Lehre

Ideen einer solidarischen Stadt

Nachdem 2016 in Athen eine ganze Reihe von Häusern besetzt wurden und die Syrian Solidarity House Initiative entstanden war, konterkarierten deren Bewohner_innen das überkommene Bild der ‚bedürftigen‘ Geflüchteten, indem sie mit Nachbar_innen Lebensmittel teilten und Süßspeisen an Passant_innen ausgaben, ausdrücklich ohne dafür Spenden anzunehmen. Solche Praktiken als „Werkzeuge der Konvivialität“ durchbrechen das Narrativ humanitärer Arbeit und schaffen einen neuen Standpunkt: Die Geflüchteten revanchieren sich für die Gastfreundschaft, gehen aber über die Rolle des Gastes hinaus, indem sie sich selbst als Nachbar_innen bezeichnen: „anwesend, sichtbar und ansässig“. Dies ist nur eine von unzähligen Episoden, die ein neuer Band aus der Reihe transversal texts präsentiert, politisch kontextualisiert und theoretisch reflektiert. Dreizehn formal sehr heterogene Beiträge gehen der Stadt als Stätte der Solidarität auf den Grund und nehmen „Prozesse, Kämpfe, Infrastrukturen und Realitäten“ in den Blick, die versuchen, politischen Gegebenheiten, die samt und sonders auf anderen Ebenen bestimmt werden, konkretes solidarisches Handeln entgegenzusetzen.

Besonders spannend ist dabei die kritische Reflexion jener Begriffe, die sich nur scheinbar selbst erklären. So kann etwa ‚Infrastruktur‘, wie Sarah Schillinger zeigt, auf das Verständnis einer „Infrastruktur der Solidarität“ erweitert werden, „das sich aus sozialen Praktiken ergibt“; aber auch ‚Solidarität‘ selbst wird fragwürdig, wenn man Repräsentations- und Identitätspolitiken dekonstruiert, wie es Vassilis Tsianos vorschlägt, womit ein Bruch mit den „Narrativen der Fairness“ einhergehe und damit ein „Bruch mit der Solidarität sowie dem politischen Subjekt“.

Im Mittelpunkt des Bandes stehen Migration, Prekarität und Marginalisierung, deren Beziehungen zueinander sowie die Schwierigkeiten und Widersprüche solidarischen Handelns – so sehr, dass die titelgebende „Stadt“ zuweilen aus dem Blick gerät. Nicht alle Beiträge scheinen nämlich bewusst zu unterscheiden zwischen der Stadt als Ort und der Stadt als Bedingung, wie es etwa Serhat Karakayali in seinem Beitrag tut, der dezidiert die Unterschiede zwischen Stadt und Land in den Blick nimmt, die sich nach der kurzlebigen solidarischen „Euphorie“ des Sommers 2015 zeigten. Die Stadt steht in dem Band vielfach als Schauplatz auf einer Ebene mit ihrer Konstellation, sie ist „Ort und Stätte“ gleichermaßen wie „Knotenpunkt“, „Resonanzraum“, „Möglichkeitsort“ aber auch „Ort der Produktion von Differenz“. Hier hätte analytisch stringenter differenziert werden müssen – was aber dem Wert der Texte zur Autonomie der Migration und der „Ankunft“ als Gegenbegriff zu „Integration und Unterordnung“ freilich keinen Abbruch tut.. 

Niki Kubaczek und Monika Mokre (Hg.) (2021): Die Stadt als Stätte der Solidarität. Transversal texts, Wien. 15 Euro (oder als freier Download unter transversal.at)

Erschienen in MALMOE #96 (2021)