Lehre

The same story

Die historischen Bezugspunkte einer Gesellschaft geben Aufschluss über ihr Selbstverständnis. Ingo Lauggas sprach für MALMOE mit der Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Heidemarie Uhl über Form und Gegenstand des Gedenkens 05.


Sie orten in einem aktuellen Text* eine Form von erinnerungspolitischem Backlash: Die Beschäftigung mit der Zwangsmigration der deutschen Bevölkerung habe die ‚eigene Leidenserfahrung' in Deutschland wieder in den Mittelpunkt gerückt, durch das Gedenken an ‚unsere Opfer' solle endlich die ‚andere Hälfte der Wahrheit' ausgesprochen werden. Lässt sich das umlegen auf die Vorgänge, die man im Zuge des Gedenkjahres 2005 auch in Österreich beobachten kann, lässt sich das über ‚Flucht und Vertreibung' Gesagte auch für ‚Krieg und Besatzung' sagen?

Das Interessante daran ist, dass wir es mit zwei zumindest partiellen Transformationen von Erinnerungskultur zu tun haben, die einen unterschiedlichen gedächtniskulturellen Anlass haben. In Deutschland war es die Debatte um Flucht und Vertreibung, wo das Einschreiben dieses Gedächntisortes in das kulturelle Gedächtnis mit dem geplanten Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin erfolgte, in Österreich ist es hingegen das Jubiläumsjahr 2005, in dem diese Erinnerung allein schon durch die mediale Repräsentation, durch Fotos, die Österreich 1945 als Opfer der Kriegshandlungen zeigen - ohne die Vorgeschichte der Jahre 1938 bis 1945 zu thematisieren - oder verschiedene Gedenkfeiern nun gewissermaßen wieder zurück kommt.


Bemerkenswert ist der Umstand, dass es vordergründig für den populärwissenschaftlichen ‚Erinnerungsboom' der letzten Jahre keinen Anlass gegeben hat, weder ein Jubiläum, noch einen Skandal. Wurde mit diesen anlasslosen Gegenerzählungen der diskursive Boden aufbereitet für das nun eingetretene Jubiläumsjahr?

Ich würde die Verbindung etwas anders sehen. Jeder historische Bezugspunkt im Symbolhaushalt des österreichischen Gedächtnisses evoziert ein Ensemble von Bildern, von Texten. 1945 ist dabei gewissermaßen traditionell der Anknüpfungspunkt für die Geschichtserzählung von Österreich als Opfer des Krieges. Hier hat es diese Debatte um Vertreibungen nur sehr peripher gegeben, nicht als im Zentrum der Gedächtniskultur stehend; es gibt eine eher stille Rückkehr dieser Erinnerung an das ‚eigene Leid', die kaum diskutiert wird. Was 2005 vor allem aufgegriffen wird, ist nicht der Blick auf die Ereignisse des Jahres 1945 bzw. 1955 selbst, sondern es sind die Gedächtnistraditionen der Nachkriegszeit. Was wir hier sehen, sind die Bilder und Mythen der Staatsvertragsjubiläen, die seit 1955 zu allen runden Jahrestagen und auch jetzt wieder fortgeschrieben werden. Österreich unterscheidet sich darin von anderen Ländern, weil man sich andernorts vor allem mit der Frage von Krieg und Nationalsozialismus auseinandersetzt, fokussiert auf das Jahr 1945. Also die Frage von Befreiung, wie dieses Jahr beurteilt werden soll, das steht im Vordergrund einer gewissermaßen transnationalen Erinnerungskultur. In Österreich wird 1945 von 1955 ‚überstrahlt', und an dieses Datum haben sich in der Zweiten Republik immer jene Erfolgsstorys angelagert, die nun beginnen, die Ansätze einer kritischen Geschichtsbetrachtung, wie seit dem Waldheimskandal 1986 im Vordergrund gestanden ist, zu überschreiben.


Gesellen sich diese Erfolgsstorys zu dem, was Sie ‚Alternativ- bzw. Gegenerzählungen zum Holocaust' genannt haben?

Ich denke, dass diese Gegenerzählung zu den NS-Verbrechen schon in den Staatsvertrag selbst eingeschrieben ist - der Staatsvertrag ist ein ambivalenter Gedächtnisort, mit dem sich sowohl die offizielle Opferthese als auch die populäre Gegenerzählung - die ÖsterreicherInnen als Opfer des Krieges gegen den Nationalsozialismus - verbinden. Die Frage ist, ob mit dieser Koinzidenz der historischen Bezugspunkte 1945 und 1955 nun auch im Rahmen des bisherigen Erfolgsstory-Gedächtnisortes die problematischen Aspekte diskutiert und thematisiert werden. Nicht im Vordergrund, aber subkutan, indem es in Bezug auf 1945 auch um die Thematisierung von Widerstand, Befreiung und damit der Verbrechen des NS-Regimes geht. Es gibt nunmehr einen Konnex zwischen 1945 und dem Staatsvertrag, zumindest auf einer intertextuellen Ebene, obwohl eine mit 1945 verbundene Erinnerung an den Nationalsozialismus und der Gedächtnisort Staatsvertrag zumeist zwei getrennte Diskurse und Narrative sind. Ich denke, dieses Einschreiben der NS-Greueltaten wird am 5. Mai, wenn der Jahrestag der Befreiung des KZ Mauthausen im Mittelpunkt von Gedenkfeiern steht, ganz deutlich werden. Allerdings: Wenn Sie die Medienberichterstattung anschauen, dann steht das Weiterschreiben der österreichischen Erfolgsstory im Zentrum des Jubiläumsjahres 2005.


Bestimmte alte Mythen wie jene von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus, die vorgebliche Nicht-Verstrickung der ÖsterreicherInnen in die Shoah, lassen sich abseits einzelner gesellschaftlich marginaler Milieus nicht mehr halten. Forderungen wir jene nach dem Eingeständnis der österreichischen Schuld sind nicht sehr spektakulär, man hat mit Sterben der ‚Tätergeneration' kein Problem mehr mit diesem Schuldeingeständnis. Das diskursive Feld hat sich hier insofern verschoben, als dadurch andere Diskurse, die sich vorher am rechten Rand befunden haben - Stichwort Aufrechnung der Opfer -, in die gesellschaftliche Mitte gerückt und enttabuisiert werden, wie an den Darstellungen der letzten Jahre offensichtlich wird.

Das stimmt, die großen Debatten um das österreichische Gedächtnis sind bereits geführt worden. Es gibt kritische Sichtweisen, aber offenkundig erweist sich der Staatsvertrag als so strahlend positiver Gedächtnisort, dass ihm kaum etwas anzuhaben ist. Da hat auch die Kritik von HistorikerInnen wenig bewirkt. Es ist aber der kritische Gestus etwas verblasst, denn die Debatten der 80er und 90er Jahre sind nun mal ausverhandelt, und wir haben einen neuen Stand der Dinge. Es gibt - trotz einiger Reaktivierungsversuche der Opferthese durch die derzeitige Bundesregierung - auf der Ebene des offiziellen Österreich einen weitgehenden Konsens über ein Bekenntnis zur Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus.
Aber: Was 2005 in den symbolischen Haushalt des österreichischen Gedächtnisses einfließt, und das würde ich eher als eine subkutane Intervention bezeichnen, sind jene Gegenerzählungen zu einer kritischen Sichtweise der österreichischen Vergangenheit, die sich mit dem Staatsvertrag verbinden und die nun wieder die Erfolgsstory der Zweiten Republik in den Vordergrund stellen. Die damit verbundene Problematik zeigt sich bereits im Satz "Österreich ist frei!". Er bedeutet eigentlich eine ganz entschiedene Relativierung der Befreiung 1945, und diese Leseart war in den Jahren nach Kriegsende omnipräsent. Leopold Figl hat damals auch von einem "17 Jahre lang dauernden Weg der Unfreiheit" gesprochen, und so die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Besatzungszeit unter dem Prätext der Freiheit vorgenommen.


Ein Teil Ihrer Ausführungen befasst sich mit einem genauen Beobachten der Rolle von Bildern, Sie sprechen in Ihrem Text von einer ‚Gegenvisualisierung', bei der die Bilder der fliehenden Deutschen jenen der Leichenberge von Auschwitz entgegengesetzt werden sollten. Wie beurteilen Sie nun die Versuche der visuellen Umsetzungen des ‚offiziellen' Gedenkens?

Der Punkt ist, dass jedes Datum im österreichischen Gedächtnishaushalt bestimmte Bilder und Narrative evoziert. Die subkutane Wiederkehr der Nachkriegserzählungen, das Reden vom eigenen Leid, erfolgt hauptsächlich auf der Ebene der Bilder. Wenn man sich die Bildbeilagen in den Medien anschaut, dann sieht man genau die Bilder, die auch in den Nachkriegserzählungen präsentiert wurden. So wird beispielsweise das Jahr 1945 immer wieder durch den brennenden Stephansdom visuell repräsentiert und nicht etwa durch die Fotos der Befreiung von Mauthausen. Die sind nämlich Teil einer anderen Geschichte, die in der Nachkriegszeit nicht gezeigt wurde, weil diese Geschichte nicht zu Österreich gehört. Was das Gedächtnis an den Staatsvertrag also so erfolgreich macht, ist, dass hier Bilder und Narrative eines Opferdiskurses zusammenfließen, die beides in sich tragen, nämlich die offizielle Opferthese von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus und ihre gewissermaßen populare Variante von den ÖsterreicherInnen als Opfer des Krieges GEGEN den Nationalsozialismus. Wenn Sie die Darstellungen anschauen, dann sehen Sie wieder die Bilder vom Nachkriegsleid, vom Leiden der Zivilbevölkerung unter den Kriegsfolgen. Genau diese Bilder, die in der Nachkriegszeit das visuelle Gedächtnis dominiert haben, wenn es um das Jahr 1945 geht, finden Sie im Kontext des Staatsvertrages wieder. Und nicht Bilder, die die Befreiung vom Nationalsozialismus visualisieren.


* erschienen im Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIII (2005): Antisemitismus Antizionismus Israelkritik. Herausgegeben von Moshe Zuckermann. Wallstein Verlag, Göttingen.

Das Interview erschien in Malmoe # 26 / 2005