Lehre

Zufällige Haft eines Linken

Der bewährte MALMOE-Service: Ein leider namensreicher Behelf zum Verständnis italienischer Vorgänge


Rom 1980: Am 24. April wendet sich Carlo Donat Cattin, Ex-Minister und Vizechef der Democrazia Cristiana an Regierungschef Francesco Cossiga, um Informationen über die staatliche Verfolgung seines Sohnes Marco zu erhalten, der in der linksradikalen Gruppe Prima Linea engagiert ist. Cossiga, als Innenminister nach dem Tod von Aldo Moro zurückgetreten, teilt bereitwillig seine Amtsgeheimnisse mit dem Parteifreund. Tags darauf sucht Donat Cattin Roberto Sandalo auf, einen Freund und Mitstreiter von Marco; am 29. April wird Sandalo verhaftet und gibt diese Begegnung zu Protokoll sowie die plausible Behauptung, dass Marco Donat Cattin nur dank der von seinem Vater beschafften internen Informationen hatte untertauchen und Italien verlassen können. Gegen Cossiga wird eine Untersuchung wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses und Begünstigung eingeleitet, aber mit Parlamentsmehrheit abgelehnt. Ein nur mittlerer Skandal, für italienische Verhältnisse.
Doch leider bleibt es nicht dabei, denn Sandalo findet Gefallen am Reden und wird zu einem "pentito", einem "reuigen" Ex-Terrorist. Unter anderem sagt er aus, dass es eine klandestine Unterorganisation von Lotta Continua gewesen sei, die 1972 den Polizeikomissar Luigi Calabresi ermordet hat. Gründungs- und Galionsfigur von Lotta Continua ist Adriano Sofri, der wegen des Calabresi-Mordes seit 1997 im Gefängnis sitzt. Um seine Begnadigung durchzusetzen, hat der aktionistische Altmeister Marco Panella einen Aufsehen erregenden Hunger- und Durststreik durchgeführt und erst kurz von Drucklegung dieser Ausgabe nach einem vertraulichen Gespräch mit Silvio Berlusconi beendet.

Man sieht also wieder: Nicht alles, aber doch sehr vieles in Italien landet auf der Piazza Fontana. Diesem Anschlag in Mailand, Auftakt der "bleiernen Jahre", fallen im Dezember 1969 16 Menschen zum Opfer, 87 werden verletzt; faschistische Gruppen haben ihn begangen und dank geheimdienstlicher Deckung ist er bis heute nicht geklärt (siehe MALMOE 12/03). Luigi Calabresi war damals mit den Ermittlungen beauftragt, suchte zielsicher die Täter in der linken Szene und beschuldigte bereits nach 2 Tagen den Anarchisten Giuseppe Pinelli, der beim Verhör aus einem Fenster im 4. Stock "fällt" und stirbt. Dario Fo hat diesen "Zufälligen Tod eines Anarchisten" in einem berühmten Stück verewigt. Auch dank der öffentlichkeitswirksamen Kampagnen von Lotta Continua wird gegen Calabresi ein Verfahren wegen Mordes eingeleitet, doch im Mai 1972 wird er selbst auf offener Straße erschossen.
Aufgrund der Aussagen von Roberto Sandalo werden 1988 also Adriano Sofri, Giorgio Pietrostefani, Ovidio Bompressi und Leonardo Marino verhaftet. Auch letzterer wird zu einem "pentito" und beschuldigt die ersten beiden, die Auftraggeber und Bompressi, der Ausführer des Mordes zu sein. Dieses Entgegenkommen wird mit juristischer Milde belohnt, Pietrostefani, Bompressi und Sofri fassen hingegen 22 Jahre aus. Diesem ersten folgen insgesamt noch 14 Berufungsprozesse, zuletzt werden die skandalösen Urteile aufgrund von Marinos Aussagen bestätigt.

Adriano Sofri hat ungezählte Zeitungsbeiträge und eine Reihe von Büchern publiziert, und die Allianz derer, die seine Begnadigung fordern, ist extrem breit, sogar Berlusconi hat sie im Oktober 2002 als "reif" bezeichnet. Dem im Wege steht: Sofri bittet nicht darum, da dies einem Schuldeingeständnis gleichkäme, das er stets verweigert hat. Diese paradoxe Situation hat er 1999 so auf den Punkt gebracht: "Wenn ich als unschuldig Verleumdeter mich schuldig bekenne, komme ich frei, tu ich es nicht, krepiere ich im Knast. Annahme B: Nehmen wir an, ich sei schuldig. Wenn ich mich schuldig bekenne, komme ich frei. Streite ich alles ab, krepiere ich im Knast. Gegenprobe. Marino ist unschuldig und verleumdet mich und andere: er verbringt keinen einzigen Tag im Knast. Marino ist schuldig und denunziert: er verbringt keinen einzigen Tag im Knast. Die Gerechtigkeit hat gesiegt."
Der Begnadigung entschlossen im Wege stehen aber auch Berlusconis rechtsextreme Regierungspartner: der Justizminister Roberto Castelli ist von der Lega Nord, und seine Kooperation mit dem deklariert begnadigungswilligen Staatspräsidenten Ciampi wäre vonnöten. Im März scheiterte ein vom grünen Marco Boato eingebrachtes Gesetz, das diese juridische Pattsituation beheben sollte, am Wortbruch der Neofaschisten, die trotz gegenteiliger Zusage "aus Respekt vor den Opfern des Terrorismus" nicht mitstimmten. Welches Versprechen Berlusconis nun Marco Panella dazu gebracht hat, seinen Durststreik zu beenden, war bei Redaktionsschluss unbekannt. Und Sofri in Haft.