüchen und subjektiven Veränderungen der Zeitstruktur hervorheben. Man muss jedenfalls betonen, dass unter tänzerischem Rhythmus, insbesondere im Falle einiger hochentwickelter Formen, wie z.B. den modernen japanischen Butoh, nicht unbedingt Gleichmäßigkeit zu verstehen ist und in einigen Fällen auch die Musik eine bloß untergeordnete oder überhaupt keine Rolle spielen kann. Keali'inohomoku bezieht als eine der wenigen auch eine emische Sicht in ihre Definition mit ein, wenn sie betont, dass Tanz sowohl von den Ausführenden als auch von den Zusehern als solcher erkannt werden muss. Schmiderer (1996: 6) vertritt jedoch zurecht, dass dieser Fall insbesondere in interkulturellen Aufführungssituationen nicht immer eintreten muss, ohne dass indes die tänzerische Art der Vorführung ad hoc in Frage gestellt werden kann. Ähnliches gilt für den kommunikativen Aspekt von Tanz, wie er zum Beispiel durch Merriam (1972: 14) oder auch Hanna (1979b: 319) als konstituierendes Element einer Tanzvorführung beschrieben wird. So stellt Blacking (1986: 7) fest, dass zum Beispiel unbeabsichtigtes Handeln oder Benehmen als beabsichtigte Aktion interpretiert werden kann und umgekehrt. Schließlich hat Williams darauf hingewiesen, dass es wohl ebenso viele Definitionen von Tanz und tanzen gibt, wie es Kulturen oder Ethnien gibt, und innerhalb derselben Gruppen von Menschen, die sie vertreten (1991:185). Kaeppler (1992:197) bemerkt dazu, dass Tanz in Abhängigkeit von der untersuchten Kultur, die ihn hervorbringt, und den ausführenden Personen jeweils unterschiedlich als Kunst, Arbeit, Ritual, Zeremonie, Unterhaltung oder auch als Kombinationen davon verstanden werden kann. Solche Erkenntnisse bewogen Schmiderer (unveröff. A: 5) zu ihrer Definition, dass Intention und Aufführungskontext sowie gesellschaftliche Normen und Verständnis für die Definition von Tanz bestimmend sind, das heißt dafür, was in den jeweiligen Gesellschaften als Tanz anerkannt wird. Spencer (1985:38) ringt sich schließlich zu der pragmatischen Empfehlung durch, Tanz auf jene Weise zu definieren, die seinem Studium in einer spezifischen Situation oder Gesellschaft am angemessensten ist.

 

 

Forschungsrichtungen

 

In ihrer modernen Form leisten besonders soziologische und soziopsychologische Fragestellungen einen wichtigen Beitrag dazu, die Funktion, Bedeutung und Struktur von religiösen, therapeutischen oder unterhaltenden Tanzereignissen zu untersuchen. Dies ergibt sich auch aus der Geschichte der ethnologischen Sozialforschung, in der ritueller Tanz und Schauspiel, als ein gesellschaftliches Phänomen unter vielen, immer wieder zur Dokumentation und Illustration verschiedener Gesellschaftstheorien herangezogen wurden.(15) So betonten etwa Radcliff-Brown und Malinowsky die funktionalen Aspekte von Tanz und Schauspiel, wie zum Beispiel den der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Institutionen (Malinowsky 1928) oder den der Erzeugung von sozialer Harmonie (Radcliff-Brown 1922). Funktionalistische Studien (z.B. neben anderen Ansätzen in Dunham 1983, Royce 1977, Nürnberger 1994) untersuchen den Beitrag des Tanzes zur Gesamtkultur und den Stellenwert von Tanz innerhalb der jeweiligen Gesellschaft. Aus den Ergebnissen können Rückschlüsse auf die Art der Kultur und allgemeinere Erkenntnisse auf verschiedenen Gebieten, wie Psychologie und Philosophie gezogen werden. Auch Kulturwandelvorgänge können in Funktionsanalysen nachvollzogen werden. Ein solcher Ansatz wird auch in der vorliegenden Arbeit immer wieder hervortreten, die kaum detaillierte Beschreibungen einzelner Tänze beinhaltet, sondern sich in erster Linie auf soziopsychologische Fragestellungen im Kontext von Kulturwandelvorgängen konzentriert.

Strukturalistische Untersuchungen ergänzen in der vorliegenden Arbeit funktionalistische Analysen. Strukturstudien bemühen sich generell um die Erkenntnis komplexer Bedeutungsstrukturen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Unter diesem Aspekt wurden Ritual und Kunst im allgemeinen und Tanz und Schauspiel im besonderen untersucht (z.B. Lévi-Strauss 1967, Siikala 1978, V.Turner 1991).

Strukturstudien können sich anders als in der vorliegenden Arbeit auch in engerem Sinn mit Aufbau und Form von Tänzen bzw. Tanzstilen befassen. Dazu werden sinnvoller Weise Notationssysteme herangezogen, wie die Benesh Movement Notation, Labanotation u.a., oder andere Formen von Bewegungsanalysen (z.B. Lomax's Choreometrik 1968). Ein Spezialgebiet innerhalb strukturalistischer Forschungen nimmt die linguistisch oder semiotisch orientierte Richtung ein, die Bewegung, Tanz, aber auch Theater als Sprache untersucht. Ihre Vertreter und Anwender (z.B. Martin & Pesovar 1961, Giurchescu 1964, 1974 und 1986, Kaeppler 1967a und b, 1972 und 1988, Lomax et al. 1968, Birdwhistell 1970, Royce 1977, Williams 1976, 1977, 1991) arbeiten teilweise mit aus der Linguistik entlehnten Begriffen, wie 'Kinem' (vgl. 'Phonem'), 'Morphokineme' ( vgl. 'Morphem'), 'Kinesem' (vgl. 'Lexem') oder 'Syntax' und 'Semantik'. Diese strukturellen Bestandteile werden in der nicht ethnologischen Tanz- und Performanceforschung allerdings kaum mit gesellschaftlichen Strukturen in Verbindung gebracht, sondern zu einer Art Grammatik des Tanzes zusammengesetzt, welche, je nach der Orientierung der Wissenschaftler, emische oder etische Regeln für die Kombination von Tanzelementen zu einem kulturell akzeptablen vollständigen Tanz festlegt. Emische Regeln sind zum Beispiel von lerntechnischer Bedeutung, indem sie im Bewusstsein der Tänzer existieren (Martin & Pesovar 1961:5, Royce 1977:75). Auch Kaepplers (1972: 173f) und Royces (1977: z.B. 75) strukturalistische Untersuchungsmethoden basieren auf einer emischen Analyse, indem sie kategorisierende Unterschiede aus der Sicht der Träger der jeweiligen Kultur definieren. Kaepplers Untersuchungen führten zur Erstellung einer strukturellen Typologie der Tänze Tongas. Royce gibt Kuraths Begriff der Ethnochoreographie eine neue Bedeutung indem sie spezifiziert, dass diese sich mit emischen Konzepten von Bewegungssegmentierung auch in ihrer Relation zu anderen Aspekten der Kultur zu befassen habe. Aus etischer Sicht festgestellte Regelmäßigkeiten wurden mit wechselhaftem Erfolg neben den oft einsichtigeren funktionalistischen Untersuchungen auch für Typisierungen der cross-cultural Forschung herangezogen. So wollen Lomax et al. (1968), von teilweise überholten und ethnozentrischen Prämissen ausgehend, aufgrund ihrer kommunikationstheoretischen sogenannten choreometrischen Untersuchungen festgestellt haben, dass in jeder nicht komplex strukturierten Gesellschaft eine außerordentliche Uniformität der Bewegungssysteme vorherrscht, insofern als die meisten Individuen dieselbe Körperhaltung einnehmen, ungeachtet ihrer Aktivität und geschlechtlicher oder altersmäßiger Unterschiede.

Forscher und Forscherinnen, wie Blacking (1986:8) oder Snyder (1986:24) stellen derartigen Untersuchungen entgegen, dass interkulturell vergleichende (cross-cultural) Tanzforschung, nicht auf dem ausschließlichen Vergleich von Bewegungsmustern beruhen darf, sondern dass auch ihre gesellschaftliche Bedeutung und Kontextualität untersucht werden müssen, um zu sinnvollen Aussagen zu gelangen. Das impliziert in der Folge auch, dass aus rein visuellen Quellen, wie sie Filme, Videobändern, aber auch Tanznotationen nach den verschiedenen Systeme darstellen, kein relevantes Quellenmaterial für kontexterklärende und erfahrungsinterpretierende Studien, die Subjektivität und Intention berücksichtigen, bezogen werden kann.

Vergleiche von Bewegungen alleine, von Syntax ohne Semantik, sind immer mangelhaft, da sie versehentlich Unvergleichbares in Relation setzen könnten:

Blacking (ibid.: 13) plädiert auch die Umkehrbarkeit von Lomax' Paradigma zu bedenken: Sollten Arbeit und andere praktische Bewegungen nicht auch als Anwendungen von tänzerischen Fähigkeiten betrachtet werden, anstatt dass Tanzbewegungen a priori als formalisierte oder erweiterte Alltagsbewegung aufgefasst wird? Blackings sozialanthropologisches Interesse gilt schließlich nicht so sehr dem Tanz als Gebrauchsobjekt, sondern dem Tanz als einer ideologischen und sozialen Wirkkraft. Es gibt bereits eine ganze Reihe von Tanzstudien, die demonstrieren konnten, dass Tanz nicht nur soziale Beziehungen reflektiert, sondern auch dazu beitragen kann, soziale Verhältnisse zu gestalten und auf diese Weise auch Kulturwandelprozesse prägt (z.B. Hanna 1980, Keali'inohomoku 1973, Nürnberger 1994, Royce 1980).

Williams verbindet in ihrem semasiologischen Ansatz soziologische und linguistische Fragestellungen zu einer Theorie der 'Körpersprache'. Sie sieht alle menschlichen Aktionen als im Bezug zu unterschiedlicher gesprochener Sprache und Körpersprache stehend, die sowohl für individuelles als auch für gesellschaftliches Selbst der Ausführenden und Beobachter und für den jeweiligen Kontext relevant sind. Royce (1977:73) wendet strukturelle Untersuchungen unter anderem für Kulturwandelanalysen an. Sie erhofft sich durch Strukturanalysen das survival potential eines Tanzes eruieren zu können (ibid.: 110). Ich habe a.a.O. (1994: 202) darauf hingewiesen, dass insbesondere ihre Ansicht, dass sich ein Nationaltanz nur dann aus einer autochthonen Tanzform entwickeln kann, wenn diese nicht auf Eliten oder Spezialisten von Vorführenden beschränkt ist, revidiert werden muss, da sich solche gesellschaftliche Strukturen dem politischen Bedürfnis nach nationalem Kunstausdruck anpassen und entsprechend verändern können. Strukturelle Untersuchungen sind bei Royce aber auch dort zielführend, wo kulturelle Werte und Normen in Bezug auf Begrenzung und Freiheit von Kreativität oder auch in Bezug auf ästhetische Konzepte zu erfassen sind. Auf diesem Gebiet werde ich in der Folge, wo dies zweckmäßig erscheint, ebenfalls einen strukturalistischen Ansatz anwenden.

Das Verhalten bei Feiern, Riten und Tänzen wurde von Vertretern der 'Personality and Culture' - Forschung herangezogen, um die Beziehung zwischen Persönlichkeit und Kultur, Sozialisations- und Akkulturationsprozessen zu erklären (z.B. Benedikt 1935, Mead 1928, Kubik 1979). Ähnlich wie in meiner früheren Arbeit (Nürnberger 1994) über die Entwicklung des modernen Bühnentanzes aus dem Ritualtanz des Hochlands in Sri Lanka, werde ich diesen Ansatz dazu verwenden, um die Unterschiede im Verhältnis moderner Bühnentänzer einerseits und traditioneller Ritualtänzer andererseits zu ihrer Gesellschaft zu erläutern.

Die auf das Gebiet der Tanzethnologie spezialisierten Arbeiten beziehen darüber hinaus vermehrt auch psychologische Fragestellungen ein. So behandeln etwa Spencer und Royce auch die kathartische Funktion des Tanzes und des Rituals. Hanna betont verschiedene andere affektive Funktionen des Tanzes, wie psychologische Verteidigung und Wachrufen emotionaler Reaktionen. Soziopsychologische Überlegungen haben auch die Diskussion von Tanz als rituellem Drama geprägt, so z.B. die Diskussion um die Darstellung von 'Communitas' und 'Antistruktur' (V.Turner 1989b) in Situationen der Unsicherheit und Desorientierung, wie sie etwa bei den Totentänzen der Lugbara stattfinden (Middleton 1988), die der Wiederherstellung der sozialen Ordnung dienen, oder die singhalesischen Techniken der Personifikation von dämonischen Bedrohungen durch Masken und die Darstellung der Überlegenheit des Exorzisten (Kapferer 1983, Vogt Frýba 1991, Nürnberger 1994), die der Wiederherstellung der persönlichen Gesundheit dient. In derartigen Fragestellungen, gewinnt neben sozialen, medizinischen, aber auch mythischen und anderen qualitativen Daten, die Erhebung der subjektiven Erfahrung von Ritualteilnehmern, Tänzern wie Publikum, Bedeutung. Wenn eine Tänzerin beispielsweise für die Manifestation eines spirituellen Wesens gehalten wird, kann es sowohl irrelevant als auch irreführend sein, ihre Bewegungen als choreutische Einheiten zu beschreiben (Blacking 1986: 15).

Praktisch alle Ansätze der Ethnosoziologie finden in die Tanzforschung Eingang. Die eigentliche Tanzsoziologie hat allerdings, wie Thomas (1995: 9) feststellt, mit einer dreifachen Marginalisierung innerhalb der Soziologie zu kämpfen: erstens als einem Gebiet der Kunst, zweitens als Gebiet, das sich mit dem Körper auseinandersetzt und drittens als einem Bereich, der sich hauptsächlich mit dem kreativen Ausdruck von Frauen befasst. In scharfen Gegensatz dazu verfügt die Tanzethnologie bereits über eine beträchtliche Sammlung an Daten und kann hier einiges dazu beitragen, diese Marginalisierung zu mildern (ibid: 8).

In komplexen Gesellschaften wird dem Tanz heute eine wichtige Rolle bei der Darstellung und Aufarbeitung von Konflikten zuerkannt. Dies betrifft besonders kulturelle Entwicklungen an interethnischen Kontaktzonen. Hierbei spielte in den letzten Jahrzehnten die Verarbeitung der kolonialen Erfahrung eine hervorragende Rolle. Mooney (1965) hat in seiner Arbeit über die Geistertanzbewegung in Nordamerika als einer der ersten gezeigt, welche zentrale Rolle Tanz in der Organisation des antikolonialen Widerstands übernehmen kann. Ranger (1975) behandelte Tanz als Artikulation des Selbstbewusstseins der Kolonisierten in Ostafrika. Stoller (1995) untersucht die Besessenheitstänze des Hauka-Kultes in Westafrika als postkoloniale religiöse Bewegung und in ihrer politischen Auswirkung auf den postkolonialen nigerianischen Regierungsstil. Auch in den von mir analysierten srilankischen Tänzen und Tanzriten (Nürnberger 1994) finden sich zahlreiche Hinweise auf kulturelle Kontakte, Auseinandersetzungen und Dialoge zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, Singhalesen und Indern, aber auch mit Stammesbevölkerungen und mit den ehemaligen Kolonisatoren. Tanzanthropologische Untersuchungen (z.B. Hanna 1980, Keali'inohomoku 1973, Royce 1980) haben immer wieder bestätigt, dass Tanz nicht nur soziale Beziehungen widerspiegelt, sondern auch einen Beitrag zur Formung sozialen Verhaltens leisten kann und dadurch zum gesellschaftlichen Wandel beiträgt.

 

 

Körperlichkeit und Kultur

Gesellschaftliche Krisen der Körperlichkeit. Körperlichkeit, Kognition und Produktion von Kultur. Entfremdung und Dämonisierung des Körpers.

 

Schon Kurath (1960:235) hat auf die Verbindung zwischen Tanz und Alltagsbewegung hingewiesen. Sie unterteilte die Tanzanthropologie in einen weiteren und einen engeren Forschungsbereich. Der weitere Forschungsbereich beschäftigt sich mit jeder charakteristischen und ausdrucksstarken Bewegung, da Tanzbewegungen im allgemeinen aus Alltagsbewegungen schöpfen. Diese Erkenntnis ist in der angloamerikanischen Diskussion um den Begriff des 'ethnischen Tanzes' insofern von Interesse, da sich, wie Keali'inohomoku (1970: 30) dies am deutlichsten formulierte, daraus ableiten lässt, dass jegliche Tanzkunst, also auch das europäische Ballett, insofern 'ethnisch' ist, als sie gemeinsame genetische, linguistische und kulturelle Verbindungen aufweist. Anders als im deutschsprachigen Raum, wo der Begriff 'ethnisch' von bloß geographischer Relevanz ist, indem er sich auf den außereuropäischen Raum bezieht, war es im englischen Sprachraum zu einer pejorativen Dichotomisierung zwischen den Begriffen 'Kunsttanz' und 'ethnischer Tanz' gekommen, so als ob Ethnizität künstlerische Tiefe ausschlösse. Das ist von Keali'inohomoku (1970) in dem erwähnten Artikel in erster Linie kritisiert worden.

Williams (1975) sieht sich deshalb genötigt, in ihrem Herangehen an tanzanthropologische Fragestellungen das ganze Spektrum menschlicher Bewegungen in eine Anthropology of Human Movement einzubeziehen, um umfassendes Material für die Analyse von Tänzen zu bekommen. Blacking (1983) verlangt in ähnlichem Zusammenhang eine emische Perspektive als Grundlage von Kulturvergleichen, die durch das Studium aller Alltags-'Sprachen' der unterschiedlichen Kulturen erlangt werden soll.

Diese Arbeiten, wie sie hier nur beispielhaft und stellvertretend für viele andere genannt werden können, verweisen auch mehr oder weniger explizit auf das Phänomen der kulturellen Prägung von Alltagsverhalten. So stellt auch Thomas (1995:28) in ihrer Einführung in die Tanzsoziologie fest, das 'ganz normale', alltägliche Körperbewegung bei weitem nicht so 'natürlich' ist, wie gemeinhin angenommen wird. Dies wurde durch Arbeiten, wie jene von Hall (1969,1973) über Proxemics, über Bewegung im persönlichen und im sozialen Raum, von Birdwhistell (1970) über Kinesics, über Bewegung in alltäglicher Kommunikation, von LaBarre (1975) über die kulturelle Basis von Emotion und Gestik oder auch jene von Douglas (1970a & b, 1975, 1978), die von Durkheim beeinflusst über Körpersymbolik arbeitet, wissenschaftlich demonstriert. Diese kulturanthropologischen Forschungsansätze stehen in einem Spannungsverhältnis zu den biologistischen Ansätzen neodarwinistischer Richtung, die dazu tendiert, körperliches Benehmen und speziell die Facetten des menschlichen Gesichtsausdrucks als natürlich und universell zu interpretieren und mit Beobachtungen aus der Tierwelt zu korrelieren (Eibl-Eibesfeld 1997, Hinde 1972, Polhemus 1975).

Kulturelle Repräsentationen und Ideologien, sozial erlernte Herangehensweisen und Praktiken werden von Personen 'verkörpert' und aktiv ausgedrückt (z.B. Bourdieu 1977, 1990: 53; Mauss 1979: 101; zitiert nach Green 1996: 486). Goffman, vielzitiert als Quelle zu Gedankengängen über die Zusammenhänge zwischen körperlicher Repräsentation und Kultur, wies bereits 1959 auf den Charakter menschlichen Alltagsverhaltens als inszeniertes Sozialverhalten hin. Goffman (1988: 27) führt beispielsweise aus, welche performative Arbeit zur Aufrechterhaltung des Image durch Alltagsverhalten geleistet wird. Dabei geht er davon aus, das die Performance bereits dann effektiv ist, wenn die anderen so reagieren 'als ob' das Individuum den gewünschten Eindruck hinterlassen hätte (ibid.: 18). Mit Begriffen wie working arrangement oder working agreement erfasst er Ansprüche, die aneinander gestellt werden, in Bezug auf ihre Gültigkeitsbereiche und zeitlichen Beschränkungen (ibid.: 21). In weiterer Folge unterscheidet er zwischen informellem Verhalten, backstage behaviour, und formellem Verhalten, frontstage behaviour, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten haben und jeweils in bestimmten sozialen Schichten überwiegen (ibid.: 130ff). Performatives Verhalten zeigt weniger das, was der einzelne gern wäre als das wofür er agiert, sein Team, Teil einer Fassade, front, einer sozialen Gruppe, einer Institution, einer Firma und dergleichen (ibid.: 32-44, 83ff). Das 'Publikum' orientiert sich dabei an Schlüsseln und Zeichen, die für mehr stehen als sie direkt darstellen, Kleidung, Akzent, benehmen usw. Performances eines Individuums akzentuieren bestimmte Dinge und verbergen andere. Damit wird eine Begrenzung und Kontrolle über Kontakte und Kommunikation hergestellt. Eine gegebene Person zu sein, bedeutet nicht nur bestimmte Attribute zu besitzen, sondern auch ein bestimmtes Niveau des Verhaltens und der Erscheinung zu wahren, das von der eigenen sozialen Gruppe auferlegt wird. In diesem Rahmen erscheint die von Barba postulierte, und im Vorangegangenen bereits erwähnte Inkulturation des Performancekünstlers in eine eigene Welt mit transkulturellen Zügen als alltäglichere Erscheinung, die auch auf andere Berufsgruppen zutrifft, etwa Bankiers, Ethnologen oder Taxifahrer, die über Kulturgrenzen hinweg Ähnlichkeiten in ihrem repräsentativen Verhalten aufweisen können, welche eng mit ihrer sozialen Funktion - die sich in diesen Fällen eben international ähnelt - zusammenhängen. All das bedeutet, dass Alltagsbewegungen eine kodierte Systematik aufweisen, die von kultureller Varianz sein kann, die jedoch im allgemeinen von Angehörigen der jeweiligen Gesellschaften als 'natürlich', d.h. nicht sozial geprägt, aufgefasst werden. Das bedeutet aber auch, dass über den Körper ein Diskurs über die Gestalt der Wirklichkeit geführt wird.

Der Körper und seine Teile ist in vielen Gegenden der Erde Symbol für verschiedene Bereiche des sozialen, ökonomischen und politischen Lebens. So bringt Roy F. Ellen (1971: 358ff) Beispiele für afrikanische Körpersymbolik bei rituellen Formen von Bezahlungen - wie etwa für die Aufhebung von Nahrungstabus oder für die Abgeltung von Totschlag bei den Nuaulu. Ein anderes ihrer Beispiele bezieht sich auf Körpersymbolik in den Bezeichnungen von Teilen des Getreidespeichers als weibliche Körperteile bei den Dogon. Ellen hält fest, dass in zahlreichen Fällen eine Verbindung zwischen anatomischer Klassifikation und wichtigen Kulturbereichen, etwa politischer Hierarchie, sowie mit Artefakten, wie Geldmittel oder Getreidespeicher, bei metaphorischem Gebrauch des Verhältnisses der Körperteile zueinander besteht:

Körper werden normalerweise, das heißt, von nicht zu Sportmaschinen gedrillten Menschen, nicht rein funktional bewegt. Körper reagieren vielmehr auf eine Fülle an Konditionierungen, von subtilsten gedanklichen und emotionalen Regungen bis hin zu prinzipiellen Lebenshaltungen. Der Körper ist in seinem dialektischen Bezug zur Kultur nicht nur geprägt sondern auch prägend. So werden unter anderem Gefühls-'Regungen' und Lebens-'Haltungen' durch Körper-'Bewegung' und -'Haltung' unterstützt und erzeugt. Es findet ein vielschichtiger Austausch zwischen den beiden Polen der Körperlichkeit und Kultur statt, dessen komplizierte Gestalt und Wirkungsbreite es erst noch zu erforschen gilt.

Victor Turner (1968) hat im Zusammenhang mit seinen Symbolstudien den Gegenpol zu köperlich-emotionalen Prozessen in den geistig-ideologischen Konzepten einer Kultur gesetzt. Er sah die essentielle kulturelle Funktion von Symbolen darin, 'Resonanz' zwischen diesen beiden Polen zu erzielen. Marcel Mauss (1979) argumentierte, dass es so etwas wie 'natürliches Verhalten' gar nicht gibt, dass die "Techniken des Körpers" kulturelle Kategorien sind, die in sozialen Interaktionen im wörtlichen Sinne 'angenommen', angelernt oder verkörpert werden. Mauss' (1979) Konzept des "Habitus", das von Bourdieu (1977, 1990) später in seiner "Theorie der Praxis" übernommen wurde, unterminierte als erstes sowohl die vorgeblich primordiale Natur des sensorischen Pols im Sinne von Turner (1968) als auch die Eindeutigkeit der Unterscheidung zwischen dem Sensorischen und dem Ideologischen (Laderman & Roseman 1996:4). Bourdieu (1997) setzt sich über den Begriff des Habitus, der bei ihm eine spezifische Bedeutung erlangt, von einer Bewusstseinsphilosophie ab, die alle Handlungen als Resultat bewusst kalkulierter Überlegungen versteht. Der Habitus ist bei ihm Sediment vergangener Erfahrungen, im Körper inkarnierte Geschichte, und ermöglicht es dem Menschen, sich gleichsam unbewusst an den im Wandel begriffenen Kontext anzupassen. Der Prozess der Adaption von diesen physisch-historischen Dispositionen an die aktuellen Forderungen der sozialen Welt kann gelingen, aber auch, vor allem in Krisensituationen, misslingen (Bourdieu-Rezension in Jurt 1997).

 

 

Gesellschaftliche Krisen der Körperlichkeit

 

Die Beziehung zwischen Körper und Kultur wird besonders in Umbruchszeiten sichtbar, in der veraltete Werte massiv in Frage gestellt werden. Eubanks (1996) macht auf die Konjunktur des öffentlichen Interesses an Grenzexistenzen, 'freaks' (im englischen Sinn, d.h. sogenannte 'Missgestaltete' oder auch anderweitig spektakuläre Individuen), aufmerksam und zitiert Douglas (1966: 138):

Auch Hughes (1996: 33f) weist auf die Hinwendung zum Körper, zu seinen Leidenschaften und Interessen in Zeiten hin, die eine gesellschaftliche Krise der Vernunft mit sich bringen. Die Vernunft wird in solchen Zeiten als unfähig erachtet, soziale Prozesse und individuelles Handeln zu lenken, so dass Konzepte immer mehr und generell als bloß täuschende Rationalisierungen von schwer fassbaren Problemen erscheinen. Diese Wendung war nach Hughes Merkmal des Fin de Siècle, der die Werke von Nietzsche, Freud oder Simmel hervorbrachte, ebenso wie sie zum Kennzeichen der nahen Jahrtausendwende wird. Man erinnert sich heute im Zusammenhang mit Körperlichkeit und Kultur wieder an Nietzsche - nach einer längeren Phase des Desinteresses und Misstrauens gegenüber seinen durch den Faschismus missbrauchten Ideen - für viele erscheint die Zeit erneut reif dafür, eine dekadente Kultur durch die Hinwendung zu elementarer Körperlichkeit wieder zu beleben.

Die präfaschistische Körperkultur mit ihren Turnvereinen, der Freikörperbewegung und der Geburt des Deutschen Ausdruckstanzes war durch eine Abwendung vom Rationalismus gekennzeichnet. Viele positiven Aspekte dieser Bewegungen gerieten infolge ihres Missbrauchs durch den Faschismus im deutschsprachigen Raum in unverdiente Vergessenheit. In seiner Emigration in England hat Laban seit den Vierzigerjahren mit der Etablierung seines educational dance einen wesentlichen Beitrag dazu leisten können, Körperlichkeit und Emotionalität in den Pflichtschulunterricht und damit in den staatlich geförderten Bereich der Enkulturation Großbritanniens zu integrieren. Das hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass Großbritannien heute unter allen Tänzern und Tanzbegeisterten Europas als Vorbild auf dem Gebiet der Tanzförderungspolitik gilt.

Auch in den Sechzigerjahren, die von der schmerzlichen Erkenntnis der Grenzen der Segnungen des Wirtschaftswachstums, von der politischen Desillusionierung über das amerikanische Engagements im Vietnamkrieg und von allgemeinem Zweifel an sogenannten bürgerlichen Werten geprägt wurden, kam es zu einer allgemeinen Bewegung hin zu einer neuen Natürlichkeit und Körperbewusstheit mit Verzicht auf alte Autoritätsstrukturen, Anstreben von freier Sexualität, einem Wiederaufleben der Freikörperkultur, der nicht elitären Kunsterziehung mit der Betonung von ganzheitlicher 'Happenings', Musik- und Tanz - 'Sessions', usw. Diese Strömung beinhaltete auch eine pädagogische Bewegung der sogenannten 'affektiven Erziehung', die als Ausgleich gegen einen übertriebenen Intellektualismus die Emotionalität der Kinder für Bildungsziele einzusetzen bestrebt war. Bis heute wird, besonders in Amerika, an einigen fortschrittlichen Schulen die 'emotionale Erziehung', die den Umgang mit Emotionen lehrt, kultiviert (Goleman 1996: bes. 329-359, 377-385).

 

 

Körperlichkeit, Kognition und Produktion von Kultur

 

Emotionalität, Sinnlichkeit und Körperlichkeit sind wesentliche Elemente kognitiver Prozesse, wie Goleman in seinem Buch 'Emotionale Intelligenz' (1996) herausstreicht. Kognitive Prozesse erfordern die Fähigkeit zur Erinnerung, zur Vergegenwärtigung und sinnvollen Bewertung, die alle mit dem aufmerksamen Management, oder - wem das Wort lieber ist - der Organisation von Emotionen gekoppelt sind. In diesem Sinn befähigt nicht die ausbeuterische Nutzbarmachung emotionaler Kräfte, wie dies etwa durch den Faschismus praktiziert wurde, sondern ein tiefes Verständnis von emotionalen Signalen zu kultiviertem Umgang und künstlerischer Kreativität im Sinne der Erhaltung der Integrität einer Kultur.

Der Zusammenhang zwischen Körper, Emotion und Erinnerung (Goleman 1996: bes. 38f, 76ff) wird auf vielfältige Weise psychologisch und pädagogisch genutzt. Lowens Bio-Energetik (Lowen 1987) baut Verkrampfungen im Körper ab, die durch Verdrängung hochemotionaler und deshalb unverkraftbarer Erinnerung entstanden sind. Im Laufe der körperorientierten Therapie werden diese Erinnerungen, wieder ins Bewusstsein geholt, emotional entlastet und dadurch für den Patienten bearbeitbar gemacht. Im Idealfall sollen sich über die physische Einflussnahme und unterstützende therapeutische Maßnahmen die psychischen Probleme und die körperlichen Verspannungen gleichermaßen lösen. Lowen wies in seiner Charakterkunde (ibid.: 130-160) auf den Zusammenhang spezifischer körperlicher Fehlhaltungen mit speziellen psychologischen Menschentypen hin.

Eine Anwendung der Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Gedächtnis, praktisch anwendbarem Wissen und Körper stellt die schon erwähnte Praxis der Tanzanimation (16) an englischen Pflichtschulen im Educational Dance dar. Einen lerntechnischen Erfolg erzielen Tanzanimateure an englischen Schulen zum Beispiel, indem sie über einige Grundschritte zu den mehrfach strukturierten Rhythmen des indischen Tanzes Schülern Grundbegriffe und Strukturen der Mathematik nicht nur erklären, sondern in einem freudvollen und kreativen Kontext erleb- und merkbar machen. In Großbritannien benutzt man Tanz an Schulen in vielfältiger Weise, um Emotionalität und körperliche Erinnerung in den Dienst des Lernens zu stellen. Wichtigen Stellenwert beim sogenannten Educational Dance an englischen Pflichtschulen hat auch der Erwerb grundlegender sozialer Fähigkeiten. Hier kommt dann, im modernen multikulturellen Umfeld der englischen Städte, außereuropäischen Tanzstilen zusätzliche entpräjudizierende und kooperationsfördernde Bedeutung zu, worauf ich im Folgenden noch näher eingehen werde. Die Wertschätzung der Kultivierung von Körperlichkeit und Emotion erleichtert auch die Kultivierung multikultureller Kommunikation, was durch die Pionierrolle des Laban Centre in London als Ausbildner indischer und afrokaribischer Tanzanimateure, im Fachbereich Community Dance Studies für multikulturellen Unterricht, anschaulich illustriert wird (Academy 1983:3).

Die Erkenntnis, dass bestimmte Körperbewegungen und -haltungen mit bestimmten Berufen, aber auch mit sozialen Gegebenheiten oder religiösen Vorstellungen, eben mit verschiedenen Aspekten von Kultur, einhergehen, hat verschiedene Tanztheoretiker dazu veranlasst, nach Hinweisen auf Kultur, Arbeitswelt, Alltag und Gesellschaft in Tänzen zu suchen (z.B. auch Lomax 1968, Snyder 1990, Hirai 1990, Yamaguchi 1990). Die Interpretation verkörperten Wissens ist vor allem dann problematisch, wenn es den menschlichen Körper selbst betrifft. Hier müssen naturgemäß Unklarheiten auftreten, ob die Praktiken, die sich auf den menschlichen Körper beziehen, vom Körper handeln, wie er kulturell konstituiert ist, oder stattdessen von dem, was durch den Körper repräsentiert wird (Green 1996:486).

Ebenso sehr wie die Gesellschaft zum Symbol des Körpers wird, kann der Körper zu einem Symbol der Gesellschaft werden. Das drückt sich in gesellschaftlichen Bewegungen aus, die ihren Diskurs über den Körper führen, wie der postmoderne städtische Tribalismus oder Primitivismus. Die Dehistorisierung von außereuropäischen Körperveränderungen und Ritualen funktioniert hier als Bestätigung des Eigenen, insbesondere zur Verstärkung subjektiv gesetzter Dualismen, wie selbst/anderes, männlich/weiblich, Natur/Kultur. Außereuropäische Kulturen werden damit sowohl reduziert als auch zur Ware gemacht (Eubanks 1996:74f) und der vollkommen entkontextualisierten Anwendung außereuropäischer Kulturbilder werden Tür und Tor geöffnet. Obwohl die Anhänger primitivistischer oder tribalistischer Bewegungen, insbesondere in Teilen der New Age - Strömung, durchaus gesellschaftskritische Anliegen verfolgen, kann es doch zu keiner fruchtbaren Reformation der eigenen Kultur kommen, weil kein echtes Erkennen des Fremden erfolgt und die Chance zur angestrebten Erweiterung des Bewusstseins über den Körper demzufolge als verpasst gelten muss. Das Anliegen, etwa durch Piercing, Kontrolle über den Körper zu erlangen, ihn sozusagen aus einem durch die Moderne enteigneten Zustand wieder zurück zu erobern, muss zum Scheitern verurteilt bleiben, wenn damit gesellschaftliche Vorurteile in Bezug auf seine Natürlichkeit bekräftigt werden. Das 'Erlösungsparadigma' (Clifford 1987:122) feiert darin erneut seine Hochkonjunktur. Das Verlangen nach dem Garten Eden perpetuiert sozial fingierte Dichotomien, wie entwickelt - unterentwickelt, modern - primitiv, historisch - mythisch, geistig - körperlich.

Fruchtbarer erscheint der Versuch der Wiederaneignung des Körpers, indem er zu einem bewussten Bestandteil und Bezugspunkt der Lebenserzählung gemacht wird. Das kann durchaus zu einer Widerstandsform werden, wie Arthur Frank (1996) am Beispiel einer Bewegung gegen industrielle Umweltverschmutzung argumentiert. Neue wissenschaftliche Veröffentlichungen über Körper und Gesellschaft, wie etwa die von Featherstone und B.Turner herausgegebene Zeitschrift Body & Society, bemühen sich um eine Umsetzung dieses Anspruchs und geben der Beschreibung körperlichen Erlebens größeren Raum als bisher im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschungen.

Seit der Mitte der Achtzigerjahre beschäftigt sich die Soziologie vermehrt mit dem menschlichen Körper. Der daraus resultierende Diskurs war aber nahezu ausnahmslos einseitig durch einen Blickpunkt geprägt, der den Körper zu einem Resultat sozialer Prozesse erklärte. Dies ist die Stärke der Arbeiten von Michel Foucault (1979, 1980) und Norbert Elias (1978). Wenig wurde indes in diesen Arbeiten über den Körper als soziales Agens gesagt, als aktive Quelle sozialer Prozesse und Institutionen (Lyon & Barbalet 1994: 49,54). Schopenhauers 'Wille', Nietzsches 'Wille zur Macht', Freuds 'Unbewusstes' und Bergsons 'élan vital' gehörten alle zu einer früheren Tradition, in der das Soziale als grundlegend durch körperliche Leidenschaften beschrieben und manipuliert verstanden wurde (Hughes 1996: 34). Insbesondere Nietzsche sah sich veranlasst darauf zu reagieren, wie der Körper durch philosophische Vorurteile bedingt missachtet wurde. Er machte früh darauf aufmerksam, wie notwendig es ist, den Körper als Ausgangspunkt zu nehmen und ihn als Lehrer einzusetzen (Nietzsche 1968: 289 zitiert nach Smart 1996: 67).

Der Körper leitet uns in vielerlei Hinsicht durch den Prozess der unterscheidenden Erzeugung der Kategorie des Anderen, des 'othering'. Der Körper kann nicht als irgendwie von der Gesellschaft losgelöst betrachtet werden, insbesondere dann nicht, wenn der Blickwinkel Gesellschaft fokussiert. Für Nietzsche kennzeichnet gerade die gesellschaftliche Geringschätzung des Körpers seine Bedeutung. Wenn er dann letztlich den Körper und seine Affekte als das Kriterium, an dem Wahrheit sichtbar wird, heranzieht, so schmeckt das zurecht nach 'Gegenphilosophie', nach einer Vergeltung seiner Niedrigschätzung und Verachtung (Hughes 1996: 41). Anders als bei Foucault ist der Körper bei Nietzsche nicht 'gefügig' (ibid.: 33), sondern funktioniert in seiner Auflehnung gegen eine disfunktionale Gesellschaft.

Der Körper ist sowohl persönlich als auch sozial. Bryan Turner (1984: 248-250) strich deshalb in seiner Kritik an Foucault heraus, dass Körperlichkeit mehr als konzeptuell ist, sie ist auch potentiell in Hinblick auf soziale oder politische Entwicklungen. In Anlehnung an Nietzsches Verbindung zwischen Körperlichkeit und subjektiver Aktivität durch einen 'lebensbejahenden Instinkt', der sich im 'Willen zur Macht' äußert, verweist B. Turner darauf, dass Foucaults Modell keinen derartigen Platz für die wichtigen körperorientierten politischen Bewegungen unserer Zeit, wie Gleichberechtigung der Geschlechter, Feminismus und Homosexuellen-Befreiung, bereithält (T.Turner 1994: 39, 43f). Kulturdefinierende Agenzien von Körperlichkeit fanden auch in der Bewegung zur Befreiung des Körpers in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ihren Ausdruck, die maßgebend von Pionieren des amerikanischen Modern Dance und des Deutschen Ausdruckstanzes getragen wurden, worauf in dieser Arbeit wiederholt Bezug genommen wird.

Tanz- und Bewegungskunst umfasst in vielen Kulturen mehrere kulturelle Ausdrucksformen. Tanzkunst enthält Elemente der Religion, der Dichtkunst, der Musik, des Schauspiels. Verschiedene Bereiche der Kultur sind von Tanz- und Bewegungskunst nicht absolut zu trennen: Sie definiert und bedient sich unter anderem aus der Bewegungsästhetik, Bekleidungsethik, Körperethik, aus dem gestischen Ausdruck und damit verbunden der symbolischen Darstellung des Körpers in Malerei und Skulptur. Dies verweist auf das Phänomen der Indexikalität der Bewegungskünste: Tanz enthält einander überschneidende Hinweise auf die verschiedensten Kulturbereiche. Für Riten (Tambiah 1981) und Tanz (Royce 1980) ist ihre Idexikalität wiederholt hervorgehoben worden. Über Tanz zu lernen, bedeutet deshalb unter anderem auch über die Wertung von Körperlichkeit zu lernen.

 

 

Entfremdung und Dämonisierung des Körpers

 

Descartes (1596-1650) prägte die Auffassung von der Körper-Geist-Dualität des Menschen. Für ihn ist der Geist Sitz der Bewusstheit, des Verstandes, des Willens, der Wahrnehmung und Fantasie. Der menschliche Körper ist hingegen nur durch seine Ausdehnung gekennzeichnet. Obwohl für Descartes Körper und Geist unterschiedlicher Natur sind, interagieren sie doch miteinander, indem der Geist kleinste Regungen im Gehirn verursacht, die ihrerseits Wahrnehmung und Emotionen bedingen. Der Geist ist unteilbar, während der Körper in beliebig kleine Bestandteile zerlegt werden kann. Diese kartesische Vorstellungswelt impliziert eine klares Primat des Geistes über den Körper und auch der Vernunft über der Emotion, unter anderem, indem nur dem Geist allein Vernunft und kognitive Funktion zuerkannt wird.

Tanz steht in dieser bis heute im Westen vorherrschenden Denkart dem Körper näher als dem Geist und dadurch auch Vorstellungen von Primitivität und Natürlichkeit (Thomas 1995: 6f). Tanz wird deshalb immer wieder in erster Linie mit formellen und Übergangsriten assoziiert und als essentieller Bestandteil von "traditionellen", einfach strukturierten und präliterarischen Kulturen angesehen. Durkheims (1964) Analyse der "mechanischen" und "organischen" Solidarität, die sowohl Soziologie als auch Anthropologie beeinflusste, ist ein gutes Beispiel für diese Typologie (Thomas 1995: 8, 176 f).

Jennings (1995: 12f) konstatiert, dass gesellschaftliche Furcht vor Gefühlen die Ursache der Marginalisierung von Tanz und von weiten Bereichen dramatischer Kunst im Westen ist. Doch kann dies nicht alleinige Ursache sein, vergleicht man die Situation in weiten Teilen Asiens, etwa Indiens, Sri Lankas und Balis, wo ebenfalls eine starke gesellschaftliche Furcht vor Emotionalisierung beobachtet werden kann und dennoch Tanz zentraler Bestandteil der Kultur geblieben oder wieder geworden ist. In Asien trifft man auf eine Geist- und Körperkultur mit ununterbrochener Jahrtausende alter Tradition, die zu einer Vorstellung tendiert, dass beide, Geist wie Körper, Ausdruck derselben kosmischen Wirkkräfte sind. Deshalb gibt es dort keinen Zweifel darüber, dass eine Konzentration des Geistes den Körper verändern und eine Übung des Körpers die intellektuellen Fähigkeiten schärfen kann.

 

Besonders das Christentum seit dem Mittelalter (Hanzalek 1994: passim), aber auch andere Staatsreligionen, wie der Theravadabuddhismus Sri Lankas etwa (Nürnberger 1994: bes. 47-56), lehnen vehementere körperliche Bewegung als Mittel zur Ekstatisierung und zum Erlangen spiritueller Einsichten weitgehend ab und ersetzen diese durch große Gesten der Sprache: Wo einstmals nonverbale Bewegung Ausdruck des Dialogs mit den übermenschlichen Mächten war, sind es jetzt komplizierte Formeln, Gebete und Rezitationen allenfalls noch Klangopfer und musikalische Darbietungen, die das Herz der Bedrängten in erster Linie beruhigen und nun erst in zweiter Linie erheben sollen. Im Tanz und der damit einher gehenden Ekstatisierung wird geradezu eine Gefährdung der herrschenden hierarchischen Ordnung erblickt. Quietismus, Perfektion im Gehorsam und Meditation sind die Ideale moderner Staatsreligionen. Platons Daimon der Inspiration wird so verteufelt zum Dämon, der der Erlösung nur im Wege steht. Vergessen scheint, wie Lyon und Barbalet (1994:55) anmerken, dass die christliche Kongregation nicht nur metaphorisch 'Körper' (17) ist, sondern auch tatsächlich aus Körpern mit ihren bestimmten Veranlagungen besteht, die durch kognitive und affektive Orientierungen zu einer zeitweiligen Einheit zusammengebracht wurden.

Natürlich wurde die Verbannung des Tanzes aus dem sakralen Rahmen nicht immer und überall widerspruchslos hingenommen. Der theravadabuddhistische Gottesdienst Sri Lankas beinhaltet Tänze zu Trommelklängen, die von den orthodoxesten Buddhisten als ein bloßes Zugeständnis an die Bedürfnisse der Massen gewertet werden. Auch die katholische Kirche von Sevilla pflegt bis heute einen "Tanz der Unschuldigen Knaben" als Teil der christlichen Liturgie, für den wiederholt ein Dispens aus Rom errungen wurde (z.B. Jonas 1993:45). Tänzer erfreuten sich eines größeren moralischen Vertrauens seitens der abendländischen Kirchenväter als Tänzerinnen, die schon früher gänzlich aus der christlichen, wie übrigens auch aus der srilankischen theravadabuddhistischen Liturgie verbannt wurden.

Immer wieder, sei es in Reaktion auf die erneuerte Strenge der Reformation oder später durch die Auseinandersetzung mit den rituellen Gewohnheiten der Konvertiten der Kolonialländer, kam es zu Versuchen, Tänze in christliche Riten zu reintegrieren. So wurde etwa dem Ende der sechziger Jahre des 16. Jahrhunderts entstandenen Tanzkult der sogenannten 'Springer'-Sekte des Grenzgebietes zwischen Slowenien und der südwestlichen Steiermark im Zuge der Gegenreformation erst gegen Mitte des 17 Jh. Einhalt geboten. Ihren Namen erhielten die Springer, weil sie bei ihren Tänzen anlässlich von Wallfahrten auch hohe Sprünge ausführten. Ähnlich, wie in Kulten an vielen anderen Plätzen der Erde, dienten ihre Tänze der Erreichung ekstatischer Bewusstseinszustände mit Visionen. Insbesondere sollte der 'Heiligen Geist' herbei gerufen werden. Die Springer beanspruchten für sich, kollektive Visionen von Heiligen, wie etwa der Jungfrau Maria, aber auch spontane Heilungen in größerer Zahl hervorgerufen zu haben. Ihre Gegner sprachen von entfesselten teuflischen Lustbarkeiten und Rausch, die mit ihren Kulten einhergingen. Ihre große Zahl - Mlinaric (undatiert, unpaginiert) spricht von einigen Tausenden von slowenisch- und deutschsprachigen Anhängern - rekrutierte sich aus den unteren sozialen Schichten, vor allem aus Bauern und Handwerkern. Ähnlich den Wiedertäufern (Anabaptisma) und den Stiftern brachten auch die Springer das allmählich aufkommende Bestreben der Untertanen nach Selbständigkeit im religiösen Leben und im Hinblick auf die kirchliche Organisation zum Ausdruck. Sie scheinen nach Mlinaric nach zahllosen gewalttätigen Versuchen der Ausrottung erst durch die Bewilligung der Errichtung von einigen Kirchenbauten an ihren ehemaligen Kultplätzen endgültig befriedet worden zu sein.

Ein liturgischer Gesang der im 18. Jahrhundert entstandenen christlichen tanzenden Sekte der Shaker, 'Lord of the Dance', wird uns als ein weiteres Beispiel der Reintegration von Tanz in das Christentum im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch als Grundlage für modernen liturgischen Tanz indischen Stils im multikulturellen anglikanischen Gottesdienst beschäftigen.

Der Ausschluss des Tanzes aus dem Bereich des Religiösen hat in unserer Hemisphäre seine Entwicklung als Unterhaltungsform und Kunst in vielfacher Weise geprägt und einige der grundlegendsten Unterschiede zu Tanz im außereuropäischen Bereich begründet. Jonas (1993:50f) verweist darauf, dass sich der in den meisten Kulturen als ausgesprochen 'tierhaft' verpönte Paartanz in unseren Breiten gerade durch die Entsakralisierung des Tanzes herausbilden konnte. Andererseits sind die Orientierung der Bewegungen des Balletts nach oben hin, sein ätherischer und illusionistischer Charakter der Schwerelosigkeit, so wie der Spitzentanz selbst nicht nur Ausdruck vergeistigter Ziele und der moralischen Werte des Christentums, sondern auch der kartesianischen Trennung von Körper und Geist (ibid.:51).

Tanz wird über die Kultivierung und Disziplinierung des Körpers zur Waffe gegen jenen dämonisierten Aspekt von Körperlichkeit, der vor allem auch als gesellschaftliche Autoritätsgefährdung durch unkontrollierte physische Kraft oder auch durch Sexualität in Machtrivalitäten erfahren wurde. Schon am Hof Ludwig XIV wurde Tanz dazu verwendet, Höflinge von Intrigen gegen den König abzuhalten, sie zu erziehen und zu disziplinieren und ihrem Ehrgeiz nach Aufstieg in der höfischen Hierarchie ungefährliche Nahrung in einer Art Beschäftigungstherapie zu geben. Denn an Hofe gelten konnte nur derjenige etwas, der auch geschickt zu Tanzen verstand. Ludwig XIV begründete die Academie Royale du Dance, an der Angehörigen des Hofes täglich mehrstündiger Tanzunterricht gegeben wurde. Tanz war am französischen Hof eng mit der Etikette und dem höfischen Benehmen verbunden, Tanz war auch die Form der Wahl für die Gestaltung des neuen sakralen apollinischen Kultes des selbststilisierten Sonnenkönigs Ludwig XIV, der die Hauptrolle tanzte (Jonas 1993:70-82).

Auch die Tradition des Hoftanzes auf Java war Ausdruck einer Ethik, die Tanzbewegungen erzieherische Funktion zuschrieb. Diese schlug sich in den Hofpraktiken zwischen 1920 und 1936 nieder und wird in der Haltung der Tänzergeneration jener Zeit bewahrt, welche sie heute an ihre Schüler weitergeben (Hughes-Freeland 1997b:478).

Im theravadabuddhistischen postkolonialen Sri Lanka wurde Tanz zuerst aus seinem als rückständig erachteten rituellen und als im Widerspruch zum modernen 'reformierten' Buddhismus (Gombrich & Obeyesekere 1988) empfundenen ekstatisierenden Zusammenhang herausgelöst, indem er als neue und erbauliche unterhaltende Kunstform für die mittleren und oberen Stände auf der Bühne etabliert wurde. Danach erst und in der Folge konnte Tanz sich als Ersatz oder nationalistische Alternative zum gymnastischen Drill, einem Erbe der Kolonisatoren, an allgemeinbildenden Schulen, aber auch Tanz als akrobatischer Drill im Rahmen der staatlichen Tanztruppen des Heeres und der Polizei etablieren (Nürnberger 1994 u. 1997).

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie grenzte sich das aufstrebende Bürgertum in Europa moralisch gegen die 'laxen Sitten' des de facto unterlegenen Adels durch neue und puritanische Moralvorstellungen ab. Der Körper wurde nicht mehr als Quelle der Lust, sondern als ein Instrument der Produktion betrachtet. Ein anderer Gebrauch des Körpers wurde als Gefahr für die ökonomische und politische Ordnung erachtet. Der Körper wurde aber auch zum Opfer des sozialen Snobismus - er wurde zur Bestie stilisiert, die die Bourgeoisie mit der unteren Klasse verband. Die Bourgeoisie betrachtete physische Arbeit als Verpflichtung der niederen Klassen, die 'Nahe dem Tierischen' angesiedelt wurden. (Hanna 1983:32).

Der Prozess der Zivilisation, wie Norbert Elias (1978) ihn beschreibt, beschleunigte sich seit der Renaissance, unterstützt durch den Zusammenbruch der Feudalordnung, durch Urbanisierung und Industrialisierung, durch die Entwicklung der Wissenschaften und des Individualismus. Der sich in diesem Prozess verstärkende Puritanismus lehnte 'natürliches' und 'rohes' Benehmen ab und läutete so eine neue Phase der Dämonisierung des Körpers ein. Thomas (1995:7) schreibt:

So trachtete man auch danach, den Kunsttanz möglichst weit von den Äußerungen weltlicher Triebe und realistischer Alltagsbewegung zu entfernen. Das Ballett erfuhr deshalb in dieser Zeit eine rasche technische Entwicklung (ibid.). Tanz erhielt in diesem Zusammenhang den schon im französischen Feudalismus des 17 Jh. gewürdigten kulturellen Platz erneut zugewiesen: er ergänzte und ersetzte andere Formen der Disziplinierung des Körpers und wurde vor allem über die Uniformität und Gleichklang in Gruppen zu einer Schule des Anstands, einem Mittel des Drills funktionalisiert. Für Europa ist dieser disziplinierende Aspekt des Tanzes z.B. von Mac Neill (1995) untersucht worden.

Die Kritik des Industrialismus im 19. und 20. Jh. brachte in Gegenreaktion auf die gesellschaftliche Verachtung des natürlichen Körpers, als eine ihrer Formen die Bestätigung des Körperlichen hervor, wie in der Philosophie von Nietzsche oder in der Psychoanalyse bei Freud.

 

Die Ästhetik des Tanzes widerspiegelt in vielen Kulturen - wenn auch in unterschiedlichen Graden - eine Dämonisierung der natürlichen Aspekte des Körpers, indem die Transzendierung von Körperlichkeit und Natur zum Ziel gemacht wird. Dies ist im traditionellen japanischen Tanz (z.B. Hanna 1983: 123) ebenso angestrebt, wie im europäischen Ballett.

Ambivalent ist in diesem Zusammenhang in vielen Kulturen das Verhältnis zwischen Sexualität und Tanz. In verschiedenen ehemaligen Kolonialstaaten kam es indes erst im Gefolge der Kolonialisierung und auch der postkoloniale Verbürgerlichung zu einer verstärkten Ablehnung von Sexualität im Tanz. So wurde Tanz in Ägypten (Franken 1996) ebenso wie in Indien (Gaston 1996) erst in einer von sexuellen Anspielungen gereinigten Form zu einer akzeptablen Bühnenkunst für die moderne Mittel- und Oberschicht. Diese Entwicklungen stießen freilich auch auf Widerstände aus den eigenen Reihen, sowohl der traditionellen Tänzer als auch der modernen Bühnentänzer. Gaston (ibid.) beschreibt zum Beispiel eine Auseinandersetzung zwischen Ram Gopal, dem international bekannten modernen indischen Tänzer, der Erotik als unerlässlichen Bestandteil indischen Tanzes betont, und Rukmini Devi, Begründerin der Kalakshetra Academy in Madras, die - um mit Rustom Bharuchas (1993) bissigen Worten zu sprechen - 'srngara (die erotische Grundstimmung des Bharata Natyam) durch bhakti (spirituelle Liebe) heilen zu müssen vermeinte'.

Sehr häufig erscheint der Grad der Überwindung einer als gefährdend aufgefassten 'Natur' als Wertmaß der Ästhetik des Tanzes. Obwohl sich in dieser Eigenart geradezu eine Universalie des Tanzes der Hochkulturen der Welt zu erkennen gibt, entwickelt der Tanz im Ausdruck dieses Themas eine oft unüberbrückbar erscheinende Vielfalt kultureller Sprachen: Europäer betrachteten die undulatorischen Bewegungen von Hüften und Schultern bestimmter afrikanischer Tänze oder Kostüme, wie jene des indischen Tempeltanzes, die zwar stoffreich sind, aber Teile des Bauches und Rückens unbedeckt lassen, als 'anstößig'. Hindus und viele andere Ethnien der Welt konnten indes die Paarformen des europäischen Balletts, bei denen der Mann seine Partnerin nicht nur tatsächlich berührt, sondern seine Hände zuweilen auch an hochtabuisierten Körperzonen ansetzt um sie zu stützen oder hochzuheben, sowie die Trikotagen westlicher Tänzer, welche die Geschlechtsmerkmale geradezu hervorheben, nur als absolute moralische Unvorstellbarkeiten begreifen. Hindus wie Moslems vermeiden weitgehend zwischengeschlechtliche Körperkontakte in der Öffentlichkeit und ihre Frauen verbergen Beine, Hüften, Schultern und Brüste in stoffreicher Bekleidung. Solche Beispiele ließen sich natürlich beliebig fortführen. Jedem Vertreter einer Kultur erschienen so die Tanzformen der anderen Kultur als 'primitiver', 'dämonischer', 'naturnäher' und 'unzivilisierter' als die eigenen. Was bleibt nun angesichts dieser 'babylonischen' Vielfalt von der weitverbreiteten Idee einer universellen Verständlichkeit des Tanzes übrig?

 

 

Bewegung und Tanz als Sprache

Symbol. Wort und Bewegung. Tanz ist keine 'Sprache der Gefühle' von 'universeller Verständlichkeit'.

 

Im Gegensatz zu den eingangs erwähnten Vertretern linguistischer Tanzstudien, die das Sprachliche am Tanz und Theater in deren Aufbau und Struktur untersuchen, wird in diesem Kapitel eine andere Facette der Sprachlichkeit von Tanz beleuchtet, ihr Charakter als Träger von Information und Kommunikation und die immer wieder aufgegriffene Frage nach der interkulturellen Verständlichkeit von Bewegungskunst.

Giurchescu (1974) sieht Tanz als unautonomen Teil der Gesamtkommunikation und auch Birdwhistell (1970:172 f.) hat darauf hingewiesen, dass sowohl linguistische als auch kinetische Systeme erst gemeinsam mit anderen vergleichbaren sensorischen Modalitäten die entstehenden Kommunikationssysteme ausmachen und sich ihre Bedeutung aus ihrer Relation zueinander erschließt. Hier relativiert sich die von Goleman angeführte Einsicht gewisser in seiner Arbeit nicht näher bezeichneter Kommunikationsforscher, dass Empathie zu mehr als 90% auf einer nonverbalen Übertragung von Emotionen beruht, welche vom Gesichtssinn dominiert ist (Goleman 1996: 127f). Empathie mag durchaus ihre entwicklungspsychologischen Wurzeln in der motorischen Mimikry des Kleinkindalters haben (ibid.: 130). Doch wenn Einfühlung übereinstimmende Körper verlangt (ibid.: 137), so muss auch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Körper kulturell geprägt sind und hierdurch auch die Grenzen der Empathie bestimmt sind. "Mit einem anderen zu fühlen heißt, an ihm Anteil zu nehmen; das Gegenteil von 'Empathie' ist insofern die 'Antipathie'", sagt Goleman (ibid.: 137). Und wir können so mit einiger Sicherheit eine der Hauptwurzeln des Fremdenhasses in einem Unverständnis von körperlichen kommunikativen Signalen vermuten.

Hanna entwickelte aufgrund ähnlicher Überlegungen ein Kommunikationsmodell für Tanz, das auf der Einbeziehung von Gegenwirkungen zwischen menschlicher Veranlagung, soziokulturellem Kontext, ökologischem Umfeld, Tanzdynamik und dem, was dem Tanz zugeschrieben wird, basiert. Tanz besteht demzufolge aus einem Komplex von Kommunikationssymbolen, dessen Kommunikationsgehalt nicht immer in die Kodes oder Konzepte einer anderen Kultur übersetzbar ist (Hanna 1979a: 26). Blacking (1983: bes. 92-96) betrachtet Tanz als nonverbale Kommunikation, welche nur im jeweiligen Aufführungskontext und unter Berücksichtigung der Weltanschauungen der Beteiligten beurteilbar wird. Die Tanzerfahrung selbst konstituiert sich für Blacking gleichermaßen aus dem Prozess der Bewegung wie aus der Bedeutungsgebung der Bewegung. Aus diesem Grunde kritisiert er die Unvollständigkeit sowohl von morphologischen als auch soziologischen Ansätzen. Als entscheidende Quelle für Aussagen zum kommunikativen Gehalt des Tanzes erscheint ihm die Erfragung der Erfahrung und Motivation direkt von den Tänzern. Weiters fordert er die Untersuchung der Bedingungen und Prozesse, durch die tänzerische Inhalte geprägt werden (Blacking 1977). In diesem Zusammenhang werden auch Publikum und Kritiker zu wichtigen Informanten.

Hanna (1975:10f) unterscheidet kognitive und affektive kommunikative Auswirkungen des Tanzes: einerseits wird Information vermittelt, ist Tanz ein Weg Erfahrungen zu ordnen und zu kategorisieren, andererseits gewährleistet Tanz eine qualitativ unmittelbare Erfahrung. So kann durch Tanz auch mit ideellen Konstrukten wie metaphysischen Bereichen kommuniziert werden. Tanzbewegungen können zu Symbolsystemen standardisiert werden, die etwa veränderte Bewusstseinszustände für die Mitglieder einer Gemeinschaft verständlich ausdrücken (Hanna 1979b:319).

Goffman hob schon 1959 (1990:80f.) hervor, dass tänzerische Kommunikation mit Göttern, wie beispielsweise im Vodoo, kulturgeprägtes erlerntes Verhalten ist, dessen kontextuelle Struktur es den Beteiligten erlaubt, an eine Präsenz der Götter und eine Unwillkürlichkeit von etwaigem Besessenheitsverhalten zu glauben. Als symbolisches System operiert Tanz durch Konventionalisierung und kreiert Bedeutungen, die auch wieder aufgelöst oder verändert werden können. Tänze für die Götter können zu Tänzen für ein modernes Theaterpublikum werden, das eventuell auch ohne traditionellen Bezugsrahmen zu dem Dargebotenen auf einer neuen affektiven und kognitiven Ebene mit den Tänzern kommunizieren kann. Tanz kann somit auf veränderten Kontext oder Situationen reagieren. Als biologisch nicht vorbestimmte und willkürliche Formen vermitteln Tänze jedoch konventionalisierte Informationen nur an Zuseher, welche die jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Konstrukte von denen Tanz ein Teil ist, verstehen (Kaeppler 1992) (18). Auch kann keine der bestehenden Tanzschriften getanzte Inhalte jenseits ihres Bestands an sprachähnlichen Gesten und Bewegungskonventionalisierungen vermitteln. Die ambivalenteren psychophysischen Ausdrucksinhalte abstrakter Tänze könnten - so meine These - nur aus einer direkten Anschauung des Tanzmaterials, unter der Einbeziehung emischer Bedeutungskategorien aus ethnographischem Befund, durch die Methode einer psychologischen Bewegungsanalyse geschlossen werden, wie ich dies im Abschnitt über "Rituelle Wirkkraft - Das transkulturelle Potential" anhand der kinetologischen Analyse zweier ekstatischer Ritualtanzformen noch näher ausführen werde.

 

 

Symbol, Wort und Bewegung

 

Ernst Cassirers (1953) Philosophie symbolischer Formen hatte über die Arbeit von Susanne Langer (1953) Eingang in die Tanzforschung gefunden. Cassirer betrachtet den Menschen als durch einen nach Symbolen suchenden Intellekt begabt. Ja, er geht sogar so weit anzunehmen, dass dieser den Menschen von der Tierwelt unterscheidet. Für ihn ist die Rolle der Sprache nicht, vorgegebene Realität zu benennen, sondern diese durch Konzeptualisierung und Artikulation zu konstruieren und zu konstituieren. Verbale Sprache wird gemeinsam mit anderen symbolischen Formen, wie Religion, Wissenschaft, Kunst, Mythen und Historie dadurch eher zum Informanten der Realität als zu ihrer Reflexion. Langer knüpft an dieses Argument an und bemüht sich um das Herausstreichen der Differenzen zwischen verbalen und künstlerischen Systemen, die sie dennoch beide als symbolische Systeme begreift. Sie illustriert diese Differenz an dem Verhältnis von Tanzkunst zu Körpergeste. Im wesentlichen sieht sie natürliche Gesten als Zeichen des Willens während sie Tanzgesten als Symbole des Willens klassifiziert (Thomas 1995: 172f).

 

Tanz kann einen sehr engen Bezug zu kulturgeprägter verbaler Ausdrucksweise beinhalten. So glauben manche Japaner im japanischen Kabuki die kulturgeprägte Tendenz zur Verschlüsselung, zur Umschreibung, zum Sich-nicht-festlegen-Wollen und zur Bescheidung wiedererkennen zu können (Hanna 1983: 124). Bewegungsmuster, Tanzfiguren und Gebärden sind kommunikative Symbole, die um mit Mary Douglas (1993: 23) zu sprechen als "mehr oder weniger präzise oder vage, als vollkommen eindeutige und konstitutionell mehrdeutige Zeichen usw. " aufgefasst werden können. Wie in Douglas Arbeit, so geht es auch in meiner vorliegenden Studie vor allem um eine Untergruppe der "mehrdeutigen Symbole, die ein Spektrum umfasst, das sich von hochgradig diffusen bis zu hochgradig verdichteten Symbolen erstreckt" (ibid.). Man ist jedoch im Irrtum, wenn man die Möglichkeit einer eindeutigen Symbolik tänzerischer oder gestischer Bewegung von vornherein ausschließen wollte.

Brenda Farnell (1995) untersuchte etwa die Zeichensprache nordamerikanischer Plains Indianer. Sie beschreibt diese als ein spezifisches Phänomen, welches durch eine Kultur ermöglicht wird, in der körperlicher Bewegung besondere kognitive Bedeutung zugemessen wird:

Sie verwendet einen Ansatz, der sich von jenem der klassischen Sprachwissenschaft unterscheidet, die Sprache zuallererst als ein formales System untersuchte, welches einer eigenen inneren Logik unterliegt. Um zu zeigen, wie Bedeutung in dem von ihr untersuchten Kontext erlangt wird, wird gesprochener Ausdruck dort untersucht, wo er stattfindet und in Relation zu den Aktionen der Teilnehmer an diesen Situationen. Es scheint, dass das, was eine Person 'sagt', weit entfernt davon ist, was bloß verbal geäußert wird. Vielmehr hängt Bedeutung von komplexen Beziehungen zwischen dem verbal Gesagten und dem, was körperlich mitgeteilt wird, ab.

Ähnlich wie bei den Plains Indianern wird auch anderswo der Bedeutung körperlicher Kommunikation ein höherer Wert beigemessen als in unserer Kultur, was sich auch in entsprechenden theoretischen oder philosophischen Konzepten niederschlagen kann. Saskia Kersenboom (1995), die eine traditionelle Tanzlehre bei einer südindischen Tempeltänzerin aus Tamil Nadu absolvierte, beschreibt das tamilische Konzept muttamil, das die Sprache als aus drei Komponenten aufgebaut begreift: Wort (iyal), Musik (icai) und darstellenden Tanz (naatakam). Die zugrundeliegende Idee dieses Konzepts ist, dass Lesen alleine die Sicherstellung sprachlicher Bedeutung nicht erlaubt, dass sprachliche Bedeutung vielmehr erst nach und nach aus der Anwendung erwächst.

Vallatol Narayana Menon wandte sich dem Kathakali-Tanzstil Südindiens zu, als er durch eine wachsende Gehörbehinderung auf dessen Zeichensprache aufmerksam wurde. Er fand in den Kathakali-Gesten eine Zeichensprache von intellektuellen Künstlern vor, die auch für Taube geeignet war. Diesem Umstand verdankt das Kathakali-Theater seine Bereicherung durch Menons poetisches Talent. Die Kodifizierung von Inhalten erfolgt im Kathakali durch Gesten, Körperhaltungen und Gesichtsausdruck. Mit dem Gesicht und unter vituoser Beherrschung etwa der beiden Brauen und Augäpfel, der Wangen-, Stirn- und Halsmuskeln werden insbesondere die neun grundlegenden Gefühlshaltungen (nava rasa) ausgedrückt. Gleichzeitig ist der Inhalt des Kathakali esoterisch und liegt jenseits des rein persönlichen Erlebens des Künstlers. Vieles wird imitiert und nicht erlebt. Die Stilisierungen sind beträchtlich und hintergründig, und die Handgesten (mudra) sind ohne eingehendes Studium nicht ohne weiteres verständlich. Neben einer offensichtlicheren und eindeutigen Erzählung be'deuten' die Gesten (hasta) des indischen Tanzes immer auch religiöse Belehrung und sind so im Sinne von Douglas (1993: 24) "verdichtete Symbole" und also auch "mehrdeutig", vergleichbar innerhalb verbaler Kommunikation vielleicht am ehesten rhythmisch skandierten Epen und Gedichten. Hanna (1983: 36-39) stellt in einigen Tanzformen diskursive Aspekte fest, einige enthielten sogar sprachartige Syntax. Doch meint sie:

Sachs (1933:39f.) unterschied früh zwischen drei Arten von Tanz nach den jeweils kommunizierten Inhalten: tänzerische Abbildung, sinnbildliche Metaphorik und schließlich bildfreie Ekstase bzw. Übertragung von Kräften. Das Problem, das gleichzeitig auch die Grenzen der Tanzethnographie beschreibt, ist frei nach Trinh T. Minh Ha (1987: 139), dass der Westen noch immer glaubt, sich in einer Position zu befinden, aus der er Realitäten für andere Völker definieren kann. In der Ausschau nach vereinheitlichenden Prinzipien aller Völker und Kulturen werden leicht vorschnell kultureller Kontext und Geschichte und die spezielle Wirkkraft dieser Menschen geleugnet (Eubanks 1996: 86).

 

 

Tanz ist keine 'Sprache der Gefühle' von 'universeller Verständlichkeit'

 

Viele Tänzer und Tanztheoretiker, wie Noverrre, Dalcroze, Laban und Mary Wigman, dachten sich den Tanz als universelle Kunst. Vorstellungen und Illusionen über universale Formen des Körperausdrucks sind sehr alt. Seit sehr langer Zeit feiern sie besonders in Zeiten gesellschaftlicher Entdeckungen, Umbrüche und Krisen oft okkultistisch gefärbte Konjunkturen. Agrippa von Nettesheim (1486-1535) erneuerte in der Zeit der 'Entdeckung' Amerikas die Vorstellung von den sogenannten 'astrologischen Körpertypen der Menschheit' (Nettesheim 1997: 114-116). Der sogenannte 'saturnische' Typ geriet ihm dabei zu einem Zerrbild der Semiten, das nicht nur die in der europäischen Gesellschaft seiner Zeit vorherrschende Meinung über 'die' Juden reproduzierte, sondern seinen Schatten bis in die heutige Zeit hineinwirft.

Später dachte sich Jean Georg Noverre (1727-1810), einer der Begründer des 'klassischen' Balletts, Künste, die Abbildungen von Realität schufen ohne von sprachlichem Ausdruck abhängig zu sein, wie Malerei und Tanz, als universelle Künste, die weltweit gleich verstanden und beurteilt werden könnten (Hanna 1983:37f.).

Noch Delsarte (1811-1871) analysierte menschliche Gebärden im Hinblick auf die Korrelation zwischen seelisch-emotionalen Antrieben und motorischen Reaktionen - ohne Rücksicht auf kulturelle Verschiedenheiten. Von 1839 bis zu seinem Tod 1871 lehrte er seine "Gesetze des Ausdrucks". Seine "Wissenschaft der angewandten Ästhetik" bot Regeln zur Kontrolle der Körperbewegung, um eine natürliche Darstellung der verschiedenen Charaktere zu erreichen. Er beschrieb auch, wie sich Gefühle mit Körperhaltungen verändern (Brauneck 1992: 621, Hanna 1983: 33). Delsartes universalistische Klassifizierung der Ausdrucksbewegungen beeinflusst das Entstehen des Ausdruckstanzes in Amerika (Hanna 1983: 33f), dessen Vertreter sich häufig rituellen Themen zuwandten, zu denen sie sich von außereuropäischen Kulturen inspirieren ließen. In Europa wurde der in Wien geborene Emile Jaques-Dalcroze (1865-1950) mit einer universellen Konzeption von Formen gymnastisch-tänzerischen Bewegung, der Eurhythmie, zum Ausgangspunkt für viele der neuen Tänzerinnen (Steeh 1982: 228). Seine Schule ab 1910 in Hellerau, ab 1915 in Genf (mit einem amerikanischen Zweig), von 1920 bis zur Schließung durch die Faschisten 1938 brachte mehr als 300 geprüfte Tänzer hervor, unter Ihnen Größen wie Mary Wigman, Marie Rambert, Kurt Jooss und Hanya Holm. 1905 demonstrierte er seine Technik auch in den USA. Auch Laban vertrat einen universalistischen Anspruch des Körperausdrucks. Er prägte mit seinem Bewegungssystem der 'Eukinetik' und der 'Choreutik' den 'Deutschen Ausdruckstanz' (Steeh 1982: 229). Seine Schülerin Mary Wigman, die einen viel individualistischeren Tanzstil prägte als Laban, vertrat so wie Laban die Ansicht, dass Tanz eine Art von Sprache sei, die auf der ganzen Welt verstanden werden könnte (Hanna 1983:40).

Während Laban noch vertrat, dass Tanz tatsächlich im Moment der Aktion vorhandene Emotionen ausdrücke, erkannte Susanne Langer (1953: 182), aufbauend auf ihre bereits erwähnten Thesen zu dem Charakter des Tanzes als Symbolsystem, dass Tanz zwar expressive Gesten von Emotionen enthält, diese aber nicht symptomatischen, direkt gefühlten Emotionen als Antwort auf einen Stimulus entsprechen. Tanzgesten sind vielmehr Formsymbole der Idee und Struktur von Gefühlen. Der Bewegungsausdruck des Künstlers entspricht nicht seinen eigenen Gefühlen, sondern vielmehr dem, was er über Gefühle weiß (1957: 26).

Dessen ungeachtet glauben Tanzkünstler im allgemeinen, dass es zur korrekten Darstellung von Gefühlen förderlich sei, wenn man diese auch selbst erfahren hat und kennt. Hanna notiert (1983:170) aus einem Gespräch mit einem berühmten Kathakali-Lehrer:

Die Theatertheoretiker Indiens setzten mit den Konzepten von lokadharmi und natyadharmi jedoch bereits früh eine klare Trennlinie zwischen Alltagsverhalten in emotionaler Gebundenheit und ritualisiertem (tanz-)dramatischem Verhalten mit seiner identifikationslosen Professionalität des Ausdrucks. Im Gegensatz dazu fasste man im Westen häufiger die gefühlsmäßige innige Beteiligung und Identifikation des Bewegungskünstlers mit dem Darstellungsinhalt als Voraussetzung für eine hohe Qualität der Darstellung auf (Kandinsky 1977: 71, Stanislawski 1936: 233, zitiert in Hanna 1983: 34f).

Die kommunikative Bedeutung von Tanz erstreckt sich auf verschiedene Ebenen und Inhalte, einige von ihnen klar definiert, andere von Zusehern und Akteuren verschieden empfunden (Schmiderer unveröff. B). Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Tanz innerhalb seines eigenen kulturellen Kontextes insbesondere Stimmungen und Gefühle zu kommunizieren vermag. So hebt Waterman die empathische subliminale Kommunikation als spezifisches Potential von Tanz hervor (1962:49-50). Anderson geht von einer emotionalen kinästhetischen Reaktion auf die Zuschauer aus (1974:9). Die Kommunikation von emotionalen Inhalten durch Tanz funktioniert oft auch dort noch, wo z.B. aus psychopathologischen Gründen, der verbale Sprachausdruck beeinträchtigt ist. Diese Erkenntnis ist eine der Grundlagen der modernen westlichen Tanztherapie. Die empathische Qualität von Tanz wird seit Jahrtausenden für Fest- und Freudentänze, Kriegstänze und Begrüßungstänze gleichermaßen genützt.

Tanz wird aber auch weit verbreitet angewendet, um mit Göttern oder übermenschlichen Kräften zu kommunizieren. Tanz hat eine besondere Bedeutung in der Übermittlung von spirituellen Stimmungsbotschaften und Bewusstseinszuständen bei Gelegenheiten, zu denen 'Worte versagen', die verbale Sprache zu profan oder anderswie nicht geeignet erscheint. Gleichzeitig hat Tanz in religiösen Riten jedoch auch ganz andere Funktionen, wie die der rückkoppelnden Bestätigung und Bestärkung von Glaubensinhalten, die im Zusammenhang mit Goffmans Analysen zu performativer Kommunikation erwähnt wurden.

 

Eine polarisierende Gegenüberstellung von Rationalität und Emotionalität, welche vielfach als Begründung abschätziger Urteile über Tanz herangezogen wurde, muss nach neuen Erkenntnissen aus grundsätzlichen Erwägungen heraus kritisiert werden. Wo man heute über Emotionalität von Tanz berichtet, müssen auch neue Forschungsergebnisse zur Bedeutung emotionaler Fähigkeiten als Formen menschlicher Intelligenz und als unerlässliche Voraussetzung rationalen Handelns einbezogen werden (Goleman 1996). Besondere Bedeutung hat Emotionalität bei kognitiven Prozessen der Wertzuweisung. Wo Emotionen ausbleiben, nicht richtig gedeutet oder bewusst manipuliert werden, kommt es deshalb auch zu Einbrüchen in der Entscheidungsfähigkeit und Urteilsfindung (ibid.: 75) des Einzelnen, aber auch in Fragen des moralischen Urteilens und Handelns (ibid.: 139).

Der Faschismus benutzte kollektiven Körperausdruck in den Staatsriten des 'Führers' aber auch in Massensportveranstaltungen und Tanzfesten um über gezielte Emotionalisierung unechten Werten Überzeugungskraft zu verschaffen, die ihnen nüchterne Beobachtung nicht zugebilligt hätte, und letztlich, um zu kollektiver Amoral und Unmenschlichkeit zu verführen. Die gezielte Verwendung von Tanz zur Erreichung bestimmter kollektiver Emotionalisierungen ist als kulturelle und intelligente Leistung, jedenfalls als geschicktes Mittel zum Zweck, keineswegs als Merkmal irgendeiner 'Primitivität' zu werten. Es steht indes außer Frage, dass Raffinesse und Intelligenz nichts mit Moral zu tun haben müssen. Sich kollektiven Emotionalisierungen kritiklos preiszugeben, also ohne Bewusstheit über die Methode und ihre Gefahren, kann sehr wohl einen Mangel an Intelligenz bedeuten. Moral hat etwas mit dem Ringen um ehrliche Wahrnehmung zu tun und auch mit Achtsamkeit. Achtsamkeit im Sinne verschiedener asiatischer Traditionen ist sowohl durch 'Metakognition' als auch durch 'Metastimmung' ausgezeichnet. Die Metaebene der Wahrnehmung der Qualität von Emotionen ist Grundvoraussetzung von Intelligenz (Goleman 1996: 67f.).

 

Gefühle werden im Rahmen der Schauspielkunst jedoch stets in kulturgeprägter Form dargestellt und sind daher aufgrund ihrer Kodifizierung für Angehörige einer anderen Kultur oft nicht zu verstehen. Der Grad der kulturellen Kodifizierung kann sehr unterschiedlich sein. Einerseits gibt es ein auf der ganzen Welt natürlich vorhandenes menschliches Repertoire an Gefühlsausdruck, wie den Augengruß, abweisende und schützende Handgesten, das Lachen oder das Weinen, die Teil des motorisch bestimmten und reflektorischen, jedenfalls angeborenen menschlichen Verhaltens sind (Eibl-Eibesfeld 1997). Diese gehören zu dem Erbgut menschlicher Gene. Andererseits wird dieser natürliche Gefühlsausdruck bei Erwachsenen kulturell und kontextabhängig häufig bewusst unterdrückt und durch kulturell hervorgebrachte Gesten und Handlungsweisen ersetzt. Solche Handlungsweisen werden gemeinsam mit allen anderen kulturellen Produkten von dem Psychologen Csikszentmihalyi (1995) in Anlehnung an den Biologen Richard Dawkins (1989) als Meme bezeichnet, was auf den mimetischen Ursprung von Kultur verweist. Nach Hall (1959:119) ist Kultur Kommunikation. Jedes menschliche Verhalten, z.B. Kleidung und die Gestaltung der Umwelt, hat nicht nur praktische, sondern auch eine mitteilende Funktion.

Zusätzlich kann manchmal zwischen alltäglichen Kodifizierungen und verschiedenen kontextgebundenen Kodifizierungen unterschieden werden, wobei theatralische Traditionen über eigene Gestensprachen verfügen können. In Bezug auf den japanischen Kabuki spricht Earle Ernst (1956: 170-171) von 'drei Graden der Literarität' japanischen Tanzes: shinsho ist der 'präzise' Stil, welchen der Schüler zuerst erlernt. In gýusho werden Details der Gesten zusammengefasst, während shosho ein Kursivstil ist, der am wenigsten literarische der drei Stile. Letzterer ist als extrem kodifizierter Stil von geringster Universalität der Verständlichkeit.

Wichtig erscheint hier die Erkenntnis, dass Bewegungskunst zwar sprachliche Elemente enthalten und Ausdruck von Gefühlen und Geisteshaltungen sein kann, diese aber häufig in stark stilisierte Formen und Symbole kleidet und deshalb keineswegs per se 'direkter' oder 'universaler' verstanden werden kann als verbale Sprache. Hanna zeigt in ihrem Buch "The Performer-Audience Connection" (1983), dass ein bewegungskünstlerisches Schaustück einer fremden Kultur oder der Avantgarde meist nur verstanden werden kann, wenn Begleitinformationen zur Verfügung stehen. Fehlen diese, kommt es zu oberflächlichen Beurteilungen einfacher Ebenen des Kunstwerklichen, etwa der Grazie der Bewegung oder der Üppigkeit der Kostüme, ohne dass die intendierten Inhalte wahrgenommen werden können (ibid.: 190-193).

Es mangelt uns jedoch nicht nur am intellektuellen Verständnis des körperlichen Ausdrucks der Fremden, wir haben uns - von der spezifischen Situation in multiethnischen Familien einmal abgesehen - in den allermeisten Fällen ihren Körperausdruck auch nicht von Kindheit an durch Imitation selbst zu eigen machen können. Da Tanz auch kodifizierte Bewegungen enthält, ist seine Bedeutung in vielen Fällen für Angehörige andere Kulturen nicht übersetzbar (Hanna 1979a: 26), es sei denn man bemüht sich sowohl körperlich als auch geistig um sein Verständnis, weshalb seitens vieler Tanzanthropologen immer wieder aktives Erlernen der untersuchten Tanzformen gefordert wurde. In diesem Zusammenhang erscheint auch das Erlernen von Tänzen benachbarter Ethnien als aktiver Beitrag zur Vermeidung von Grenzkonflikten und das Erlernen von Tänzen der anderen Ethnien in der Heimat als unterstützende Strategie zur friedlichen Koexistenz. Dies ist in Großbritannien - sicherlich auch als ein Erbe der tanzpädagogischen Schule Labans - längst erkannt worden, wo man die interethnische sozialisierende und integrative Wirkung und kommunikative Bedeutung des Tanzes kulturpolitisch gezielt fördert, wie dies an geeigneter Stelle noch genauer beschrieben wird (20).

Birdwhistell (1970: 81) kam 100 Jahre nach dem Tod von Delsarte und nach 15 Jahren Studium von Gesten zu der Erkenntnis, das keine Geste gefunden werden konnte, die dieselbe soziale Bedeutung in allen untersuchten Gesellschaften hatte. Damit muss das Konzept über eine generelle Natürlichkeit menschlicher Gesten fallen gelassen werden. Birdwhistell erkennt nur einige somatische Universalien der Bewegung an, wie das aufrechte Stehen auf zwei Beinen oder das Heben von Gegenständen mittels Armen und Händen. Dem müssen wir die zuvor erwähnten motorisch bestimmten und reflektorischen, angeborenen kommunikativen Verhaltensweisen hinzufügen, soweit sie nicht ebenfalls bereits durch Meme modifiziert sind. Weiters stellte Birdwhistell explizit fest, dass die Zugehörigkeit zu einer Gruppe über Körperlichkeit erkannt und ausgesendet wird (ibid: 102). Sichtbare Körperaktivität beeinflusst ebenso wie akustische Aktivität das Benehmen anderer Mitglieder einer bestimmten Gruppe. Während die Beschränkung durch bestimmte biologische Substrata weiter in Erwägung zu ziehen ist, muss vorerst davon ausgegangen werden, dass die systematischen Körperbewegungen der Mitglieder einer Gemeinschaft eine Funktion des sozialen Systems sind, zu dem die Gruppe gehört (ibid: 183f.). Damit kommt der Gestik zentrale Bedeutung bei der Performance von Identität und in der Kommunikation innerhalb einer Gruppe zu.

 

Connerton (1989: bes. 72-96) beschreibt, wie Körperpraxis kulturelle Erinnerung befestigt. Diese körperliche Erinnerung ist es nach seiner Ansicht, die Zeremonien für ein Publikum wirksam und erfolgreich macht, indem sie über Angewöhnung auf dem körperlichen Substrat der Performance wirkt. Die 'Sedimentierung' der Vergangenheit im Körper erfolgt durch zwei Arten von Prozessen: durch Einschreibung und Verkörperung. Einschreibung bezieht sich nicht nur auf Aufbewahrung und Rettung von Texten in Büchern, sondern auch durch Fotos, Filme und Videos. Verkörperung bezieht sich indessen auf Körper-Posituren, Gesten, Gesichtsausdruck, Körperbewegung oder Tischmanieren. Stoller bestätigt Connertons Aufforderung an die Wissenschaft, sich vermehrt mit den Praktiken der Verkörperung auseinander zu setzen und fügt hinzu:

This point is especially important in the analysis of non-Western commemorative Rituals in which scholars all to often transform body and bodily practices into texts. (Stoller 1995:30)

Während der Vorführung "Nine Songs" des Cloud Gate Theatre des taiwanesischen Choreographen Lin Hwai-Min im Wiener Museumsquartier im Rahmen des 8. Wiener Internationalen Tanz-Festivals Tanz '96, unter der künstlerischen Leitung von Gerhard Brunner, beklagten sich meine Sitznachbarn flüsternd über das 'schreckliche' Zittern der Tänzerin Lee Ching-chun in der Rolle der 'Hexe', das sich noch dazu in mehreren Szenen wiederholte. "Nine Songs" (Jiu Ge) basiert auf den gleichnamigen Gedichten von Qu Yuan, einem der größten chinesischen Dichter, die vor mehr als 2.000 Jahren geschrieben wurden. Neun dieser Gesänge richten sich an verschiedene Götter und Göttinnen, während der zehnte Gesang die Geister der in der Schlacht verstorbenen Krieger ehrt. Die Texte begleiteten Riten, in denen Schamanen die Götter und Göttinnen, aber auch die Feiernden darstellten. Die dabei verwendete Musik, Kostüme und Tänze sind jedoch im Laufe der Zeit verloren gegangen. Lin Hwai-Min verwendet die Dichtungen Qu Yuans als Ausgangspunkt für einen zeitgenössischen Tanz, in dem er den Eingeborenen Taiwans ein Denkmal setzt, die im Februar 1947 Opfer eines Massakers durch die Kuomintang geworden sind. Er brach damit zum erstenmal das ungeschriebene Gesetzt, nachdem über diese Ereignisse nicht gesprochen wurde, ganz zu schweigen davon, dass sie zu Kunstthemen gemacht werden durften. Nacheinander wird eine nicht näher definierte Gottheit begrüßt, dem Sonnengott dann dem Schicksalsgott gehuldigt, der Göttin des Xiang-Flusses, dem Wolkengott, dem Berggeist und schließlich den Gefallenen (21). In allen Teilszenen spielt die Gestalt einer Schamanin, die im Programmheft als 'Hexe' bezeichnet wird, eine zentrale Rolle. Sie steht im Zentrum einer tänzerischen Darstellung schamanistischen Ritualverhaltens, in dem Ekstase einen wichtigen Raum einnimmt.

Meine Sitznachbarn waren jedoch offensichtlich nicht imstande, die körperliche Sprachmetapher 'Zittern' als Symbol für schamanistische oder auch 'hexenhafte' Ekstase zu identifizieren. Wenn im europäischen Raum der dargestellten Art des Zittern überhaupt inhaltliche Bedeutung beigemessen wird, assoziiert man es vielleicht mit Furcht oder Kälte, unangenehmen Empfindungen jedenfalls. Die Zuseher wollten sich nach jeder weiteren Wiederholung immer weniger damit auseinandersetzen. Die assoziierbaren Inhalte machten im szenischen Zusammenhang - das Zittern der Tänzerin in der Rolle der 'Hexe' korrespondierte mit der Darstellung der Verbreitung von Ehrfurcht im Kreis jener Tänzerinnen, die ihr Publikum spielten - keinen Sinn. Diese Verständnisschwierigkeit ergab sich, obwohl es sich hier sicherlich um eine 'Geste' handelt, die mehr dem somatischen 'universalen' Bereich im Sinne Birdwhistells oder dem humanethologischen Bereich im Sinne Eibl-Eibesfelds zuzuordnen ist, als dem kulturspezifisch Sprachlichen. Zittern, dass den ganzen Körper ergreift und mit spezifisch versteifter Körperhaltung verbunden ist, findet sich weit verbreitet, besonders aber im asiatischen und altamerikanischen Kulturraum im Umfeld des Schamanismus.

Das im afrikanisch-arabischen Raum anzutreffende erotische Beben isolierter Körperteile - wie Schultergürtel und Brust oder Pelvis, Bauch und Hüften - ist zwar auch mit bestimmten Formen der Religiosität verbunden, verweist jedoch nicht auf die Sublimierung sexueller Energien zu magischen Zielen, wie das Zittern, sondern unmittelbar auf erotische Entfaltung und wird in der westlichen Kultur besser verstanden. Hingegen ist die physische Äußerungsform schamanistischer Ekstase in Europa kein Teil des Alltagswissens mehr. Die Körpersprachbarriere wird also zu groß, es ist keine gewohnheitsmäßige körperliche Synchronisation möglich, die Bewegung erschien den Wiener Zusehern entweder als unangenehm oder als sinnleer, unverständlich und daher störend. Körperliche Erfahrung, kulturelle Konditionierung und Tradition von Tänzern und Zuschauern klafften zu sehr auseinander, es wurde kein inhaltliches noch ästhetisches noch religiöses Verständnis oder gar Mitempfinden erreicht. Das willkürliche Zittern der Tänzerin konnte nicht einmal als technische Virtuosität gewürdigt werden. Auch Virtuosität wird zwar weltweit an Bewegungskunst vorgeblich geschätzt, oft aber in unbekannten Stilrichtungen nicht als solche erkannt (22). Das Zittern als Metapher für verändertes Bewusstsein und für Zustände von magischer Potenz dringt heute dennoch, vor allem über den modernen japanischen Butoh, in die Off-Szene und weiter in das moderne Ballett ein, was im Abschnitt "Spiritualität und rituelle Intensität der Erfahrung", des Kapitels "Von Bühnenkunst zum Ritual" genauer ausgeführt wird.

Religiöse Wahrnehmung ist in Indien von der künstlerischen und emotionalen Wahrnehmung nicht zu trennen. Indische Zuschauer können sehr emotional auf Darstellungen von Gottheiten reagieren, sie stimmen etwa in Preisgesänge ein und schwenken Öllichter (Hanna 1983:73). Sie erfahren bisweilen auch transzendentale Zustände und Heilserlebnisse. Der Künstler wird für sie dann zur Erscheinungsform einer Gottheit. Dies bringt für den Künstler ebenso Ehre wie Verantwortung in Bezug auf die Qualität seiner Darbietung. Auch in anderen Kulturen verknüpfen sich Kunst und Religion zu einer untrennbaren Einheit. So enthalten die Bewegungen von Tänzen afrikanischen Ursprungs Anspielungen an Gottheiten. Die undulatorischen, wellenförmigen Bewegungen der Arme und Schultern entsprechen zum Beispiel der Vodoo-Gottheit Ague (23). Westliches Publikum reagiert auf solche Vorführungen 'weltlicher', ein Gutteil der ideologischen Inhalte entgeht ihm, das Publikum unterstützt aber auch die Qualität der Darbietung entsprechend schwächer. Dazu kommt, dass manches Publikum sich durch Ungewöhnlichkeit, durch Fremdheit und 'Exotik' der Darbietung allein schon befriedigen lässt (Hanna 1983:74). Andererseits empfindet das Publikum die Fremdheit einer Tanzdarbietung aus unbekannter Kultur auch dann, wenn relativ klare Erklärungen beigefügt werden.

Dennoch gibt es einige Themen, die durch Bewegungskunst leichter als durch andere Formen der Mitteilung auch über die Grenzen der Kulturen hinweg transportiert werden können, vielleicht weil gerade diese Art der Darbietung in speziellen Fällen die Zuseher nicht erschreckt, verunsichert oder abstößt. Auch diesen Gedanken werde ich noch aufgreifen und weiterführen. So sind es in der Kathakali Aufführung 1981 am Smithonian Institute in New York vor allem die komischen Szenen, die ohne weiteres die kulturellen Schranken überwinden (Hanna 1983:174), oder auch tänzerische Darstellungen des relativen Status von Mann und Frau zu einander (ibid.: 175). Jedoch erscheint die Feststellung von Hanna (1983:177), dass die interkulturelle Kommunikation durch Tanz größtenteils erfolgreich verläuft, nicht als überzeugend untermauert. Sie zitiert Elizabeth Selden (1935), die bemerkte, dass nationale Unterschiede der "universellen Sprache des Tanzes" (sic!) lokale Akzente verleihen (Hanna 1983:183). Hannas Fragebogenuntersuchungen rechtfertigen vielleicht ihr recht allgemeines Ergebnis, dass Zuseher einen Teil der Intentionen der Tänzer wahrnehmen. Sie spezifizieren aber diesen Anteil nicht, da aus ihrem Material kein statistischer Vergleich mit den Intentionen der Künstler ermöglicht wurde.

Die Suche nach Dialogen mit dem 'Fremden' in bewegungskünstlerischer Form, wird sich jedenfalls nicht auf sprachähnliche Frage und Antwortformen reduzieren lassen. Man muss den Wegen der Beeindruckung durch Tanz, Theater, Pantomime, Performancekunst auf oft verschlungenen Pfaden, die durch Missverständnisse und Irrtümer, Projektionen und Illusionen gekennzeichnet sind, nachzugehen bereit sein, entlang von Pfaden, die bis in die Gegenwart reichen, in der das 'globale Dorf' am Computerschirm heraufbeschworen wird und auf denen dennoch auch die Gebildetsten von uns gelegentlich den Verlockungen der eigenen Sehnsüchte und Wunschgedanken beim Anblick des Fremden verfallen.

 

 

Ästhetik und Wert

 

In Bezug auf transkulturell gültige Aussagen über Ästhetik gilt es zu berücksichtigen, dass Menschen unterschiedlichster Herkunft ganz allgemein dazu tendieren, ihre kulturellen Vorlieben zu ihren persönlichen zu machen und fremde Kulturen durch den Filter dieser kulturell und persönlich geprägten Sicht zu betrachten. Daraus resultieren Probleme der Ablehnung und schwärmerischen Zuwendung zu bestimmten Stilen und Formen. Prinzipiell muss ein Ethnologe misstrauisch gegenüber seiner eigenen wertenden Sichtweise auf Kulturprodukte bleiben, das bedeutet, dass Urteile, welche die 'Schönheit', 'Anmut', den kulturellen 'Wert' eines Tanzes betreffen, erst nach sehr eingehendem Studium auch dann nur vorsichtig formuliert werden dürfen. Der Forscher muss sich immer wieder bewusst machen, dass auch er dazu neigt, seine eigene Kultur als Maßstab aller Bewertung zu setzen. Das Problem bei der ästhetischen Bewertung von Tanz ist doch, dass jede Kultur Sensibilität für andere Aspekte von Bewegung fördert oder die Wahrnehmung anderer Bewegungsformen unterdrückt. Das ist ganz analog zur Sprache, die in jeder Kultur Spezialisierungen kennt: z.B. die Vielfalt der Bezeichnungen für psychologische Phänomene im Deutschen und in indischen Schriftsprachen, oder die Vielfalt der Ausdrücke für 'Schnee' bei arktischen Völkern. In verschiedenen Kulturen sind verschiedene Denkmuster von Bedeutung für die Kommunikation, was sich zum Beispiel auch in unterschiedlichen Diskussionsstilen niederschlägt. So beschreiben viele Japaner ein Unbehagen am Diskussionsstil der Deutschen:

Für eine indische Tänzerin, die ich befragte, ist der afrikanischer Tanz 'unsittliches und wertloses Wackeln mit dem Gesäß'. Trotz ihres eigenen Tanztrainings vermochte sie die komplexen Prozesse der isolierten undulatorischen Pelvisbewegungen des afrikanischen Tanzstils weder zu analysieren noch zu würdigen, geschweige denn selbst auszuführen.

Statt ethnozentrischer Pflege eigener Vorurteile muss sich ein Kunstethnologe im einfühlenden und forschenden Verständnis und in empathischer Wahrnehmung üben, sehr schwierigen Tugenden, die nur durch langwieriges Eindringen in das Wesen einer Kunst erlangt werden können und auf keinen Fall mit einer quasi a priori vorhandenen intuitiven Erkenntnis des Fremden gleichgesetzt werden dürfen. Zu den ethischen Prinzipien der Ethnologie gehört ein würdigendes Gewahrsein des Wertes jeder Kultur. Es ist eine Frage des grundsätzlichen Respekts vor der fremden Kultur, sich die nötige Zeit zu ihrem Studium zu nehmen und eigene Urteile solange zurückzuhalten bis man sich Überblick verschafft hat. Ein empathisches Herangehen verlangt neben dem Studium der emischen Ästhetik und Kunsttheorie auch ein eingehendes Studium philosophischer, ätiologischer, politischer, religiöser und mythischer Komponenten.

Eugenio Barba findet trotz seines nahezu ausschließlichen Interesses für transkulturelle praktische und empirische Prozesse der Tanz- und Theaterarbeit Raum für die Würdigung kultureller, insbesondere auch ethischer Unterschiede, die in der praktischen Arbeit, gerade auf elementarster Stufe, unübersehbar sind:

Westliche Traditionen der Kunstgeschichte und Kunsttheorie haben sich mehr auf Objekte als auf Praktiken wie Tanz konzentriert (25). Es erscheint daher in vieler Hinsicht als ungerechtfertigt, davon auszugehen, dass sich westliche Theorien über den ästhetischen Charakter von Objekten auf fremde Systeme ausdehnen lassen, die kulturspezifische Unterscheidungen ebenso in körperliche Praktiken einschreiben wie in Dingen (Hughes-Freeland 1997b: 473, 475). Anders hat sich die Kunstphilosophie Südasiens entwickelt, einem Kulturraum, in dem performativen Künsten ein zentraler Stellenwert bis in die Gegenwart hinein eingeräumt wird. Indien verfügt in dem Kompendium des Natyasastra über das älteste bekannte tanz- und theaterästhetische Schriftwerk der Welt, mit einer Zusammenfassung aller im südasiatischen Raum damals gebräuchlichen Elemente theatralischer Aktivität, dessen Ursprung unterschiedlich zwischen dem 4 Jh. v.u.Z. bis 5.Jh n.u.Z. festgelegt wird (Rebling 1981:15, 17, 28).

Der Inder Ananda Coomaraswamy hat sich in seinen Veröffentlichungen sowohl um die Abgrenzung von 'orientalischer' zu 'christlicher' Kunst bemüht, als auch die ästhetischen Prinzipien indischen Tanzes erläutert. In seinen Werken "The Transformation of Nature in Art" (1974a) und insbesondere in "Christian and Oriental Philosophy of Art" (1974b) bemüht er sich um die Entwicklung einer 'Philosophia perennis' der Kunst. Er verwirklicht seine 'universelle' Kunsttheorie mittels der Zusammenfassung asiatischer (insbesondere indischer und chinesischer) Kunstauffassung mit sehr frühen, biblischen und europäischen sowie klassischen griechischen und römischen Vorstellungen, jedoch unter Negation der zeitgenössischen westlichen Kunstauffassung und bisweilen auch im Antagonismus zu ihr. Er lehnt - der Tradition seines Landes und der meisten außereuropäischen Gebiete gemäß - sowohl Kunst als Selbstzweck, als auch Kunst als bloße Dekoration oder der Gefälligkeit wegen ab.

Coomaraswamy vertritt einen strengen Begriff der Kunst als Streben nach Perfektion unter Wahrung von Nützlichkeit und spiritueller Bedeutung. Zweck von Kunst darf zum Beispiel nicht bloß naturalistische Abbildung sein, sondern Natur wird erst durch Idealisierung, Symbolisierung und die Herstellung metaphysischer Bezüge in Kunst verwandelt - Kriterien, die im Westen des 20. Jh. ihre Bedeutung verloren haben. Diese Betonung spiritueller Relevanz ist aus seiner kulturellen Prägung heraus verständlich, in der im Bereich der Kunst die Trennung zwischen Sakralem und Profanen nie in derselben Konsequenz vollzogen wurde, wie im Westen. Aus seinen Prämissen ergibt sich für ihn unter anderem auch, dass es ein Zeichen von Kunstverfall ist, wenn der Künstler seine eigene Persönlichkeit in exhibitionistischer Weise ausbeutet (1974b:42). Der spirituelle Anspruch des Künstlers liegt in seinem Streben nach Annäherung an Ideale, an ideale Formen oder ideale Symboliken, als metaphysischer Akt der Repräsentation des Göttlichen durch eine Fusion von Funktion und Bedeutungsanalogien (39-41). In dem Werk "The Dance of Shiva" (1976) geht Coomaraswamy auf einige Prinzipien indischer performativer Kunst ein und stellt sie dem westlichen Denken gegenüber. In Indien gibt es eine detaillierte Theorie der Kunstwahrnehmung, die von dem Erfordernis einer Initiation des Kunstverständigen (sahradaya) in die Bedeutung der religiösen und darstellenden Symbolik der künstlerischen Formen ausgeht (Coomaraswamy 1976: 36-39, Nürnberger 1994: 123). Erst dann kann von der speziellen Form der 'Einfühlung' (sadharana) ausgegangen werden, welche die Voraussetzung für die Wahrnehmung vom 'Geschmack' oder 'Geruch' (rasa) der Kunstdarbietung ist.

Es ist bemerkenswert, dass dieser zentrale Begriff der indischen Kunstphilosophie ästhetisches Verständnis mit dem olfaktorischen Sinn einerseits und emotionaler Einfühlung andererseits in Beziehung setzt. Ästhetisches Verständnis scheint hier von Alters her mit der archaischsten Form sinnlicher Wahrnehmung begrifflich verbunden worden zu sein. Im Westen weiß man erst seit der Moderne, dass die evolutionäre Wurzel des menschlichen Fensters des Gefühlslebens im Geruchssinn liegen, genauer im olfaktorischen Lappen des Gehirns:

Mit dem Auftreten der ersten Säugetiere bildeten sich die entscheidenden Schichten des emotionalen Hirns in Gestalt des sogenannten limbischen Systems heraus, das den Hirnstamm umgibt:

Obwohl die modernen emotionalen Bereiche des menschlichen Gehirns mit allen Teilen des Kortex und Neokortex verflochten sind (ibid.: 30), können doch ihre evolutionären Wurzeln im Geruchssinn festgestellt werden.

Rasa, 'Geruch' oder 'Geschmack', stellt im Rahmen der indischen Kunstphilosophie eine Erfahrung dar, die jenseits des säkularen Bereichs von sinnlicher, emotionaler oder ästhetischer Wahrnehmung reicht. Virtuosität allein ist nicht imstande rasa hervorzubringen. Rasa ist etwas, das mindestens zwischen einem Ereignis als 'Erwecker' und einem Menschen als 'Empfänger' stattfindet. Rasa erfordert den aktiven Beitrag des (er-)Kenners am ästhetischen Erlebnis. Ästhetik bedeutet dabei mehr, als der Bereich des künstlerischen, den Baldissera (1984:36f) zum Schlüssel seiner Erklärung des Begriffes 'rasa' zu machen gezwungen ist - der sakrale Bereich musste in der Arbeit eines DDR-Akademikers eine gewisse Leichtgewichtung in der Thesenbildung haben.

Verschiedene Formen der Verstärkung durch Akkumulation, Assoziation oder auch Kontrastierung ... usw., garantieren die Erlernbarkeit der Wahrnehmung von rasa. Die Armseligkeit des Bettelmönches steht z.B. im Gegensatz zu der liebevollen Güte (shanti), die sein Gesicht ausstrahlt und erleichtert es seinen Betrachtern, das seiner frommen Seligkeit zu spüren. Erst durch die Wahrnehmung von rasa wird der künstlerische Akt - aber auch die heilige Handlung - vervollständigt. Kunst entsteht so im Zusammenspiel zwischen Künstler und Kunstkenner, sowie Glaube aus dem Zusammenspiel zwischen Offenbarung und deren Wahrnehmung erwächst. Während etwa Stanislawski (1936: 233) darauf besteht, dass Schauspieler nicht 'für das Publikum spielen' und dessen Anwesenheit ignorieren sollten, pflegt der Dramatiker in Indien eine komplexe Ästhetik der Darstellungskunst, in der die bewusst wahrgenommene Wechselwirkung zwischen Bewegungskünstler und Publikum über den ästhetischen Begriff rasa einen zentralen Stellenwert erlangt.

Das indische Konzept des rasika wird im allgemeinen mit dem deutschen Begriff des Kunstverständigen gleichgesetzt, geht jedoch über den Rahmen des deutschen Begriffs hinaus, indem jene Art von Einfühlung (sadharana) vorausgesetzt wird, dessen Abwesenheit es wohl ist, die Bharucha in seinen Anklagen an die westlichen 'Interkulturalisten' so schmerzlich beklagt. Rasa ist ein interaktives Gefühl, das zwischen Aufführern und Zusehern hergestellt werden muss, um ästhetischen Genuß zu ermöglichen. Rasa kann sowohl ästhetisches als auch religiöses, soziales oder ethisches 'Gefühl', 'Empfinden', 'Ausstrahlen', 'Gehalt' und 'Intensität' umfassen. Rasa bedeutet nicht etwa Einstimmung des Akteurs (oder des Zusehers) in das zu vermittelnde Gefühl im Sinne Stanislavskis. Die Inder unterscheiden hier zwischen den Begriffen 'bhava' und 'rasa'. Rebling (1981: 36) erläutert hierzu:

Rasa wiederum ist mehr als nur Gefühl. Ursprünglich war rasa die Bezeichnung für den Saft der Soma-Pflanze, eines heiligen Rauschmittels der Arya. Der Begriff rasa wird auch im Natyashastra im Sinne von sensueller Geschmacksqualität verwendet. Rasa kann sowohl Geschmack oder Duft als auch Wesen, Gehalt und Intensität eines ästhetisch-künstlerischen Erlebnisses, verbunden mit Freude oder Vergnügen, bedeuten. Rasa ist eine menschliche Erfahrung höchster Qualität, eine durch die sinnlichen Eindrücke eines künstlerischen Objekts hervorgerufene, durch intensive Kontemplation bereicherte Haltung ästhetischen Vergnügens.

Es ist von kulturvergleichendem Interesse, wie Baldissera zu den grammatischen Geschlechtern von männlichem bhava und weiblicher rasa kommt: seine europäische geprägte geschlechtsspezifische Zuordnung entspricht dem bezeichnenden, passiven und sich öffnenden Charakter von rasa und dem mehr ergreifend-aktiven von bhava. Für den Inder ist freilich Kreativität weiblich, kreative Energie sakti, ein Urbild der weiblichen Matrix.

 

Die Psyche des Tänzers kann von dem perfektionierten Gefühlsausdruck seiner Bewegungen unberührt bleiben (Langer 1953:182), ja oft ist die emotionale Lösung und eine gewisse innere ekstatische Leere von ihm verlangt. Das Publikum nimmt seine Bewegung dennoch als 'Stimmungs'-Mitteilung war und kann und soll diesen Ausdruck durch Einfühlung geistig vervollkommnen. Über diesen Prozess bemerkte der indische Philosoph und Kunstförderer Rabindranath Tagore:

Mulk Raj Anand (1963: 61) stellt einer mehr extrovertierten, durch das griechische Ideal der Schönheit des menschlichen Körpers geprägten Kunstauffassung des Westens die eher introvertierte Auffassung der indischen Kultur gegenüber. Während der Westen Grazie durch physisches Training zu erreichen suchte und in der Imitation und gleichzeitigen Beherrschung der Natur, bemühten sich indische Künstler um die Absorption von Natur, so dass diese ein Teil ihrer selbst würde, und um die Besänftigung universaler Energien, wie Sonne, Morgenröte, Erde und Himmel, die sie dadurch vergöttlichten.

Die introvertierte Philosophie hinter den frühen indischen Tänzen besagt, dass die menschlichen Körperbestandteile, wie Nerven, Muskeln und Sehnen, selbstperfektionierend und also gottsuchend sind. Der Ausdruck des menschlichen Strebens im Tanz wurde also ein Versuch des Seelen-Körpers Mensch, sich selbst durch die subtilen und graziösen Bewegungen rhythmischer Energien zu realisieren, um zu einer Harmonie innerhalb von und zwischen den Individuen zu gelangen. Die daraus resultierenden Bewegungsbilder waren nicht naturgetreue Imitationen, sondern fanden innerhalb des akzeptierten Rahmens einer imaginativen, aber konventionalisierten Gestensprache statt, die dem psychologischen Ausdruck des menschlichen Strebens nach Kohärenz, Resonanz oder Göttlichkeit diente (ibid.). Der Wert eines Tanzes wird in vielen außereuropäischen Kulturen mehr an persönlicher Hingabe als an technischer Virtuosität gemessen, obwohl letztere durchaus geschätzt und gewürdigt wird - aber eben nur an zweiter Stelle: Virtuosität hat der Erhöhung des spirituellen Wertes zu dienen.

Die 'bhavatischen' Inhalte von Freude, Angst, Trauer, etc., werden durch die 'rasatische' Intensität des Bewusstseinserweiternden Wahrnehmungsgenusses transzendiert - nicht unbedingt kontempliert oder vergeistigt, wie Baldissera (1983:36) vorschlägt, sondern in sinnlicher und mystischer Wahrnehmung. 'Rasa' hat durchaus auch die Konnotation von 'starker Geschmack', 'Samen- und andere Körperflüssigkeiten', oder von mystischem 'Quecksilber', 'Vitriol' und 'Schwefel' (Clough 1982:528). Deshalb möchte ich hier eine mehr körpererfahrungsorientierte erklärende kleine Erzählung einfügen: Einer meiner Meditationslehrer ließ mich auf die Empfindung des Ein- und Aushauchs meines Atems an der Nasenwurzel konzentrieren, bis ich so etwas wie ein süßes Singen an dieser Stelle wahrnahm - als ob ich etwa an einer taubehangenen Rose riechen würde - dann eine Empfindung von Weite in meinem Kopf, eine wie gereinigte, sinnliche und leicht vibrierende Wahrnehmung - und die völlige Stille meiner Gedanken. Da wandte sich Swami mir lächelnd zu und sagte: "Now, this is the taste of rasa". Rasa ist nicht nur ein spirituelles, psychophysiologisches und ästhetisches Konzept, sondern Ziel und Zweck, sowie Voraussetzung indischer Kunst im allgemeinen und lässt deren Nähe zu religiösen und therapeutischen Riten erahnen (Nürnberger 1994:123). Rasa dient der Mitteilung des Heiligen, Unaussprechlichen.

In der Ästhetik Nietzsches ist diese Funktion unter den Künsten allein der sog. 'absoluten Musik' (im Gegensatz zur Programmmusik) vorbehalten, die allein das Unausdrückbare ausdrücken kann und die der Essenz näher steht als der Repräsentation, wie sie sich in der Literatur oder Malerei findet (Daly 1995:141). In Südasien schreibt man dem nichtdarstellenden 'absoluten' Tanz (nrtta) diese besondere Nähe zum Göttlichen zu. Die Amerikanerin Isadora Duncan, eine der Pionierinnen des Modern Dance und des Ausdruckstanzes kommt dem rasa-Konzept ebenfalls im Tanz nahe, wenn sie darin Emotion weder als spontanen Ausdruck des selbst, noch als Beschreibung der Musik, noch als Imitation von Natur künstlerisch gelten lässt. Emotion sollte nicht als Inhalt des Tanzes oder der Musik zur Kunstästhetik beitragen, sondern als ein Zeichen, in das beide Medien übersetzbar waren:

Man kann aufgrund der soziokulturellen Einbettung der Bewegungskünste von keiner universellen Ästhetik ausgehen. Dennoch können einige universelle Tendenzen aufgezeigt werden. Sie finden sich in Eugenio Barbas und Nicole Savareses (1991) 'prä-expressiven' Prinzipien der performativen Künste: Außeralltäglichkeit, prekäre Balance, Intensivierung des Ausdrucks, Gegenläufigkeit der Kraftvektoren, und anderem. Barbas sogenannte "Theateranthropologie" befasst sich nahezu ausschließlich mit diesen Aspekten und kann deshalb wohl treffender als eine 'Lehre der theatralischen Ästhetik' - einschließlich der zu ihrer Hervorbringung notwendigen Technologien - bezeichnet werden. Die jeweiligen kulturellen Besonderheiten der Einbettung ästhetischer Empfindung in ethische, religiöse und soziale Faktoren bleibt bei Barba jedoch weitgehend unberücksichtigt.

Zur Außeralltäglichkeit gehören die Themen 'Stilisierung' und 'Symbolhaftigkeit'. In Indien wird natyadharma, das Theaterleben von lokadharma, dem Alltäglichen unteschieden. Auch der japanische Kabuki will das Leben nicht imitieren, sondern symbolisieren (Hanna 1983:122f.). Im außereuropäischen Raum kommt insbesondere als ästhetisches Ziel auch die Transzendierung der menschlichen Erfahrung in Betracht, das Ideal der Erreichung eines Heilzustandes. Im Kabuki heißt dieser Zustand kakucho. Er wird durch okisa, "Größe", erreicht, was sich auf die Breite des Ausdrucks und die Tiefe der Darstellung bezieht. Hierbei spielt im Kabuki, so wie z.B. auch im indonesischen höfischen Srimpi oder im koreanischen (26) Tanz die Gegenläufigkeit der Kraft- und Bewegungsvektoren eine Rolle. Der koreanische Tanz verbindet die Vereinigung der chinesischen Gegensätze von yin und yang, als das Prinzip t'aeguk, mit der Atemtechnik von "Großer und Kleiner Atem" (teasam und sosam) und mit der Dialektik von Traurigkeit, Schmerz und unerschöpflicher Fröhlichkeit (han und hung). So setzt jede Kurve im koreanischen Tanz eine Gerade voraus. Das heißt zum Beispiel, die Endpunkte der beiden Arme, die eine Kreisgestalt darstellen, sind nach unten und oben gebogen, und dabei wird eine Kreisgestalt geformt. Über den japanischen Kabuki heißt es ähnlich, eine Bewegung erreicht Größe, indem sie mit einer kleinen gegenläufigen Bewegung eingeleitet wird:

Es ist dies eine Technik der Intensivierung des Ausdrucks durch gegenläufige Kraftvektoren, die durchaus auch im europäischen Raum im Rahmen des Schauspiels benutzt wurde und im Rahmen des klassischen Balletts noch bis heute gesehen werden kann, ohne dass sie indes mit transzendenten Zielen in Verbindung gebracht wird. Sehr wohl wird Ästhetik aber in Ost und West mit pädagogischen Inhalten und Wertvorstellungen verbunden. Die Wahrnehmung von Schönheit des Körperausdrucks ist abhängig von den allgemeinen Werten einer Kultur und diese wiederum können recht unterschiedliche Ausprägungen erfahren. Es gilt hier der Ausspruch der modernen indischen Tänzerin Shobana Jeyasingh:

 

 

1. Zusammenfassung

 

Eine Sichtung der Forschungsgrundlagen zur vorliegenden Arbeit reiht Überlegungen zur Bedeutung und gesellschaftlicher Funktion von Tanz und Theater neben jenen zum Verhältnis zwischen Körperlichkeit und Kultur ein. Es ist daher soziologischen, und psychologischen, funktionalen und strukturellen Analysen Vorrang gegenüber formalen Analysen einzuräumen. Unter Würdigung angeborener und ererbter körperlicher Ausdrucksformen haben für das vorliegende Thema dann insbesondere zwei funktionale Zusammenhänge Bestandteil der Analyse zu sein: einerseits die Auswirkungen der Erziehung, Religion, Philosophie und Lebensform, kurz der Kultur auf die Inhalte der körperlich kommunikativen Formen, andererseits die kulturschaffende und integritätserhaltende Funktion von Tanz und anderen kulturgeprägten virtuosen Bewegungsformen, mit der diese selbst auf die Kultur zurückwirken. Aus solchen Erwägungen heraus sind Vorstellungen und Konzepte über das was Tanz ist, über seinen Wert und seine Ästhetik erst aus einem sorgfältigen Studium emischer Zusammenhänge heraus erstellbar.

 


Anmerkungen:

 

1 Aus textästhetischen Gründen verwende ich in dieser Arbeit in der Regel die männliche Form als allgemeine Berufsbezeichnung, also zum Beispiel nicht 'Tänzer und Tänzerinnen', sondern nur 'Tänzer'. Ich setze die weibliche Form gelegentlich ebenfalls stellvertretend für beide Geschlechter ein, und zwar dort, wo Frauen quantitativ dominieren oder, wo ihr Vorhandensein neben männlichen Vertretern dem Leser nicht selbstverständlich erscheinen könnte. Nur wenn ich ausdrücklich auf das Vorhandensein sowohl männlicher als auch weiblicher ExponentInnen hinweisen möchte, verwende ich Schreibweisen wie eben in diesem Satz. blue2_5.gif zur Textstelle

2  Ich verwende das Wort „konzentrativ“ in dieser Arbeit im Sinne von „konzentriert ausgeführt und zugleich konzentrationsfördernd wirksam“ und nicht im Sinne irgendeiner markenspezifischen Schule der Bewegung. blue2_5.gif zur Textstelle

3 Ich verwende den Ausdruck 'Westen' in dieser Arbeit für die euroamerikanische Kultursphäre. blue2_5.gif zur Textstelle

4 Der Status des männlichen Tänzers ist im Westen überdies durch seine Annäherung an weibliche Rollenbilder (Geschmeidigkeit, Anpassungsfähigkeit, Anmut, Emotionalität etc.) gekennzeichnet, eine Facette der Ambivalenz, auf die ich in dieser Arbeit jedoch nur geringen Bezug nehmen kann. blue2_5.gif zur Textstelle

5 Quellen außer den im Folgenden ausführlicher behandelten z.B. auch Browning 1995, Ellis 1995, Günther 1990, Long 1990, Weninger 1996. blue2_5.gif zur Textstelle

6 Ich verwende den Begriff 'Kunsttanz' für technisch virtuosen Tanz, der zumindest überwiegend der Unterhaltung dient. Der Begriff 'Ritualtanz' bezieht sich auf Tanz, der rituell spezialisiert ist, und trifft keine Aussage über die technische Komplexität der eigentlichen Tanzbewegung. Zwischen Kunst- und Ritualtanz können komplexe dialektische historische Beziehungen bestehen. blue2_5.gif zur Textstelle

7 Äußere Umstände verhinderten jedoch die Einlösung dieses Vertrags (Buckle 1979:214). blue2_5.gif zur Textstelle

8 Schon das Natyashastra gibt Hinweise auf eine Verbindung zwischen Tanz und Prostitution. Die Tänzerin gehorchte dabei wahrscheinlich zunächst nur den sexuellen Wünschen ihrer königlichen Sponsoren und der Tempel-Brahmanen, wobei der sich körperlich darbietenden Tänzerin religiöser Segen keineswegs verwehrt wurde (Marglin 1989: 90 ff., Gaston 1996). Der Einfluss der Königshöfe stieg durch einen Verfall der Tempelökonomie im Zuge geänderter Glaubenspraxis, wodurch ein Prozess des Abgleitens der Tänzerinnen zu profanen Liebesdienerinnen eingeleitet wurde. Die unkultiviertere Praxis der Prostitution, wie sie durch die britischen Kolonisatoren begünstigt wurde, entfernte die Kurtisane weiter von ihrer künstlerischen Basis und machte sie zu einer gewöhnlichen Prostituierten (Hanna 1993:123f, Wichterich 1986: 92). blue2_5.gif zur Textstelle

9 Vom 'Tiertanz' über definitorische Merkwürdigkeiten wie 'klonische Krampftänze', bis zum Ballett. blue2_5.gif zur Textstelle

10 Eine Missdeutung von schamanistischen Ekstasen als 'Krampftänze'. blue2_5.gif zur Textstelle

11 "Out of ordinary motor activities dance selects, heightens or subdues; juggles gestures and steps to achieve a pattern, and does this with a purpose of transcending utility" (Kurath 1960:234, zitiert nach Schmiderer 1996:5). blue2_5.gif zur Textstelle

12 Ein Großteil der hier zitierten Ansätze entstammt aus Nürnberger (unveröff., verfasst 1995). blue2_5.gif zur Textstelle

13 siehe Kap. "Vom Theater zum Ritual". blue2_5.gif zur Textstelle

14 Andere Quellen und Näheres zu dieser Thematik siehe Kap. "Rituelle Wirkkraft - Das transkulturelle Potential". blue2_5.gif zur Textstelle

15 Eine detailliertere Diskussion der ethnographischen Literatur über Tanz ist enthalten in Royce 1980. blue2_5.gif zur Textstelle

16 Interviews mit Piali Ray, Direktorin von Sampad in Birmingham, mit Mira Kaushik, Direktorin der Academy of Indian Dance in London und mit Nilima Devi, regionale Beauftragte für educational dance in Leicester (1994 und 1995). blue2_5.gif zur Textstelle

17 Bibel : I. Korinther 12:12 zitiert nach Lyon und Barbalet 1994.55. blue2_5.gif zur Textstelle

18 Alle in diesem Abschnitt genannten Autoren und Inhalte (mit Ausnahme jener von Goleman) zitiert nach Schmiderer (unveröff. B) und Nürnberger (unveröff.), beide Arbeiten verfasst um 1995. blue2_5.gif zur Textstelle

19 Quelle dieses Zitats: Amt für Multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt am Main 1993:45, Quellenangabe in eckigen Klammern durch d.A. nach Angaben im zitierten Text. blue2_5.gif zur Textstelle

20 Eine detailliertere Darstellung der Situation in England findet sich auch in Nürnberger 1996a: 215-250. blue2_5.gif zur Textstelle

21 Die historischen und programmbezogenen Daten stammen aus dem Programmheft zu der entsprechenden Aufführung im Rahmen von Tanz'94. blue2_5.gif zur Textstelle

22 z.B. Missverständnisse Labans in Bezug auf afrikanischen Tanz in Laban 1989: 168, siehe auch weiter unten in der vorliegenden Arbeit. blue2_5.gif zur Textstelle

23 Schmiderer, persönliches Gespräch mit d. A. 1994. blue2_5.gif zur Textstelle

24 Quelle des Zitats: Amt für Multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt am Main 1993:50, Quellenangabe in eckiger Klammer hinzugefügt durch d. A. nach Angaben im zitierten Text. blue2_5.gif zur Textstelle

25 Eine Zusammenfassung relevanter Quellen findet sich in Hughes-Freeland 1970b:473 und ibid. Anm. 2. Sie schreibt unter anderem (ibid: 492 in Anm.2):

26 Jo 1998:49. blue2_5.gif zur Textstelle 


 

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"Tanz/Ritual - Integrität und das Fremde"

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Univ.-Doz. Dr. Marianne Nürnberger Uni Wien