CONTEMPORARY issues, (2010) Vol. 3, No. 1

 

LJILJANA RADONIC

Krieg um die Erinnerung: Kroatische Vergangenheitspolitik

zwischen Revisionismus und europäischen Standards

Frankfurt am Main: Campus-Verlag, September 2010, 422 Seiten

 

Krieg um die Erinnerung: Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards heißt das neueste Werk der Wiener Politikwissenschaflerin, Historikerin und Übersetzerin Ljiljana Radonic. Die Autorin lehrt über „Erinnnerungskonflikte in Zentraleuropa nach 1989“ auf dem Institut für Politikwissenschaft und koordiniert das interdisziplinäre Doktoratsprogramm „Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe“ an der Universität Wien. Das Buch basiert auf der Doktorarbeit, welche die Autorin 2009 an der Wiener Universität verteidigt hat.

Ljiljana Radonic verbindet in ihrem Werken die Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, psychoanalytische Beiträge zur Politikwissenschaft, die Analyse von Geschlechterverhältnissen und Herrschaft in politischen Systemen sowie die Untersuchung von Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur, unter besonderer Berücksichtigung ihrer österreichischen und kroatischen Erfahrungen.

Es handelt sich hier um ein Buch, das eine Außenperspektive auf die Probleme der Perzeption des Zweiten Weltkrieges, des Holocaust, der Shoa und des Unabhängigen Staates Kroatien (NDH) in der Republik Kroatien bietet. Dieses wertvolle Werk aus ausländischer Perspektive vertieft jene Debatten, die bereits in folgenden Sammelbänden eröffnet wurden: Nezavisna Država Hrvatska 1941.-1945. (Der Unabhängige Staat Kroatien 1941-1945; Ramet, 2009) und Kultura sjećanja: 1941.: Povijesni lomovi i svladavanje prošlosti (Erinnerungskultur: 1941: Historische Brüche und die Vergangenheitsbewältigung; Bosto/Cipek/Milosavljević, 2008), sowie in dem Buch Magnissimum crimen: Pola vijeka revizionizma u Hrvata (Magnissimum crimen: Ein halbes Jahrhundert des Revisionismus unter den Kroaten; Jazbec, 2008). (1)

Die grundlegende analytische Motivation dieses Werkes ist die Darstellung der kroatischen Vergangenheitspolitik im Kontext des Konflikts um die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zwischen den alten EU-Ländern und den neuen, post-sozialistischen Staaten und Gesellschaften. Kroatien nimmt aufgrund der Erfahrung des Heimatländischen Krieges und des Zerfalls der jugoslawischen Föderation in der Debatte über die Differenzen und Konflikte europäischer Vergangenheitspolitiken einen besonderen Platz ein. Die Autorin bringt die Europäisierung der kroatischen Vergangenheitspolitik in Zusammenhang mit der Europäisierung des kroatischen politischen Systems und dem EU-Beitritt.

Radonic erläutert einleitend, dass seit den 1990er Jahren eine Verschmelzung unterschiedlicher nationaler Vergangenheitsdiskurse und Geschichtspolitiken sowie eine Annäherung an gemeinsame, europäische Referenzpunkte beobachtet werden kann. Aus dieser Veränderung entsteht der Prozess der Universalisierung und Europäisierung des Holocaust, dessen Ziel die Schaffung einer legitimen Basis eines neuen Europas ist. In Anlehnung an Levy und Sznaider lobt die Autorin die Praxis der Universalisierung des Umgangs mit der europäischen Vergangenheit, betont jedoch, dass es sich dabei um „transnationale Erinnerungspraktiken“ und nicht um einen „einheitlichen Kanon des Umgangs mit der Vergangenheit“ handle.

Der erste Teil des Buches enthält eine umfangreiche historisch-politikwissenschaftliche Darstellung des Zweiten Weltkrieges in Kroatien, der Entstehung des „Unabhängigen Staates Kroatien“, der Ustascha-Ideologie sowie des Verlaufs und der Durchführung des Holocaust und der Shoa in Kroatien. Die Autorin bezieht sich hier vor allem auf Beiträge von Fikreta Jelić-Butić, Ivo Goldstein, Tihomir Cipek und Bogdan Krizman.

Danach umreißt Radonic den ideologisierten und totalisierenden Blick auf den Zweiten Weltkrieg und das historisch-legitimatorische Narrativ zu Zeiten Tito-Jugoslawiens. Die Autorin gewährt einen selten  konzisen Einblick in die Grundfeste des jugoslawischen antifaschistischen Vergangenheitsnarrativs. Ferner stellt dieses Kapitel den Streit um die jugoslawischen Opferzahlen im Zweiten Weltkrieg in den Kontext größtmöglicher Entschädigungsansprüche  und bezieht sich schließlich auf Daten der beiden anerkanntesten Erforscher der Kriegsopferzahlen in Jugoslawien, Bogoljub Kočović und Vladimir Žerjavić sowie auf die Rolle von Jasenovac und der offiziellen Opferzahlen im jugoslawischen Vergangenheitsnarrativ.  In ihrer Analyse der späten 1980er stellt die Autorin das Auftreten konkurrierender Narrative über die Vergangenheit und die jugoslawische Erfahrung des Zweiten Weltkrieges dar. In diesem Teil des Buches gilt die größte Aufmerksamkeit der historischen Deutung Franjo Tuđmans und seinem Konflikt mit der offiziellen Narration über Jasenovac. Unter Bezugnahme auf Snježana Koren und die Analyse von Geschichts-Schulbüchern einzelner jugoslawischer Republiken aus den 1980er Jahren zeigt Radonic ebenfalls auf, wie das „Erinnerungsvakuum“ und die Unterdrückung des nationalen Narrativs (besonders in der Sozialistischen Republik Kroatien) die Grundlage für spätere Konflikte über die Erinnerungskultur in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg schufen. Basierend auf der Analyse von Zeitungsartikeln aus den späten 1980ern, vor allem aus Vjesnik, betrachtet die Autorin das offizielle Jasenovac-Narrativ durch die Dimension des Überlebenskampfes eines delegitimierten Regimes, das zugleich Verbrechen an entlassenen Soldaten und Zivilisten nach Kriegsende verschweigt.

Im weiteren Verlauf des Buches liegt die Betonung auf den 1990er Jahren und der Politik nationaler Versöhnung des ersten kroatischen Präsidenten. Die Autorin bringt die Demokratiedefizite des jungen Staates in Verbindung mit Defiziten bei der Aufarbeitung der Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges und dem Widerspruch zwischen der Legitimierung des Staates durch den Antifaschismus in der Verfassung einerseits und der entweder offenen oder impliziten Umdeutung der NDH und der Ustascha-Bewegung als „staatsschaffend“. Die Bewertung des Grades der Verankerung von Demokratie in der Ära von Präsident Tuđman leitet die Autorin aus den analytischen Prämissen Wolfang Merkels ab. In diesem Kontext erwähnt Radonic auch kurz Ereignisse wie die Zagreber Krise in der zweiten Hälfte der 1990er und die sich verändernde Rolle der Auslandskroaten im Partei- und Wahlsystem. Bei der Analyse der Unmöglichkeit einer demokratischen Vergangenheitspolitik in den 1990er Jahren erinnert die Autorin auch an die Besonderheit der kroatischen Transition, die große Rolle ehemaliger Mitglieder des Kommunistischen Verbandes Kroatiens (SKH) unter den Mitgliedern der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ) sowie die Nicht-Durchführung der Lustration in Kroatien, im Gegensatz zu anderen post-sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas. Zugleich befasst sich dieser Teil des Buches mit der revisionistischen Darstellung der NDH in der politischen Öffentlichkeit und den Schulbüchern der 19990er Jahre sowie mit den Versuchen der Gleichsetzung der kriegführenden Parteien im Zweiten Weltkrieg zum Zwecke der Homogenisierung des kroatischen Volkes anlässlich der Kriegsgeschehnisse und der Schaffung eines unabhängigen Staates. Besondere Aufmerksamkeit wird der Parallelnarration über Jasenovac und Bleiburg in der Ära Franjo Tuđmans gewidmet, ebenso wie dem Versuch der Darstellung von Jasenovac als „nationalem Versöhnungsort“. Die Autorin wiederlegt auch die in den 1990ern verfochtene These über die Weiterführung des Lagers in Jasenovac nach 1945 und analysiert genau den Diskurs über „uns“ und „sie“ in Kroatien im Anschluss an den Heimatländischen Krieg, die veränderte Deutung von Jasenovac, den Streit um die Opferzahlen und die Lizitation der „Genozidalitäts“-Anschuldigungen. Bei der Studie der Zeitungsartikel aus den späten 1990ern entdeckt Radonic zwei konkurrierende Jasenovac-Diskurse: Vjesnik versucht, die NDH teilweise zu rehabilitieren und die Bedeutung des Lagers zu schmälern, während Novi list einen starken Antifaschismus und den Verzicht auf wie auch immer geartete Errungenschaften der Ustascha-Bewegung propagiert.

In dem Kapitel, das sich mit der Vergangenheitspolitik zu Zeiten von Premier Ivica Račan und der liberal-sozialdemokratischen Koalition befasst, betont die Autorin das Ende eines revisionistischen Umgangs mit Jasenovac und die Verminderung der Bedeutung von Bleiburg als „Parallel-Jasenovac“. Auch sieht sie in dieser Zeit den Beginn der Annährung kroatischer Vergangenheitspolitik an europäische Standards.

Indem sie die Sanader-Ära als „neue“ HDZ bezeichnet, unterstreicht sie die Kehrtwende dieser Partei im Umgang mit der Vergangenheit und betont die Europäisierung des offiziellen kroatischen Narrativs über den Zweiten Weltkrieg. In diesem Kapitel liegt die Betonung auf der neuen Ausstellung in Jasenovac und dem Fokus auf das individuelle Opfer sowie auf der Problematik der Universalisierung und Europäisierung des Holocaust-Narrativs. Allen Problemen zum Trotz konstatiert die Autorin, dass sich Kroatien in den letzten Jahren in Richtung der europäischen „Erinnerungsgemeinschaft“ bewegt, dass also seine offiziellen Erinnerungspraktiken in großem Maße mit den Praktiken anderer Länder Europas (bzw. der EU) korrespondieren.

Ljiljana Radonics Buch ist aus mehreren Gründen ein bedeutendes Werk, das genauestens zu lesen empfohlen wird. Erstens handelt es sich um ein seltenes ausländisches Werk, dass ohne tendenziösem Sensationalismus und eindimensionale Oberflächlichkeit die Rolle des Zweiten Weltkrieges und der Vergangenheitspolitik in der kroatischen Politik und Gesellschaft nachzeichnet. Es ist zu hoffen, dass genau dieses Buch zu einem besseren Verständnis der komplexen kroatischen Wirklichkeit beitragen wird. Zweitens spricht die Autorin ausgesprochen offen und mutig über den problematischen Umgang mit dem Erbe des Zweiten Weltkrieges, der NDH und der Ustascha-Bewegung sowie über den Holocaust, die genozidale Politik und Massen-Kriegsverbrechen. Dieses Ausmaß an Unmittelbarkeit, Scharfsinn und Direktheit findet sich nicht oft bei anderen Autoren und Autorinnen, die in Erwartung einheimischer Leserschaft in gewissem Ausmaß ihre Analyse zu „erweichen“ und „verwässern“ versuchen. Schließlich handelt es sich um ein Buch, hinter dem eine ausgesprochen gründliche und umfassende Medien-diskursive Analyse der kroatischen Zeitungslandschaft und offizieller Stellungnahmen steht, die mit Sicherheit zur Überzeugungskraft und Bedeutung der präsentierten Argumentation beiträgt.

 

(1) Während des Verfassens dieser Rezension wurde eine Fortsetzung des Buches von Salomon Jazbec unter dem Titel Die Soziologie des kroatischen Revisionismus: Das Wüten vor und nach Jasenovac unter den Kroaten angekündigt.

Višeslav Raos

 

Literatur

Bosto, S.; Cipek, T. i Milosavljević, O. (Hg.) (2008): Kultura sjećanja: 1941.: Povijesni lomovi i svladavanje prošlosti, Zagreb: Disput

Jazbec, S. (2008): Magnissimum crimen: Pola vijeka revizionizma u Hrvata, Zagreb: Margelov institut

Radonić, Lj. (2010): Krieg um die Erinnerung: Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen

Revisionismus und europäischen Standards, Frankfurt: Campus-Verlag

Ramet, S. P. (Hg.) (2009): Nezavisna Država Hrvatska 1941.-1945., Zagreb: Alinea

 

Quelle: http://contemporary-issues.cpi.hr/files/5af32126cce651c26385634bb7ff6af.pdf