Lehre

"Dieses beschissene kleine Land"

Diese feinen Worte fand letztens der französische Botschafter bei einer Dinerparty in London als Ausdruck seiner Wut darüber, dass die Welt von Israel zur Geisel gemacht werde.

Es geht um viel, denn "Grundsätzliches steht zur Debatte: das Verhältnis zu Israel und zum Nahostkonflikt, die Bedeutung der Shoah für die Gegenwart, die Haltung gegenüber Antisemitismus, Nationalismus und deutscher Vergangenheit, die Frage nach Antikapitalismus und Antiimperialismus, das Verhältnis zu Krieg und Frieden und die Bedeutung internationaler Solidarität." So fasst Thomas Haury die beträchtliche Reichweite eines Konfliktes zusammen, der folgerichtig die "Identität der Linken" im Kern berührt, eine Identität, deren konstitutive Prägung durch alle Spielarten des Antizionismus eine lange Geschichte hat, was wenig überraschender Weise eine der Lehren des hier zu präsentierenden Buches ist. Doch nicht nur die Linke ist Gegenstand dieser Textsammlung, die "eine globale Debatte" abzubilden versucht, sondern auch die Frage, "wo legitime Kritik an israelischer Politik aufhört", so die Herausgeber, und Antisemitismus beginnt, eine Frage, die heute nicht diskutiert werden kann, ohne sich mit der Verbreitung des Antisemitismus in der islamischen Welt zu befassen, folgerichtig der dritte Themenkomplex des Bandes.

Diese sich offensichtlich überschneidenden Auseinandersetzungen wurden vernünftigerweise erst gar nicht in Themenblöcke zu trennen versucht, und auch im inneren der meisten Texte der 16 Autoren und der einen Autorin (!) spiegelt sich auf der Suche nach Antworten auf die Frage "Neuer Antisemitismus?" die Wechselwirkung von Phänomenen wider wie Antiamerikanismus, Antizionismus und die leidige Grenzabsteckung von "legitimer Israelkritik". Konzeptionell legt der Band das Fragezeichen seines Titels nie ab, auch bleibt das subtile Rätsel offen, ob es dem 'Antisemitismus' gilt oder den 'Neuen' daran. Einzelne Texte sind da schon deutlicher.

Tony Judt etwa hält die Problematisierung des gegenwärtigen europäischen Antisemitismus glatt für eine unproportionierte "Hysterie", speziell der amerikanischen Öffentlichkeit, während Jeffrey Herf in der islamischen Welt eine "neue Welle des Totalitarismus" ortet, der sich der übelsten Versatzstücke antisemitischer Vorbilder bedient. Moshe Zimmermann sieht in der jetzigen Antisemitismusdebatte den Hauptakt eines Stücks, dessen Ouvertüre die von Goldhagen ausgelöste Diskussion der 1990er Jahre war, um dann in einer etwas krausen Argumentation den Antizionismus deshalb für gescheitert zu betrachten, weil er den Antisemitismus offensichtlich nicht zu besiegen vermochte.
Daniel J. Goldhagen steuert übrigens selbst auch einen Text zu dem Buch bei, in dem er den Nahostkonflikt als "Katalysator" eines globalisierten Antisemitismus beschreibt, der "in vielen Variationen erhältlich (ist), für jeden, der internationalen Einfluß, die Globalisierung oder die Vereinigten Staaten nicht mag." In Bezug auf den so genannten Nahostkonflikt bekommt man in dem Buch auch die höflich gesagt üblichsten Konstruktionen mal wieder zu lesen: Dass Israel in einer "tragischen Logik" (Judt) durch seine Politik den Antisemitismus selbst zu verantworten habe oder dass das Feststellen und Bekämpfen von Antisemitismus doch nur politische Kritik an Israel unterdrücken soll, wie Judith Butler in ihrem Text befürchtet. Im Grunde bleibt es ein Geheimnis der Herausgeber, warum solchen Positionen in dem Band ein Podium geboten wird, nicht weil von Suhrkamp eine schärfere politische Abgrenzung einzufordern wäre, sondern weil es nicht einsichtig ist, in Buchform aufzubereiten, was ohnehin täglich auf allen Kanälen als hegemonialer Diskurs zu hören ist.

Das gilt auch für das Gerede von der 'Spirale der Gewalt', von "Terror und Gegenterror", wie bei Ulrich Beck zu lesen ist, der meint, erst dann von PalästinenserInnen Verständnis für das Verbrecherische an Selbstmordattentaten erwarten zu können, wenn auch die Israelis endlich "Mitgefühl" zeigen. Nur zwei Absätze später fordert er die "Schlüsselunterscheidung von Juden und Israelis" ein und legt damit offen, woran seine Argumentation krankt: genau die wird nämlich hinfällig, wenn einer mit einem Sprengstoffgürtel einen Linienbus in Haifa besteigt, um möglichst viele Juden zu töten. Und so sagt Michael Walzer völlig zu Recht, dass eine Kritik an der palästinensischen Politik das Beste ist, was "für das Wohlergehen der Palästinenser" getan werden kann, statt Israel auf die Anklagebank zu setzen, den einzigen demokratischen, die Menschenrechte respektierenden Staat in der Region, "einschließlich des entstehenden Staates Palästina. Und das hat Konsequenzen für die Art von Kompromissen, die man von Israel erwarten kann."

Stattdessen halten die Solidarischen hierzulande jeden palästinensischen Mord für gerechtfertigte Verteidigung, "fahren mit unwandelbarer Fürsorge und unbedingter Liebe fort, (die) Rebellion zu feiern", wie Alain Finkielkraut in seinem äußerst lesenswerten Text schreibt, in dem er in Europa einen "bußfertigen Richter" erkennt, "der seinen ganzen Stolz aus seiner Reue bezieht" und es den Juden in Israel nicht verzeihen mag, dank ihres Mangels an Argwohn sich selbst gegenüber so frei zu handeln wie sie es tun. Und gerade die Erinnerung an Auschwitz - "negative Begleitung des demokratischen Gewissens" - macht auch einen zentralen Unterschied zu den USA aus: "Für Europa ist die Erinnerung ein Abgrund, für Amerika eine Bestätigung."

Einer von vielen Aspekten für den Antiamerikanismus, der nie weit ist, wo es um Antisemitismus geht: "Wenn es um Juden und Amerikaner geht", schreibt Andrei S. Markovits, "berühren sich die Extreme", womit wir wieder bei der Linken angelangt wären. In dem Text von Haury, der den Antisemitismusstreit der deutschen Linken nachzuzeichnen versucht, findet sich treffend der völkische Charakter eines links daherkommenden Antizionismus aufgeschlüsselt, der das "geschlossen kämpfende, opferbereite Volk der Palästinenser" dem abstrakten imperialistischen "künstlichen Staat aus der Retorte" gegenüberstellt. Fragwürdig ist allerdings die Choreographie seiner Beschreibung des auch hierzulande wohlbekannten Streites, in der er Hardcore-AntiimperialistInnen und 'Antideutsche' zu zwei symmetrischen Polen stilisiert. Dies unterschätzt die Verbreitung der antiamerikanischen und antisemitischen Diskurse im linken Mainstream zwischen diesen Polen, oder - umgekehrt - verkennt die Einsamkeit der antideutschen Insulaner.

Der Zionismus sei zum zentralen "Lackmustest des europäischen Links-Seins" geworden, schreibt Markovits, wer sich "öffentlich und mit Nachdruck" zu Israel bekenne, werde heute leider nicht mehr als LinkeR wahrgenommen. Und eigentlich - so viel Lehre auch aus einer kontroversiellen Textkompilation - muss es doch genau umgekehrt sein.

Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? - Eine globale Debatte. Frankfurt a.M. 2004

Erschienen in Malmoe # 24 / 2004