Wie
streng dürfen wir sein?
Ob politische Radikalität und pädagogische Vermittlung ein Widerspruch sind, war die Fragestellung eines MALMOE-Gesprächs mit Nora Sternfeld und Heribert Schiedel.
Sternfeld: Der häufige Vorwurf, dass man zu streng
sei, hat zwei Aspekte: Erstens, dass man zu abstrakt sei, also nicht verständlich.
Das erinnert mich an die Unterscheidung "Fundi" und "Realo"
rund um die Grüne Partei. Diese Unterscheidung ist schon selbst interessegeleitet
- sie kommt von den "Realos", die davon ausgehen, dass radikale
Positionen unrealistisch sind und mit der Unterscheidung ausdrücken
wollen, dass eine andere Welt nicht möglich ist, und sich jede politische
Aussage im Rahmen des Bestehenden bewegen muss. Das ist falsch, v.a. wenn
es um Vermittlung geht. Nichts ist unvermittelbar. Schiedel: Den Vorwurf, zu streng zu sein, habe ich auch schon oft gehört. Dahinter steckt die populistische Forderung, "Leute dort abzuholen, wo sie stehen". Das ist Verblendung, denn der Alltagsverstand ist sicher nicht das Medium von "Aufklärung". Man muss versuchen, jenseits des Alltagsverstandes zu operieren. Ein relevanter Aspekt ist jedoch die Frage der Glaubwürdigkeit. Wenn, wie etwa in manchen Formen der "political correctness", der Eindruck entsteht, dass die verbale Radikalität nur eine Maske ist. Anti-Antisemitismus und Antirassismus erweist sich in der traditionellen Pädagogik oft als aufgesetzt, eben als Maske, wenn man nachfragt oder tiefer bohrt. Zeigefinger-Pädagogik ist jedenfalls nicht zielführend. Damit wird das Gegenüber in die Defensive und eine Schuld-Haltung gedrängt, was eine Abwehrhaltung provoziert. Wenn ich in Schulen gehe und zu diesen Themen spreche, bin ich mit Bezeichnungen wie "Rassist" oder "Antisemit" sehr vorsichtig, ich spreche eher von Verstrickungen unterschiedlichen Grades. Sich von diesen zu lösen, gelingt nicht immer und ist nicht leicht. Aber eine gewisse Rigidität in der Argumentation als Leitmotiv ist gegen einen linken Populismus sicher zu verteidigen. Sternfeld: Eine politische Vorstellung von Pädagogik muss davon ausgehen, wo wir in der Gesellschaft stehen. Und da geht es eben um Verstrickungen und um Machtverhältnisse, innerhalb derer wir nicht alle gleich sind. Wichtig ist, sich über die eigene Stellung innerhalb der Gesellschaft bewusst zu werden und sie bewusst zu machen, auch den Angesprochenen der Pädagogik.
Schiedel: Bei mir geht es auch um Lustgewinn - ich tu es gern, und es macht mir Spaß. Bei vielen Linken bekommt man den Eindruck, sie selbst verschwinden beim Reden und Schreiben, sie abstrahieren von Kategorien wie Lust und Spaß - der Typus Berufsrevolutionär, der heroische Idealismus. Wenn ich nur nach dem Erfolg meiner Tätigkeit gehen würde, müsste ich längst frustriert aufhören. Erfolg ist auch schwer messbar, Feedback die Ausnahme. Sternfeld: Ich arbeite in der Ausstellungsvermittlung mit Jugendlichen und Kindern und in der LehrerInnenfortbildung, und auch ich mache das wirklich sehr gern. Aber die Arbeit verschafft wenig symbolisches Kapital, und man gilt schnell als "oberlehrerInnenhaft". Der Vorwurf, man sei zu streng, erzählt auch davon, dass uns Vermittlung nicht mehr so interessiert in der Linken. In der Arbeiterbewegung, bis zu den 68ern war Pädagogik noch wichtig, was u.a. daran ablesbar ist, dass das Genre früher sehr männerlastig war. Heute beschäftigen sich vorwiegend Frauen damit, und das Feld der Pädagogik scheint keines mehr zu sein, wo noch etwas zu erreichen ist. Ich frage mich, warum ein Feld, das ein wichtiges politisches Kampffeld sein müsste, mit so wenig symolischem Kapital ausgestattet ist; warum scheint im Feld der Pädagogik nichts mehr zu erreichen zu sein? Warum sind poltische Kämpfe in der Galerie zu führen und nicht in der Schule? Schiedel: Man muss auch bedenken, dass bei allen Reformen die Schule eine autoritäre Anstalt ist und bleibt - das darf man nicht ausklammern. Wenn es darum geht, sensible Themen wie Drogenprävention, politische oder sexuelle Aufklärung zu vermitteln, laden LehrerInnen oft bewusst Externe wie mich ein, weil sie wissen, dass SchülerInnen dann viel aufnahmebereiter sind, der Widerstand fällt weg. Diese privilegierte Position gilt es, bewusst und produktiv zu nutzen. Gerade Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus hängen stark mit Herrschaft und Autoritarismus zusammen - da muss die Stellung der Schule in diesem System berücksichtigt werden. Sternfeld: Man ist in einem Herrschaftsapparat und muss
sich die Frage stellen, welche Funktion in diesem Apparat politische Bildung
einnimmt. Bestimmte Themen werden entpolitisiert abgehandelt, es wird
etwa nicht über einen möglichen politischen Kampf gegen Antisemitismus
gesprochen, über politischen Aktivismus darf man nicht reden. Eher
darüber, wie schlimm Einstellungen wie Antisemitismus sind, und dass
das einmal in der Geschichte ganz besonders schlimm war - dann gibt es
vielleicht noch eine Schweigeminute, das lieben LehrerInnen. Die Frage,
welche politischen Konsequenzen das heute hat, wird ausgeblendet.
Schiedel: In den höheren Schulen hat sich die Zusammensetzung
kaum verändert, das sitzen z.T. 100% Mehrheits-ÖsterreicherInnen,
während in den Berufsbildenden Schulen der MigrantInnenanteil wesentlich
höher ist. Das hat Merkmale von Apartheid.
Sternfeld: In der Vermittlungsarbeit zur Wehrmachtsausstellung
sind solche Fragen immer wieder aufgetaucht. Die Vorstellung, mit Hilfe
einer "Holocaust-Education" zur Toleranz zu erziehen, taucht
immer wieder auf. Nichts ist abstrakter als das. Konkret ist dagegen,
wo lebe ich jetzt, worüber wird gesprochen und worüber nicht,
und was geht mich das an. Die politische Frage ist so viel weniger abstrakt
als die entpolitisierte Form der Rhetorik von Einfühlung und Toleranz,
die in gegenwärtigen pädagogischen Konzepten vorherrscht. Eine
reflexive Auseinandersetzung mit der Schwierigkeit, darüber zu sprechen,
der Tatsache, dass wir in einer Tätergesellschaft leben, kann viel
dazu beitragen. Schiedel: Was ich an der Holocaust-Pädagogik kritisiere, ist, dass Jugendliche angehalten werden, sich mit den Opfern zu identifizieren, statt sich mit den Tätern zu beschäftigen - z.B. durch das Lesen des Tagebuch der Anne Frank anstatt etwa des "Wannsee-Protokolls", oder in seiner schlimmsten Ausprägung, in Form des Projekts "Letter to the stars" (Siehe MALMOE 20-21, Anm.d.R.). Der zweite Irrweg ist zu glauben, durch Aufklärung über das Objekt von Rassismus oder Antisemitismus diesen bekämpfen zu können. Das ist selbst Bestandteil von Rationalisierung von Verfolgung. Die Pädagogik ist angehalten, sich mit dem Selbst, dem Subjekt des Rassismus und Antisemitismus auseinander zu setzen. Sternfeld: und mit der Frage, welche Konsequenzen hier und jetzt zu ziehen sind. Von einem Bewusstsein über die Situation auszugehen und die Frage nach gesellschaftlicher Veränderung einzuführen. Schiedel: Man muss allerdings die Grenzen der Pädagogik unter herrschaftlichen Bedingungen sehen: In ideologietheoretischer Betrachtung ist Rassismus ein Effekt bei der Einordnung in Herrschaftsstrukturen. Beim Verdrängen des gesellschaftlich auferlegten Verzichts ist Rassismus sehr hilfreich: Er erlaubt, die Unterordnung als Machtzuwachs zu erleben. Sternfeld: Ich finde Psychologie nur begrenzt hilfreich, vor allem um Antisemitismus zu erklären. Schiedel: Aber ohne Psychologie kommt man nicht aus. Mit
anderen Ansätzen - etwa historischen oder polit-ökonomischen
- bin ich an die Grenzen des Verstehens geraten, um schließlich
bei der Psychoanalyse und der Kategorie der verinnerlichten Herrschaft
zu landen. Wenn ich auf den Zusammenhang von Rassismus und Herrschaft
hinweise, gerade in der Schule, appelliere ich an die Jugendlichen, sich
diesen Verzicht und diese Unterordnung bewusst zu machen. Je mehr sie
das tun, desto mehr sind sie davor gefeit, andere zu brauchen, an denen
sie sich austoben. Sternfeld: und wie unsere Gesellschaft mit ihm funktioniert. Heraus aus dem psychologischen ins gesellschaftliche Feld, das ist mir bei Pädagogik wichtig. Die Frage stellen: Wie müsste sich die Gesellschaft verändern - das entgeht in gewisser Weise auch dem Zeigefinger, dann steckt das Böse nicht immer im Einzelnen. Wir sind alle in einer Situation, in der die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Schiedel: Richtig, auch ich halte den Verweis auf die Strukturen für zentral; aber es gibt bei aller Determiniertheit auch eine persönliche Verantwortung für die eigene politische Einstellung, das sollte man nicht ganz aus den Augen verlieren. Sternfeld: Ein Beispiel zum Abschluss. In einem Fragebogen an BesucherInnen der Wehrmachtsausstellung wurde gefragt, warum sie gekommen sind. Die Antwort war: Erstens, weil es keinen 3. Weltkrieg geben darf. Weil Rassismus und Faschismus schrecklich sind. Und die Juden überall ihre Finger im Spiel haben. Das zeigt, dass es nicht darum gehen kann, die Leute dort abzuholen, wo sie stehen, sondern sie davon freizusetzen.
Sternfeld: Auch hier: Nicht Abstriche bei der Radikalität machen, sondern die Schritte offenlegen, wie man zu den eigenen Schlüssen kommt. Mein Anspruch an einen pädagogischen Text wäre also Radikalität und Klarheit. Schiedel: Ich halte es für ein Problem, sich selbst aus der Vermittlung herauszuhalten. Der pädagogische Wert eines Textes bemisst sich für mich auch am Vorhandensein des Ichs der Autorin bzw. des Autors. Diese Forderung ist vor allem der feministischen Intervention zu verdanken. Sternfeld: Um es in einen Slogan zu fassen: Man muss nicht unverständlich sein, um radikal zu sein, und man muss nicht unradikal sein, um verständlich zu sein.
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