Lehre

Krieg essen Vernichtung auf

Die "Wehrmachtsausstellung" ist eingelagert worden. Ihre bewegte Geschichte als Metapher für den Umgang mit der NS-Vergangenheit.

BIS ENDE MÄRZ wurde die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944" in Hamburg noch ein letztes Mal gezeigt, nun wird sie im Deutschen Historischen Museum eingelagert. In den 10 Jahren, in denen ihre beiden Versionen für insgesamt 1,2 Millionen Menschen zu sehen waren, hat sich am Umgang mit der NS-Vergangenheit in den Ländern der TäterInnen einiges verändert. Sie haben gelernt, sich ihrer Schuld zu entledigen, ohne sie zu leugnen, ein Prozess, an dem auch Nolte und (ungewollt) Goldhagen ihren Anteil hatten. Die bemerkenswerte Entwicklung der geschichtsentsorgenden Meilensteine, von einem (Historiker-) Streit, über eine (Goldhagen-) Debatte zu einer (Wehrmachts-) Ausstellung bis hin zu ihrer nunmehrigen "Einlagerung" lässt für das kommende Gedenkjahr, 60 Jahre nach 1945, das Schlimmste befürchten.

NAZI-RAKETEN-TOURISMUS

"Dreizehn junge Mädchen begeben sich auf Spurensuche in die eigene Familiengeschichte ... Sie recherchieren die Jugend ihrer Großeltern, suchen nach der Erinnerung an den Krieg. Es geht darum, sich ein Bild der damals jungen Generation zu machen ... Dabei führen sie die kleinen und großen Auseinandersetzungen der Vergangenheit, werden im Spiel Täter und Opfer und treffen sich an einem imaginären Tatort, um sich gemeinsam zu erinnern..." Dies ist der Inhaltsangabe eines Theaterstückes entnommen, das Teil des umfangreichen Rahmenprogramms der letzten Station der Wehrmachtsausstellung war (die im Folgenden der Lesbarkeit halber so verkürzt benannt sei). Allein an den atemberaubenden Assoziationsketten des Begleitprogramms zu einer Ausstellung, die doch von "Verbrechen der Wehrmacht" handelt, lässt sich unschwer ablesen, wo ihr Diskurs nun im wahrsten Sinne des Wortes "angekommen" ist; auch die zugegene Wissenschaft stellt "Deutsche als Opfer? Deutsche als Täter?" zur Debatte und leistet sich mit Müh und Not noch an beiden Stellen ein Fragezeichen.

In seiner Rede zur Eröffnung hatte Literaturnobelpreisträger Imre Kertész gemeint: "Für mich liegt die Bedeutung dieser Ausstellung zu einem nicht geringen Maß auch darin, dass sie für ... gedankliche Assoziationen weiten Raum bietet" - und dieser Raum wurde von den VeranstalterInnen schon in den Stationen zuvor dreist ausgeschöpft. Im vergangenen Sommer wurde die Ausstellung im "Historisch-Technischen Informationszentrum" in Peenemünde gezeigt, seit den 1990er Jahren eine Pilgerstätte für Bewunderer der V1 und V2 Raketen, die unter anderem auf London abgefeuert wurden und an die bis zum Schluss noch Hoffnungen auf einen deutschen Endsieg geknüpft waren. In Peenemünde wurden sie entwickelt und von ZwangsarbeiterInnen aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Ravensbrück hergestellt. Mit einem "Kombiticket" konnte man sowohl das Raketenmuseum wie auch die Wehrmachtsaustellung besuchen, womit nicht nur die Verbrechensgeschichte zu einer Facette des "Themas Nationalsozialismus" verwässert, sondern auch der problematische Ort Peenemünde von seinen braunen Schatten befreit wurde: Wer sich AUCH mit den "Verbrechen" befasst, steht außer Verdacht, ein affirmativer Nazi-Raketen-Tourist zu sein. Jede Zeit hat ihre "ZeugInnen", und eh man sich's versah, waren hinter dieser Diktion Täter und Opfer verschwunden. Für wenig Aufsehen sorgte damals die Absage eines Vortrages seitens der Referenten, des israelischen Soziologen Natan Sznaider und des Publizisten Günther Jacob aus Hamburg, die an dieser Gleichsetzung von Tätern und Opfern nicht mitwirken wollten.

ENTFERNUNG DER BILDER

Der Schlüsselmechanismus, über den all dies funktioniert, ist die "Differenzierung". Zur Erinnerung: Nachdem sich im Herbst 1999 herausgestellt hatte, dass einzelne Bilder der Wehrmachtsausstellung nicht korrekt beschriftet waren, wurde sie als Ganze zurückgezogen, neu konzipiert und ein Jahr später präsentiert. "Die vorherige Ausstellung polemisierte, emotionalisierte und polarisierte. Die neue Ausstellung versachlicht, differenziert und kontextualisiert den Blick auf Wehrmacht und Weltkrieg", hieß es zufrieden in einer Aussendung des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Diese Versachlichung basierte wie auf einen Blick zu sehen war unter anderem auf der enormen Textlastigkeit der neuen Fassung. Dieses Zurückdrängen der Bilder hat einen guten Grund und ist aus ebendiesem zu kritisieren. Ent-"emotionalisiert" werden sollte die Ausstellung unter anderem durch die Entfernung der von den Tätern selbst stolz angefertigten Fotos ihres mörderischen Treibens.

Zur Signifikanz solcher Fotos hatte Daniel J. Goldhagen in Bezug auf Polizeibatallione festgehalten: "Die Offenheit, mit der die Deutschen zum Völkermord standen, zeigt, wie sehr die Täter mit ihren 'historischen' Taten offensichtlich einverstanden waren ... nichts entlarvt die Verlogenheit ihres routinemäßigen Leugnens nach dem Krieg, sogar ihren Stolz auf ihre Taten besser als die Photos, die die Männer aufnahmen. ... Ihre Bereitschaft, die eigenen Handlungen, einschließlich der Mordeinsätze, umfassend photographisch zu dokumentieren, beweist zwingend, dass sie sich nicht als Leute betrachteten, die ... in eines der größten Verbrechen des Jahrhunderts verwickelt waren." Die Sichtbarmachung dieses "Einklangs" mit ihren Taten, die in den Bildern gespeicherten Blicke und (Selbst-) Wahrnehmungen, waren aus der Ausstellung verschwunden und mussten einer "differenzierten" Aufarbeitung Platz machen, deren historische Aussage weitenteils auch vor der Wehrmachtsausstellung als bekannt vorausgesetzt werden konnte.

Weiteres zentrales Element der Neufassung war der Maßstab, der an das Verhalten der Vernichtungskrieger gelegt wurde: juristische Normen, Völker- und Kriegsrecht. Dass dieses verletzt wurde, liegt ebenso auf der Hand wie der Hinweis, dass unter diesem Gesichtspunkt die Taten der Wehrmacht völlig zu Recht mit anderen "Kriegsverbrechen" verglichen und gleichgesetzt werden können. Punkt ist aber, dass das monströse großdeutsche Projekt, die Vernichtung der Juden und Jüdinnen, dessen Teil der Krieg der Wehrmacht war, völlig jenseits aller Gesetzbücher sich verortet. "Wenn es zutrifft, dass brandschatzende, mordende oder folternde Soldaten ihre Taten in einem Freiraum der garantierten Straflosigkeit begehen, den ihnen ihre Autoritäten extra eingeräumt haben, dann kann es nicht um die Dikussion von Schuldbewusstsein oder Schuldfähigkeiten im Sinne einer 'Moral' oder von Gesetzbüchern gehen", schrieb Klaus Theweleit 2000, noch ohne von diesem neuen Schwerpunkt der zweiten Wehrmachtsausstellung Kenntnis zu haben.
Die "Versachlichung und Kontextualisierung" läuft auf eine Quantifizierung und menschliche Verständlichmachung der Handlungen der Täter hinaus, die sachliche Benennung und Einordnung macht sie vergleichbar, sie können nun historisiert, abgelegt, gemeinsam mit der ganzen Ausstellung "eingelagert" werden. Jede konkrete Opferzahl über Null sei differenziert betrachtet spekulativ, hieß es zuletzt, der Holocaust ist nur mehr eine von 6 "Dimensionen des Vernichtungskrieges"; von einem pauschalen undifferenzierten Freispruch der "sauberen" Wehrmacht bis in die 90er Jahre ist man also zu einem äußerst differenzierten Freispruch nach der "umstrittenen" Wehrmachtsausstellung gelangt.

DIABOLISCHE OPFER

Und lieber noch als damit befasst man sich mit der eigenen "Opfergeschichte"; weit mehr als von der Wehrmacht ist die Rede von der deutschen Bevölkerung, die zuerst Opfer eines diabolischen Verführers und dann seiner Diktatur geworden ist, in einen Krieg getrieben, den keiner wollte, schlussendlich ausgebombt, heimatvertrieben und kriegsgefangen. Mit "Vernichtungskrieg" ist plötzlich das alliierte Bombardement gemeint, deutsche Luftschutzkeller werden "Krematorien" und die Bombardierten "Ausgerottete" so in dem Bestseller "Der Brand" des Historikers Jörg Friedrich. Von der TV-Talkshow bis zur wissenschaftlichen Podiumsrunde zur Wehrmachtsausstellung: lieber spricht "Deutschland mehr von den eigenen Leiden als von dem Unheil, das es über andere Völker gebracht hat", stellt auch Imre Kertész in seiner bereits angesprochenen Eröffnungsrede fest - doch folgt auf den Fuß, unter welcher Bedingung die Festgäste bereit sind, sich diese leise Kritik augerechnet aus dem Munde eines Redners, der selbst ein Opfer der Shoah ist, anzuhören: "Gerechterweise ist es auch einmal an der Zeit, dass die Deutschen über das, was sie erlitten haben, klagen..."

Der Diskurs, der aus Tätern Opfer macht (und umgekehrt: Vergessen wir nicht die ungezählten "Verfolgungs"-Metaphern, von denen schon die erste Wehrmachtsausstellung wie auch die Goldhagen-Debatte begleitet war), dieser Diskurs also, der unverschämt die "Holocaust-Lastigkeit" der Gedenkkultur beklagt und mit Erfolg ausräumt, wird noch von anderen Strängen begleitet, die nunmehr auch in der "Mitte" der Gesellschaft als hegemonial durchgesetzt gelten können: Der erfolgte Jahrundertwechsel bietet die Gelegenheit, auf das zurückgelassene 20. zu blicken und ihm einen Titel zu geben, bevorzugt "das Jahrhundert der Diktaturen". Dies ermöglicht die angestrebten Nivellierungen, die von den KritikerInnen der ersten Ausstellung hineinreklamierte Berücksichtigung der "Dialektik von NS und Bolschewismus" kommt voll zur Geltung, wie auch alliierte Bombardements und deutsche Vernichtungslager unter der Chiffre "Krieg" subsummiert werden, und wie gesagt Täter wie Opfer zu "Zeitzeugen" werden. Der zumindest verkündete antifaschistische gesellschaftliche Grundkonsens wird durch einen "antitotalitaristischen" ersetzt, der sich gegen Diktatur und Krieg richtet (letzteres aber wiederum in Abhängigkeit vom anzugreifenden Ziel).

LEBEN MIT DEM MASSENGRAB

Ein weiterer Aspekt des "verlogenen" Gedenkens reicht (auch) bis weit in den linken Mainstream hinein: Als am vergangenen 9. November in Wien eine Gedenkveranstaltung zum Novemberpogrom mit antiimperialistischem Getöse und Palästinenserflaggen tätlich angegriffen wurde, distanzierte sich zwar ein ganz großer Teil von der Gruppe, die als durchgeknallter Splitterverein durchgehen mag; doch enthielten diese Distanzierungen, dieser scheinbare Mindestrespekt vor den Opfern der Shoah, stets auch die mal mehr, mal weniger explizite Relativierung, man hätte bei so einer Veranstaltung eben keine Israel-Fahnen zeigen sollen, das Gedenken an die Progromnacht nicht "zionistisch missbrauchen". Die wahren Schuldigen am Antisemitismus waren wieder einmal lokalisiert. Der Staat der Shoah-Überlebenden, der die Mindestkonsequenz aus dem Nationalsozialismus ist, der den verfolgten Juden und Jüdinnen zumindest relativen Schutz vor antisemitischer Verfolgung zu geben vermag, dieser Staat als solcher ist heute mehr denn je massiven Ressentiments ausgesetzt, wird von einer seltenen Allianz, die von der EU bis zur Globalisierungskritik reicht, mit großer Selbstverständlichkeit wie ein Schurkenstaat behandelt und attackiert. Dementsprechend findet es auch Imre Kertész zumindest "merkwürdig, dass es eine Sorte von Denken gibt, für die es keinen Widerspruch bedeutet, einerseits das Andenken an die während des Holocaust ermordeten Juden zu bewahren, ja, sogar zu pflegen, und auf der anderen Seite unbefangen die neu legalisierte Sprache des Antisemitismus zu sprechen."

Doch welche Meinung muss er, der eine Rede zur Eröffnung der Wehrmachtsausstellung hält, von jenen haben, die diese Ausstellung gestaltet haben und repräsentieren, von der honorigen Gesellschaft, die sich bei so einer Gelegenheit präsentiert, welche Meinung also muss Kertész von diesem Publikum haben, wenn er die schlichte und im biedersten EU-Bericht nachzulesende Feststellung, dass von einem Fortwirken des Antisemitismus auszugehen ist, glaubt so relativieren zu müssen: "Möglicherweise halten Sie das für eine gewagte Behauptung ... Vielleicht sagen Sie jetzt, ich zeichne das Bild schwärzer als es in Wirklichkeit ist. Mag sein."

Am Ende von knapp 10 Jahren Wehrmachtsausstellung, gerade rechtzeitig, um sich ein Jahr lang mit befreitem Gemüt auf das Gedenkjahr 2005 einzustimmen, waren es nur noch die verstocktesten Nazis, welche die "Großväter" vor dieser Ausstellung in Schutz nehmen zu müssen glaubten. Mit den hier umrissenen Diskursen, wie sie nun etabliert sind, ist die revisionistische Rechte längst in der Mitte angekommen, was zu der scheinbar paradoxen Situation führt, dass die schärfere, ernstzunehmende Kritik an der Wehrmachtsausstellung von links kommt. So wurde in Hamburg eine Begleitveranstaltung zur Ausstellung von einer antifaschistischen Gruppe verhindert; auf ihr sollte mit uniformierten Experten die Frage diskutiert werden: "Leben mit dem Massengrab Werden Bundeswehrsoldaten auf psychische Belastungen bei Auslandseinsätzen vorbereitet?"

Erschienen in Malmoe # 20 / 2004