Zu jeder wissenschaftlichen Arbeit gehört die Darstellung des aktuellen Stands der Forschung zu Ihrem Thema. Der Forschungsstand bildet die Grundlage und Begründung für Ihre Arbeit.
Was ist der Forschungsstand?
In Ihrer Arbeit und auch in Ihrem Konzept müssen Sie den Forschungsstand darstellen. Aber was heißt eigentlich Forschungsstand?
Der Forschungsstand ist im Grunde eine Zusammenfassung dessen, was die Wissenschaft zu einem bestimmten Thema bereits herausgefunden hat. Er gibt einen Überblick über die relevanten Theorien, Methoden und Ergebnisse, die in der Fachliteratur diskutiert werden.
Der Forschungsstand bildet die Basis jeder wissenschaftlichen Arbeit. Nur wenn man weiß, was zu einem Thema bereits geforscht wurde, kann man die eigene Arbeit in diesen Kontext einbetten und einen sinnvollen Beitrag zum Erkenntnisfortschritt leisten. Die Erarbeitung des Forschungsstands erfolgt durch eine systematische Literaturrecherche und -auswertung. Dabei werden die relevanten Theorien, Methoden und Ergebnisse herausgearbeitet, zueinander in Beziehung gesetzt und kritisch diskutiert.
Wozu braucht man diesen Überblick?
Die Zusammenfassung dessen, was zu einem bestimmten Thema bereits erforscht wurde, dient Ihnen dazu, Ihre eigene Arbeit in den Kontext der Forschung einzuordnen. Sie wollen ja nicht etwas untersuchen, das andere schon längst beantwortet haben, sondern einen eigenen Beitrag leisten. Daher soll Ihre Arbeit auch immer mehr sein als eine reine Zusammenfassung der Literatur, die Sie zu Ihrem Thema gefunden haben.
Ihre eigene Arbeit muss immer mehr sein als eine reine Zusammenfassung der Literatur, die Sie zu Ihrem Thema gefunden haben. Der Forschungsstand ist aber die Basis, um ihre eigene Fragestellung zu entwickeln: Erst wenn Sie wissen, was schon erforscht ist, können Sie erkennen, welche Fragen noch offen sind oder welche Aspekte eines Themas bisher vernachlässigt wurden. Hier setzen Sie dann mit Ihrer eigenen Arbeit an.
Was gehört zum Forschungsstand?
Im Wesentlichen gehören zum Forschungsstand drei Dinge:
All diese Aspekte müssen Sie bei der Erarbeitung des Forschungsstands berücksichtigen, um ein vollständiges Bild zu erhalten.

Wie erarbeitet man den Forschungsstand?
Thema einem (sprach-)wissenschaftlichen Bereich zuordnen
Zunächst sollten Sie sich überlegen, in welchen sprachwissenschaftlichen Bereich Ihr Thema fällt. Je nachdem, welchem Gebiet Sie Ihr Thema zuordnen, werden andere theoretische Ansätze und Forschungsmethoden relevant sein.
Relevante Theorien und Erkenntnisse recherchieren
Wenn Sie Ihr Thema im Groben verortet haben, geht es an die eigentliche Literaturrecherche. Ziel ist, zentraler Theorien, Methoden und Ergebnisse herauszuarbeiten.
Ähnliche Arbeiten finden, auf die man aufbauen kann
Zum Forschungsstand gehören natürlich auch Arbeiten, die eine ähnliche Fragestellung oder ein ähnliches methodisches Vorgehen haben. Diese Arbeiten bieten Orientierung für die Strukturierung Ihrer eigenen Arbeit.
Beispiel
Forschungsstand zum Thema Vergleich zwischen Kiezdeutsch und dem Wiener Jugendslang hinsichtlich Gemeinsamkeiten und Unterschieden in ihrer Entstehung, Verbreitung, linguistischen Struktur und ihrer kulturellen Wahrnehmung.
Thema einem sprachwissenschaftlichen Bereich zuordnen
Damit wir überhaupt wissen, welchen Forschungsstand wier uns anschauen müssen, müssen wir überlegen, in welchen Bereich der Sprachwissenschaft das Thema Vergleich zwischen Kiezdeutsch und Wiener Jugendslang gehört. Gleichzeitig erleichtert die Einordnung die gezielte Recherche und die weitere Konkretisierung des Themas.
Die Sprachwissenschaft lässt sich grob in verschiedene Teilgebiete einteilen, z.B.:
- Phonetik und Phonologie, also die Lautstruktur von Sprache
- Morphologie und Syntax, also den Aufbau von Wörtern und Sätzen
- Semantik, also die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke
- Pragmatik, also den konkreten Sprachgebrauch und seine Funktionen
- Soziolinguistik, also den Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft
Unser Thema gehört in jedem Fall in die Soziolinguistik, genauer in das Teilgebiet der Varietätenlinguistik, das sich mit geografischen Varietäten sowie sozial und situational bedingten Varietäten einer Sprache beschäftigt. Schlüsselbegriffe aus diesem Bereich sind Sprachliche Variation, Diglossie, schichtspezifische Sprachunterschiede (elaborierter vs restringierter Code) oder Soziolekt.
Bei der Suche von Literatur sollten wir also auch nach Theorien und Methoden suchen, die sich mit sprachlicher Variation befassen.
Relevante Theorien und Erkenntnisse recherchieren
Wenn Sie Ihr Thema im Groben verortet haben, geht es an die eigentliche Literaturrecherche. Dafür gibt es verschiedene Anlaufstellen:
- Die Kataloge Ihrer Universitätsbibliothek und anderer Bibliotheken
- Fachdatenbanken wie LLBA oder MLA für die Linguistik
- Wissenschaftliche Suchmaschinen wie Google Scholar oder Researchgate
- Die Literaturverzeichnisse einschlägiger Werke zum Thema
Wichtig ist, dass Sie sich nicht nur auf eine Quelle verlassen, sondern möglichst breit recherchieren. Neben Büchern sollten Sie unbedingt auch Fachzeitschriften und ggf. Hochschulschriften wie Dissertationen berücksichtigen, da hier die aktuellste Forschung zu finden ist.
Sichtung und Auswertung der gefundenen Literatur
Die gefundene Literatur müssen Sie dann sichten und auf Relevanz prüfen. Es reicht nicht, sich nur die Titel anzuschauen – oft lohnt es sich, zumindest das Abstract oder die Einleitung und das Fazit zu lesen, um einschätzen zu können, ob die Quelle wirklich etwas zu Ihrem Thema beiträgt. Achten Sie bei der Auswertung besonders auf:
Herausarbeiten zentraler Theorien, Methoden und Ergebnisse
Notieren Sie sich die wichtigsten Punkte zu jeder Quelle, z.B. in Form von Exzerpten. So behalten Sie den Überblick und können die Informationen später leichter zusammenführen. Versuchen Sie dabei, übergreifende Themen und Entwicklungen zu erkennen:
- Welche Theorien und Methoden werden immer wieder genannt?
- Wo gibt es Übereinstimmungen oder Widersprüche zwischen den Ergebnissen verschiedener Studien?
- Welche Namen tauchen häufig auf, wer sind also die führenden Experten auf dem Gebiet?
Kritische Würdigung: Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Kontroversen identifizieren
Die kritische Auseinandersetzung mit der Literatur ist ein wesentlicher Teil der Erarbeitung des Forschungsstands. Hinterfragen Sie die Aussagen der Autoren:
Vergleichen Sie auch die verschiedenen Quellen miteinander: Wo stimmen sie überein, wo unterscheiden sie sich? Gibt es kontroverse Debatten zu bestimmten Fragen?
Ein Beispiel für eine solche Kontroverse wäre die Frage, wie man Kiezdeutsch einordnen soll: Handelt es sich um einen eigenständigen Dialekt, wie Heike Wiese argumentiert, oder eher um einen Sprachstil, der situativ verwendet wird, wie Peter Auer meint? Wenn Sie sich mit Kiezdeutsch beschäftigen, müssten Sie beide Positionen darstellen und diskutieren.
Ähnliche Arbeiten finden, auf die man aufbauen kann
Ein weiterer wichtiger Schritt ist es, nach Arbeiten zu suchen, die eine ähnliche Fragestellung oder ein ähnliches methodisches Vorgehen haben. Wenn wir z.B. einen Sprachvergleich machen wollen, sollten wir nach anderen kontrastiven Studien Ausschau halten, auch wenn diese sich mit anderen Sprachen befassen.
Analyse von Aufbau, Argumentation, Ergebnissen als Orientierung
Schauen Sie sich solche Arbeiten genau an: Wie sind sie aufgebaut, welche Theorien und Methoden werden verwendet, wie werden die Ergebnisse dargestellt und interpretiert? Auch wenn Sie nicht alles eins zu eins übernehmen können, geben Ihnen solche Vorbilder doch eine wertvolle Orientierung für die Strukturierung Ihrer eigenen Arbeit.
Identifikation von Forschungslücken, an die man anknüpfen kann
Noch wichtiger ist aber, dass Sie auf diese Weise Forschungslücken identifizieren können. Wo sind Fragen offen geblieben, welche Aspekte wurden bisher nicht oder nur am Rande untersucht? Genau hier können Sie ansetzen und zeigen, dass Ihre Arbeit nicht nur eine Wiederholung von bereits Bekanntem ist, sondern einen eigenen Beitrag zum Thema leistet.
Bleiben wir beim Beispiel Kiezdeutsch: Angenommen, Sie finden Vergleichsstudien zu Kiezdeutsch und türkischem Jugendslang oder zu Kiezdeutsch und Jugendsprache in der Schweiz. Dann wäre eine Forschungslücke vielleicht der Vergleich mit österreichischen Jugendsprachen wie dem Wiener Dialekt. Hier könnten Sie anknüpfen und die bisherige Forschung erweitern.
Darstellung des Forschungsstands
Kommen wir nun zur Frage, wie Sie den erarbeiteten Forschungsstand in Ihrer eigenen Arbeit darstellen. Her unterscheiden wir zwischen der Darstellung im Exposé und der Darstellung in der wissenschaftlichen Arbeit.
Kommentierte Literaturliste
Im Exposé, also der Skizze Ihres Forschungsvorhabens, reicht es meist aus, die wichtigsten Werke in Form einer kommentierten Literaturliste aufzuführen.
Das bedeutet, Sie nennen nicht nur die bibliographischen Angaben, sondern fassen auch kurz in 3-5 Sätzen zusammen, worum es in dem jeweiligen Text geht und was ihn für Ihr Thema relevant macht. So zeigen Sie, dass Sie sich mit der Literatur auseinandergesetzt haben und sie gezielt für Ihre Fragestellung auswählen.
In den Kernaussagen sollten Sie prägnant das Thema, die zentrale These oder das Hauptergebnis des Textes wiedergeben. Zitieren Sie ruhig auch eine prägnante Stelle wörtlich, um zu zeigen, dass Sie den Text wirklich gelesen haben.
Sie müssen außerdem anführen, warum das einzelne Werk für Ihre Arbeit relevant ist.
Ausführlicher Theorieteil
- Detaillierte Darstellung nach thematischen Aspekten gegliedert
- Herausarbeitung von Zusammenhängen, Vergleichen, Entwicklungen
- Fundierung und Ableitung der eigenen Fragestellung
- Beispiel: Theoriekapitel zu Jugendsprache mit Schwerpunkt auf Kiezdeutsch
In der fertigen Abschlussarbeit erfolgt die Darstellung des Forschungsstands wesentlich ausführlicher als im Exposé. Hier geht es nicht mehr nur um eine kommentierte Literaturliste, sondern um eine systematische Aufarbeitung des Themas auf Basis der gesichteten Literatur.
Der Forschungsstand wird dabei in eigenen Theoriekapiteln dargestellt, die je nach Umfang der Arbeit noch weiter in Unterkapitel gegliedert ist. Anders als im Exposé orientiert sich die Gliederung nun nicht mehr an einzelnen Publikationen, sondern an thematischen Aspekten. Das bedeutet, Sie fassen die Erkenntnisse aus verschiedenen Quellen zusammen und ordnen sie bestimmten Themenblöcken zu.
Ziel ist es, die zentralen Konzepte, Theorien und Ergebnisse herauszuarbeiten, die für Ihre Fragestellung relevant sind. Dabei geht es nicht nur um eine bloße Wiedergabe des Gelesenen, sondern um eine analytische Aufbereitung: Sie stellen Bezüge zwischen den Ansätzen her, arbeiten Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus und zeichnen wichtige Entwicklungslinien nach. Auf diese Weise entsteht ein kohärenter Text, der die Grundlage für Ihre eigene Arbeit bildet. Aus der Darstellung des Forschungsstands leiten Sie im Anschluss Ihre Fragestellung bzw. Hypothesen ab, die Sie dann im empirischen Teil untersuchen. Der Theorieteil dient somit dazu, Ihre Studie in den Forschungskontext einzubetten und die Relevanz Ihres Vorhabens zu begründen.
Wie umfangreich der Theorieteil ausfällt, hängt vom Thema und der Art der Arbeit ab. Bei einer reinen Literaturarbeit nimmt die Darstellung des Forschungsstands naturgemäß mehr Raum ein als bei einer empirischen Studie. Als Faustregel gilt, dass der Theorieteil bei empirischen Arbeiten etwa die Hälfte des Gesamtumfangs ausmacht. Bei einer Bachelorarbeit von 40 Seiten wären das also ca. 20 Seiten für die Aufarbeitung der Literatur.
In den einzelnen Unterkapiteln werden dann die relevanten Inhalte aus der Forschungsliteratur referiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Wichtig ist, dass Sie die Quellen nicht nur aneinanderreihen, sondern die Darstellung strukturieren und auf Ihre Fragestellung zuspitzen. Dafür können Sie Zwischenüberschriften setzen, Ergebnisse vergleichen, Vor- und Nachteile von Ansätzen diskutieren und offene Fragen herausarbeiten. Durch diese kritische Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand zeigen Sie, dass Sie sich im Thema auskennen und einen eigenen Standpunkt entwickelt haben.
Sprachlich zeichnet sich die Darstellung durch einen sachlichen, präzisen Stil aus. Belegen Sie Ihre Aussagen durch Verweise auf die Literatur, entweder durch direkte oder indirekte Zitate. Achten Sie darauf, dass Sie die Quellen korrekt wiedergeben und nichts verfälschen. Vermeiden Sie ausschweifende Erklärungen oder Exkurse, sondern konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche. Der rote Faden sollte immer erkennbar bleiben. Am Ende können Sie die Hauptpunkte noch einmal zusammenfassen und den Bogen zu Ihrer eigenen Arbeit schlagen.
Insgesamt dient der Theorieteil also dazu, den Forschungsstand systematisch und kritisch aufzuarbeiten. So schaffen Sie eine solide Basis für Ihre eigene Untersuchung und ordnen diese in den größeren Forschungskontext ein. Durch die Herausarbeitung von Desideraten rechtfertigen Sie zugleich die Relevanz Ihres Vorhabens.
Zusammenfassung
Ein fundierter Forschungsstand ist eine wesentliche Voraussetzung für eine gelungene wissenschaftliche Arbeit. Scheuen Sie sich nicht, ausreichend Zeit in die Recherche und Aufbereitung der Literatur zu investieren. Diese Mühe zahlt sich später aus, da Sie so Ihr Thema optimal durchdringen und in einen größeren Zusammenhang einordnen können.
Durch die Aufarbeitung des Forschungsstands zeigen Sie, dass Sie sich im Thema auskennen, eine eigene Position entwickelt haben und, dass Ihre Arbeit an den aktuellen Wissensstand anknüpft.