Kurt Walter Zeidler


 


Prolegomena zur Wissenschaftstheorie


  Prolegomena zur Wissenschaftstheorie,

  Würzburg (Königshausen & Neumann) 2000 (ND 2006), 184 S. 
  ISBN 3-8260-1863-X 
 
 
 






aus der Einleitung, S. 8ff.: 

„Überblickt man die gegenwärtige Lage in der theoretischen Philosophie, muß man [...] Paul Feyerabend rechtgeben, wenn er feststellt, daß die meisten „Philosophen, die sich heute mit den Wissenschaften befassen, [...] logische Prinzipien und wenige erkenntnistheoretische Annahmen [verwenden]. Das ist alles. Der Rest wurde von der Wiener ‚Revolution in der Philosophie‘ beseitigt.“ 
Tatsächlich verstanden sich die Neopositivisten des Wiener Kreises als Totengräber und Testamentsvollstrecker aller bisherigen Philosophie und Erkenntnistheorie. Und tatsächlich ist es der neopositivistischen Wissenschaftstheorie im Verein mit der sprach-analytischen Philosophie gelungen, die vormalige Erkenntnistheorie weitgehend zu verdrängen. Da nun aber mittlerweile auch die Wissenschaftstheorie zunehmend verdrängt und durch einen erkenntnistheoretischen Nihilismus abgelöst wird, erscheint es angebracht, die logischen Prinzipien und erkenntnistheoretischen Annahmen zu überprüfen, von denen die „Wiener ‚Revolution in der Philosophie‘“ ausging und einige Stationen des Weges nachzuzeichnen, den die Wissenschaftstheorie seither zurückgelegt hat. Nachdem am Ende dieses Weges die mehr oder minder unverhohlene Absage an alle Prinzipien und die scheinbare Einsicht in die Beliebigkeit aller erkenntnistheoretischen Annahmen stehen, kann zunächst nur ein betrübliches Bild vom Entwicklungsgang der neueren Wissenschaftstheorie gezeichnet werden: man muß konstatieren, daß es weder den Vertretern des Wiener Kreises und der analytischen Wissenschaftsphilosophie, noch deren bekanntesten Kritikern gelungen ist, eine wissenschaftstheoretische Konzeption zu entwickeln, die den von ihnen selbst aufgestellten Rationalitätsstandards genügt. Im Gegensatz zu den derzeit modischen Verabschiedungen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zieht die vorliegende Untersuchung aus diesem negativen Ergebnis freilich nicht den Schluß, daß alle Rationaltätsstandards über Bord zu werfen seien. Sie setzt auch nicht auf irgendeine der allzeit gängigen Naturalisierungsstrategien, die ihren Mangel an Gedanken durch den Überfluß an empirischen Fakten wettmachen wollen, der sich nach Belieben aus den verschiedensten Wissenschaften herauskramen läßt. Die vorliegende Untersuchung fragt vielmehr nach den Gründen, warum es den neueren wissenschaftstheoretischen Ansätzen nicht gelingt, ihre eigenen Ansprüche einzulösen. Sie hat daher zunächst die Widersprüche aufzuzeigen, an denen das neopositivistische Konzept krankt (S. 13ff.), sie hat sodann Schritt für Schritt zu verfolgen, inwieweit die nämlichen Widersprüche auch an den diversen analytischen Reparaturversuchen aufbrechen, die am ursprünglichen Konzept des Wiener Kreises vorgenommenen wurden (S. 35ff.), und sie hat schließlich auch die Tauglichkeit der Konzepte zu überprüfen, die sich als Alternativen zur analytischen Wissenschaftstheorie anbieten (S. 63ff., 82ff.). 
Als Ergebnis dieser kritischen Musterung kann vorweg festgehalten werden, daß die meisten wissenschaftstheoretischen Ansätze ein und dem selben Irrtum unterliegen: sie halten die hehren Vorstellungen, die sie sich von wissenschaftlicher Rationalität gemacht haben, für die rationalen Voraussetzungen der Wissenschaft und begehen somit genau den Fehler, den man gemeinhin ‚idealistischen‘ Philosophen vorwirft – sie verwechseln ihr Ideal mit der Wirklichkeit. Die mit dieser Verwechslung einhergehende Konzentration auf ein einseitiges Methodenideal entfachte den missionarischen Eifer mit dem die ‚wissenschaftliche Weltauffassung‘ gegen die ‚traditionelle Philosophie‘ ins Feld zog, sie erstickte darum aber auch alle Hoffnung auf theoretische Einsicht: denn sobald die Verwechslung unter den Anhängern der neueren Wissenschaftstheorie ruchbar wurde und sie zu ahnen begannen, daß es sich bei der ‚wissenschaftlichen Weltauffassung‘ um ein Stück Gegenwartstheologie handelt, verloren sie mit ihrem Glauben auch alle Hoffnung auf eine systematische Begründbarkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis. Dadurch traten an die Stelle der theoretischen Einsichten, die man sich von einer neuen Wissenschaftslogik erhofft hatte, zunehmend skeptizistische Diskurse über die Wissenschaften und wurde das ‚Faktum‘ Wissenschaft zunehmend zu einem Gegenstand empirischer Beschreibungen. Die Tatsachen, die durch die empirische Wissenschaftsforschung und die Wissenschaftsgeschichte an den Tag gebracht werden, liefern aber weder eine Theorie der Wissenschaften, noch bieten sie einen Ersatz für die erkenntniskritische Reflexion, die vordem durch die Wissenschaftstheorie ersetzt werden sollte. Auf solche Weise führten die unerhörten Erwartungen, die man in die wissenschaftstheoretische Neuorientierung der Philosophie gesetzt hatte, geradewegs in die Orientierungslosigkeit, die das Signum der Gegenwartsphilosophie ausmacht und von ihr teils unter dem Schlagwort „anything goes“ akklamiert und teils mit geschäftigem Gerede von Interdisziplinarität, Interkulturalität und Intersubjektivität überspielt wird, sofern sie sich nicht von den Problemen der Gegenwart überhaupt abwendet und nur noch der greisenhaften Erinnerung an einstige Taten lebt. 
Sollte der Gegenwart eine lebendige Erinnerung an das, was Systematische Philosophie bedeuten könnte, zu vermitteln sein, wird man daher den Faden der systematischen Überlegungen dort aufgreifen müssen, wo er der Philosophie des 20. Jahrhunderts verloren ging: in der Wissenschaftstheorie, die als einziger legitimer Erbe aller wissenschaftlich-systematischen Ansprüche der Philosophie antrat, dieses Erbe aber alsbald verspielte, weil sie auf ein idealisches Wunschbild von Wissenschaft und ein einseitiges Methodenideal gesetzt hatte. Im systematischen Teil der vorliegenden Untersuchung werden daher ein wissenschaftstheoretisches Modell der Theoriendynamik und die Grundzüge einer allgemeinen Methodenlehre zu entwickeln sein (S. 102ff.); ein Modell der Theoriendynamik und eine allgemeine Methodenlehre, die sich von den in der heutigen Wissenschaftstheorie gängigen Vorstellungen unterscheiden, weil sie sich nicht die spezifischen Methoden einzelner Wissenschaften zum Vorbild nehmen, sondern den Gegensatz von normativer Wissenschaftslogik und deskriptiver Wissenschaftsgeschichte zu überwinden trachten. Da der Gegensatz von Wissenschaftslogik und Wissenschaftsgeschichte vor allem durch das deduktiv-axiomatische Logikverständnis der analytischen Wissenschaftstheorie provoziert wurde, ist freilich nicht nur der Methodenbegriff zu differenzieren, sondern es werden auch verschiedene Arten des Logikverständnisses zu unterscheiden sein (S. 125ff.). Diese Differenzierungen verlangen den Überstieg von der Wissenschaftstheorie und der allgemeinen Methodenlehre in die Philosophie, da ein differenzierter Methodenbegriff und ein Logikverständnis, das der Theoriendynamik gerecht wird, nur im Horizont der erkenntniskritischen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis entwickelt werden können (S. 143ff.). Im Horizont dieser Frage und speziell im Hinblick auf den kritischen Anspruch, der an den Titel Prolegomena zur Wissenschaftstheorie gebunden ist, wird schlußendlich auch eine pünktliche Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie, allgemeiner Methodenlehre und Wissenschaftstheorie zu formulieren sein.“ 
 
 

Inhalt 
 

Einleitung   7 

Der Wiener Kreis - Zwischen Empirismus und Konventionalismus   13 

Semantik, Semiotik und Falsifikationismus   35 

Wissenschaftsgeschichte versus Wissenschaftslogik   63 

Konstruktivistische und hermeneutisch-dialektische Wissenschaftskritik   82 

Theoriendynamik und Methodenlehre   102 

Universale, spezielle und spezifische Methoden   125 

Die Logik der Wahrheit   143 
 

Literaturverzeichnis   165 

Personenregister   176 

Sachregister   180