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„… zeigen, wie tief und weit wir in
den Strukturen drinstecken...“
Positionierung im Gespräch mit Ingo
Pohn-Lauggas und Linda Supik
Bildpunkt:
Stuart Hall ist
sicherlich einer der wichtigsten Vermittler von Antonio Gramscis Denken
nicht nur für die Cultural Studies, sondern auch für die Debatten der
Neuen Linken seit 1968. Ingo, in Deinem Buch Hegemonie, Kunst und
Literatur (Wien 2013) widmest Du auch dieser Vermittlungsarbeit einige
Seiten. Es geht dabei unter anderem um die Frage nach dem Verhältnis
von prägenden sozialen Strukturen auf der einen und Möglichkeiten des
bewussten (manchmal auch politischen) Handelns auf der anderen Seite.
Worin, würdest du sagen, besteht Halls Verdienst in dieser Sache?
Ingo Pohn-Lauggas:
Stuart Halls Lebensweg hatte ja bekanntermaßen von
der Peripherie ins Zentrum geführt, vom kolonialen Kingston ins
„imperiale” Oxford. Diese prägende Erfahrung, also der Eintritt in die
britischen akademi- schen Hallen über ein Stipendium, teilt er mit
anderen Vertretern der Gründungsgeneration der Cultural Studies, den so
genannten Scholarship Boys. Die Bedeutung des Umstandes, dass diese
Generation die evidenten Klassenunterschiede vor allem als eine
„Ungleichheit der Kultur“ erfahren hat, kann in seiner Bedeutung gar
nicht hoch genug eingeschätzt werden für den neuen, politisierten
Umgang mit Kultur, der die frühen Cultural Studies prägte. Hall hatte
entscheidenden Anteil an dieser Weise, die „Klassenfrage“ neu zu
stellen – sowohl als Wissenschaftler als auch in der New Left.
Bildpunkt:
Die zentrale Frage dieser Bildpunkt-Ausgabe ist die nach
Bedingungen und Möglichkeiten von „Positionierungen“ (Hall), also nach
dem individuellen wie kollektiven Stellungnehmen und
Sich-In-Stellung-Bringen gegenüber den gesellschaftlichen
Gegebenheiten. Worauf kann sich eine solche Positionierung gründen?
Linda, in deinem Buch Dezentrierte Positionierung (Bielefeld 2005)
betonst du mit Hall die „gestaltende, produktive Rolle von
Repräsentation“. Welche Rolle spielt sie bei der Positionierung? Und
Ingo, du hältst Gramsci die Konzeption einer „nicht zu
schematisierende( n) Erfahrungsebene“ zugute. Was ist darunter zu
verstehen und böten sie eventuell eine Grundlage, um sich zu
positionieren?
Linda Supik:
Die Repräsentation, so lässt sich sagen, ist das, was die
anderen von meiner Positionierung wahrnehmen, das kann politisch und/
oder künstlerisch/ gestalterisch verstanden werden, es fällt im Grunde
in eins. Hall erklärt uns ja in Rückgriff auf die Arbeit von Gayatry
Spivak, dass Repräsentation immer Darstellen und Vertreten bedeuten
kann, wobei in der zweiten Bedeutungsvariante das politische „eine
Sache, Gruppe oder ein Interesse vertreten“ enthalten ist. D.h. aber
auch, die Repräsentation von etwas ist nie das Ding oder die Identität
selbst, wenn ich also Stellung beziehe und dem Ausdruck verleihe, dann
ist dieser Ausdruck meiner Stellung nicht meine Stellung selbst – da
bleibt immer eine Lücke, etwas Unkalkulierbares. Es ist diese Lücke, in
der noch mal etwas sehr Produktives passiert. Ich verstehe das auch so:
Ich kann von dem Punkt, auf dem ich stehe, nicht sprechen und zugleich
genau dort stehen, das wird einfach nie gelingen. Eine solche
Sichtweise kann entlasten, wenn es darum geht, die „genau richtige“
Repräsentation von etwas zu geben, denn die gibt’s eh nicht.
Ingo Pohn-Lauggas:
Bei dieser Erfahrungsebene, die sich auch im
qualitativen lebensweltlichen Wissen zeigt, setzt Gramscis Verfahren
der „lebendigen Philologie“ an. Sie ist nicht nur wichtiges Element
seiner „Philosophie der Praxis“, sondern macht ihn inhaltlich wie
methodologisch zu einem Kulturwissenschaftler avant la lettre. Der
Alltagsverstand ist in diese Erfahrungsebene eingebettet; ihm wohnen
„implizite theoretische Prämissen“ inne, wie es bei Gramsci heißt, und
es gilt den Alltagsverstand, mit dem die Menschen ihre
Existenzbedingungen bewältigen, kohärent und kritisch zu machen. Die
Bedeutung dieser Schärfung des persönlichen Stellungnehmens hat auch
der Ideologietheoretiker Stuart Hall gesehen und das als
„entscheidenden Teil jeder hegemonialen politischen Strategie“
bezeichnet.
Bildpunkt:
Linda, Du hast u.a. auch in Großbritannien geforscht. Wie
würdest Du vor diesem Hintergrund den Beitrag Halls für die
Rassismustheorie und die postcolonial studies skizzieren?
Linda Supik:
In Großbritannien ist die gesellschaftliche Lage in Sachen
Rassismus derzeit auch übel, was etwa die Pläne angeht, Einwanderung
selbst noch für EU-Bürger*innen – aus den armen Regionen der EU – zu
begrenzen. Jedoch haben ich und auch andere Beobachter*innen mit einem
„deutschen“ Blick auf Britannien immer wieder den Eindruck, dort ist
Rassismuskritik im Mainstream weitaus leichter artikulierbar, sie wird
eher verstanden. Und das verdankt Britannien sicherlich neben weiteren
postkolonialen Intellektuellen Stuart Hall, der in Britannien
mindestens eine Generation früher die Dinge beim Namen nennt, als dies
– inzwischen auch in den deutschsprachigen Ländern – geschieht. Hall
kam zwar erst als Student nach England, also als Bildungsausländer,
aber die Sprache war schon seine. Zudem hatte er sicher eine
Wegbereiterrolle. Aber über die queer-feministische- postkoloniale
Schiene gibt es inzwischen eben auch noch weiterreichende Kritiken, die
den Fokus schärfer auf die weiße, im Sinne von privilegierte, und durch
Rassismus nicht negativ betroffene Identität richten.
Bildpunkt:
Halls Konzeption von Identitätspolitiken findet ja im Rahmen
eines eindeutig linken Projekts statt. Es geht ihm immer darum, die
Beschäftigung mit sozialer Ungleichheit und jener mit kultureller
Differenz nicht gegeneinander auszuspielen, sondern miteinander zu
vermitteln. Mittlerweile, also rund zwanzig Jahre nach Halls
bahnbrechenden Aufsätzen zum Thema, scheint eine emanzipatorische
Bezugnahme auf Identität aber problematischer geworden: zum einen, wie
aus queer-feministischen Kreisen kritisiert wurde, weil deren
vereinheitlichender und zugleich ausgrenzender Charakter auch in
anti-essenzialistischen Konzepten (wie jenen Halls) nicht ganz
verschwindet. Und zum anderen, weil rechtsextreme Gruppen wie die
sogenannten „Identitären“ sich immer stärker auf diesen Begriff
beziehen. Wie seht ihr das?
Ingo Pohn-Lauggas:
Ich denke, dass eine emanzipatorische Bezugnahme auf
Identität unabhängig davon fragwürdig ist, wie anti- essenzialistisch
ich sie konzipiere. Halls theoretische Bedeutung dafür ist daher sicher
nicht geringer geworden. Ich habe manchmal den Eindruck, dass der
Abstand zwischen bestimmten queerfeministischen Diskussionen bzw.
Positionierungen und lebensweltlichen Wahrnehmungen von Identität recht
groß ist: Auf die Idee, dass Identität etwas Problematisches sein
könnte, muss ich jedenfalls die Studierenden in meinen Cultural
Studies-Lehrveranstaltungen überhaupt erst einmal bringen. Ich glaube
nicht, dass das postmoderne Auflösen aller Kategorien Halls Einsicht
weniger wahr macht, dass der notwendigerweise fiktionale Charakter
identitärer Prozesse ihre materielle oder politische Wirksamkeit nicht
untergräbt.
Linda Supik:
Es bleiben da schon weiter große Unterschiede, oder? Haben
die Identitären nicht ein Identitätsverständnis, das auf bestimmte
Infragestellungen allergisch reagiert? Jetzt lehne ich mich etwas
weiter aus dem Fenster, würde aber vermuten, dass Rechte von einer
Evidenz des „Weil wir wir sind“ ausgehen, von der linke Bewegungen
gelernt haben, sie nicht so stehen zu lassen, sondern beweglich zu
halten. Morgen gehören die Anderen vielleicht auch schon zu uns. Aber
das Konzept der Identität war zu keinem Zeitpunkt schon für sich
genommen ein Zauberwort oder eine Losung. Über Identität wird
gesprochen, wenn sie verhandelbar wird, insofern scheint es doch eher
etwas verzweifelt, wenn Rechte das Wort zu ihrem Namen machen.
Bildpunkt:
Hall war schließlich nicht nur Identitäts- und
Multikulturalismustheoretiker. Er hat sich etwa auch der Staatstheorie
und konkreten künstlerischen Arbeiten, insbesondere Filmen, intensiv
gewidmet. Relativ stark rezipiert wurde auch seine Kritik am
neoliberalen Kapitalismus, insbesondere an den Kontinuitäten zwischen
der Ära Thatcher und der Regierungszeit Tony Blairs. Was wären für euch
Anknüpfungspunkte an diese Kritik im Hinblick auf das kulturelle Feld?
Linda Supik:
Halls Beobachtungen zum aufkommenden Neoliberalismus in
den 1970ern und 80ern, für den die Namen Thatcher und Reagan ja stehen,
sollten wieder und neu gelesen werden. Ich fürchte, es würde uns
beklommen machen und zeigen, wie tief und weit wir in diesen Strukturen
inzwischen drinstecken.
Ingo Pohn-Lauggas:
Hier würde ich gramscianisch zugespitzt damit
antworten, dass Neoliberalismus und Thatcherismus selbst Teil des
kulturellen Feldes sind. Als wir Halls Schriften zu Neoliberalismus und
Globalisierung zusammengestellt haben, wurde mir einmal mehr klar, wie
essenziell der Hegemoniebegriff hier für ihn geblieben ist, bis zum
Schluss. Seine Texte zu Staat, Populismus und Globalisierung handeln
immer auch von Herrschaft und Ideologie, Repräsentation und
Partizipation – und hierbei geraten nicht nur die institutionellen
Akteure wie Staat und Parteien in den Blick, sondern eben auch die der
Zivilgesellschaft, Intellektuelle und das „genuin“ kulturelle Feld. Die
kulturellen Akteur/innen sollten sich also von vornherein als Teil
dieser hegemonialen Prozesse begreifen und dementsprechend agieren –
also in sie eingreifen.
Linda Supik forscht zu statistischen
Repräsentation(skultur)en und der
Politik der Quantifizierung am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI)
in Essen und lebt in Münster.
Ingo Pohn-Lauggas ist Literatur- und Kulturwissenschaftler an der
Universität Wien und hat 2014 den fünften Band der Ausgewählten
Schriften Stuart Halls im Argument-Verlag mit herausgegeben.
Das Gespräch wurde im November 2014
von Jens Kastner und Sophie
Schasiepen per E-Mail geführt und erschien in der Zeitschrift Bildpunkt.
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