Lehre

Der Fisch stinkt vom Kopf

Italien ist ein Land, dessen blutige jüngere Geschichte ein Paradies für Verschwörungstheorien ist. Und Ministerpräsident Silvio Berlusconi ist der aktuelle Beleg dafür, dass in Italien nach wie vor und ungebrochen die “unsichtbaren” Mächte weitaus bedeutender sind als jene, die in der Verfassung stehen. Er ist aber auch der Beleg dafür, dass es irrelevant ist, ob diese These tatsächlich stimmt.

Anfang März diesen Jahres werden anlässlich einer Routinekontrolle im Regionalzug Rom – Florenz bei einem Schusswechsel ein Bahnpolizeibeamter und ein Reisender getötet, der sich als gesuchtes Mitglied der Roten Brigaden entpuppt. Unterschiedlichste politische Kräfte in Italien reagieren auf dieses Drama schnell und vorhersehbar, nach genau festgelegten Mustern: Die linken Parteien bringen übereifrig ihre Distanz “zum Terrorismus” zum Ausdruck, die Gewerkschaften rufen für alle Fälle einmal einen 15minütigen Streik aus, und Berlusconis Rechte erklärt die ganze Toskana zum Nährboden des Terrorismus und die “alternativen” Bewegungen – von den Noglobals zu den Disobbedienti – zu dessen Alliierten.

Genua 2001

Diese Muster sind keineswegs neu, und wer die dunklen Kapitel der italienischen Geschichte kennt – dunkel im Sinne von ungeklärt und im Sinne von beklemmend – wundert sich auch nicht darüber, wie eingespielt und prompt sie sich in allen politischen Lagern reaktivieren lassen. Nicht wesentlich anders war die Rollenverteilung, als 1978 die Entführung Aldo Moros bekannt wurde.

Die Assoziationen zu den 1970er Jahren, zu den “Jahren des Bleis”, der “Strategie der Spannung”, antikommunistischen Geheimplänen und rechtsextremen Geheimbünden, werden aber nicht erst mit dem Auftauchen “Neo-BR”, wie diese Generation von RotbrigadistInnen schon genannt wird, wach, sondern waren schon angesichts der Ereignisse von Genua im Sommer 2001 und den entsprechenden Enthüllungen der letzten Monate (siehe MALMOE 11 und hier) alles andere als verwegen:

In den Tagen vor dem Genueser G8-Gipfel werden etwa AktivistInnen bedroht und Briefbomben explodieren, kurz nach dem Gipfel geht in Venedig eine Bombe hoch und zerstört Teile des Gerichtsgebäudes; während harmlose, familiäre und bunte Demonstrationszüge gegen den G8-Gipfel von entfesselten Polizeieinheiten mit ungeahnter Brutalität und Gewalt angegriffen werden, zerlegen kleine Grüppchen von schwarzgekleideten Vermummten in aller Seelenruhe ganze Straßenzüge, ohne dass irgendwer einschreitet; bei den nächtlichen Prügelorgien in den Kasernen, wo die grundlos Verhafteten hingebracht und tagelang der elementarsten Rechte beraubt werden, tauchen plötzlich ranghohe Offiziere auf und unterhalten sich mit den ebenfalls anwesenden und das Geschehen wohlwollend verfolgenden Politikern der Alleanza Nazionale, Finis Neofaschisten; eineinhalb Jahre später wollen sich “kleine” Polizisten, die an der Erstürmung der Diaz-Schule mitgewirkt haben, nicht von ranghohen “Teilen der Exekutive”, die sie für “nicht-repräsentativ” halten, opfern lassen, um Befehlsketten und Interessen, die undurchschaubar und dubios sind, zu decken.

Bereits während der Proteste von Genua wurde immer wieder der Verdacht geäußert, dass die Konstruktion eines zerstörerischen und gewalttätigen “Schwarzen Blocks” nicht nur eine gute Gelegenheit darstellte, das brutale Vorgehen der Polizei zu rechtfertigen, sondern dass es genug Hinweise darauf gäbe, dass Polizisten selbst und mit ihnen verbündete Neofaschisten an den Ausschreitungen beteiligt waren.

Strategie der Spannung

Vieles deutete und deutet in Italien auf eine Wiederbelebung der sogenannten “Strategie der Spannung” hin. Schon nach Genua hatten Belusconi und Bossi von einer Auferstehung des linksradikalen bewaffneten Kampfes gesprochen, um die Antiglobalisierungsbewegung zu diskreditieren, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 scheute sich Berlusconi auch nicht, eine Allianz der “Feinde des Westens” zu konstruieren.

Der Begriff “Strategie der Spannung” bezieht sich auf eine Periode in der jüngeren Geschichte Italiens, die – je nach Datierung – etwa 12 Jahre dauerte und in der durch die gezielte Forcierung terroristischer Aktivitäten ein Klima der Angst, der “Spannung” eben, erzeugt werden sollte, um damit Gewerkschaften, Parteien, PolitikerInnen und Bevölkerung einzuschüchtern und den Boden aufzubereiten für die Errrichtung eines autoritären Regimes, das die Institutionen, die die Lage im Lande offensichtlich nicht mehr unter Kontrolle hatten, ersetzen sollte.

Das führte dazu, dass Italien das Land mit den mit Abstand am meisten politisch motivierten Attentaten ist: Zwischen 1969 und 1980 kam es zu 12 690 Anschlägen, bei denen 362 Menschen gestorben sind und 4 500 verletzt wurden. Ein Großteil dieser Anschläge ist bis heute nicht wirklich aufgeklärt, es handelt sich aber zum Teil um offizielle Staatsgeheimnisse, jedenfalls hatten immer Neofaschisten und Geheimdienste, mithin der Staat, seine Finger im Spiel. “Sappiamo chi è STATO” ist ein verbreitetes Wortspiel in Italien, um das Unfassbare anzuklagen: “Wir wissen, wer es war”, so die wörtliche Übersetzung, aber “Stato” heißt auch Staat…

Vier rechtsextreme Putschversuche mit Beteiligung des Militärs gab es allein in dieser Zeit, und das sind nur jene, von denen die Öffentlichkeit erfahren hat. Berühmt geworden ist Pier Paolo Pasolinis emotionaler Appell aus dem Jahre 1974: “Ich kenne alle Namen, und ich weiß Bescheid über die Tatsachen. Aber ich habe keine Beweise.”

“Neo-Terrorismus”

Wenn jetzt eine “Neo-Brigadistin” in Haft ist und sich zur politischen Gefangenen erklärt, ruft das natürlich auch die “Terrorismus-ExpertInnen” auf den Plan, die es in Italien klarerweise gibt wie Sand in Bibione. Etwas wirr seien sie, die “Neos”, so der allgemeine Tenor, natürlich längst nicht so stark wie damals, in den 70ern, sie hätten jetzt auch kein klares Ziel, keinen roten Faden und natürlich, Herr Berlusconi, sie verfügen auch über keine Verankerung im linken Mainstream. Und dann kramen sie die alten Geschichten heraus, und selbstverständlich auch jene über den größten Coup der Brigate Rosse, die Entführung Aldo Moros. Der größte Dienst, den die BR ihren Feinden getan haben. Wenn sie es denn selbst waren.

Aldo Moro war Vorsitzender der italienischen Dauerregierungspartei Democrazia Cristiana und Symbolfigur für den “Compromesso Storico”, den historischen Kompromiss, der die Kommunisten, die Mitte der 1970er Jahre mit ihren Verbündeten “bedenklich” nahe an die 50%-Marke gekommen waren, in die nationale Regierung einbinden sollte, um sie zu “entschärfen”. Auch die Kommunistische Partei Italiens (PCI) hatte nach der Ermordnung von Salvador Allende, dem demokratisch gewählten Präsidenten Chiles, einen “blocco storico” in Gramscis Sinne angestrebt.

Moro machte sich mit diesem Vorhaben aber weder beim rechten Flügel seiner Partei, noch bei der CIA Freunde. Als er sich am 16. März 1978 auf dem Weg ins Parlament befindet, wo unter Ministerpräsident Andreotti erstmals eine Regierung gestützt von einer Koalition aus DC und PCI angelobt werden soll, wird er von einem Kommando der Roten Brigaden entführt und in ein geheimes “Volksgefängnis” gebracht, wo ihm der “Prozess” gemacht wird. Moro wird in der Folge 55 Tage an einem unbekannten Ort festgehalten und schlussendlich ermordet. Seine Leiche findet sich im Kofferraum eines Fahrzeuges, das bezeichnenderweise exakt auf halber Distanz zwischen den Parteizentralen von DC und Kommunisten abgestellt war.

Die Roten Brigaden wandten sich mit dieser Aktion zum einen gegen die DC selbst, zum anderen aber auch gegen die von Aldo Moro betriebene Politik der “nationalen Einheit”; ein Anliegen, das am nationalen Schulterschluss “gegen den Terrorismus” scheiterte: Das Parlament verzichtete unter dem Eindruck der Entführung auf jegliche Debatte und wählte Guilio Andreotti zum Ministerpräsidenten. Der Schriftsteller Leonardo Sciascia schrieb damals: “Irgendwie hat sich der Schwerpunkt verlagert: vom Abgeordneten Moro, der nichtsahnend sein Haus verlassen hatte, zur Abgeordnetenkammer, wo seine Abwesenheit in kürzester Zeit bewirken sollte, was seiner Präsenz nur schwer gelungen wäre, nämlich die Eintracht, mit der die neue Regierung angenommen wurde."

Für die Chronologie der 50 Tage der Entführung sind weniger die de facto halbherzigen und durchwegs erfolglosen Ermittlungsbemühungen seitens des Staatsapparates von Relevanz, sondern vielmehr 2 “Textsorten", anhand derer sie aufgerollt werden können: zum einen die Briefe, die Moro an seine Parteikollegen und an seine Familie schreiben durfte und denen aus kalter politischer Berechnung von Moros christdemokratischen Parteifreunden die Authentizität abgesprochen wurde, zum anderen die “Comunicati” der BR. Die DC, und mit ihr die gesamte Regierung und zunächst auch noch größte Teile der öffentlichen Meinung, stellte sich auf die Position, dass es mit Terroristen keine Verhandlungen geben und dass der Staat sich nicht erpressen lassen dürfe, Härte zu zeigen habe – und koste dies ein Menschenleben: “Kein Mensch ist für das Leben eines Nationalstaates unentbehrlich”, ließ ein US-Berater den damaligen italienischen Innenminister wissen. Und Sciascia schrieb schon 1978: “Das Drama der Entführung wurde durch ein anderes ersetzt, durch das Drama, dass die Abwesenheit des Abgeordneten Moro vom Parlament, vom politischen Leben, für bestimmte Kreise produktiver war als seine Anwesenheit.”

Der Fall Aldo Moro

Der “Caso Moro” ist überreich an Ansatzpunkten für Verschwörungstheorien aller Art: Belegt ist zum Beispiel eine spiritistische Sitzung zur Eruierung des Versteckes, an der auch der jetzige EU-Kommissionspräsident Prodi teilgenommen hat, und ein vermutlich von den italienischen Geheimdiensten gefälschtes Kommuniqué, das vorzeitig Moros Tod bekannt gab, vermutlich, um den öffentlichen Umgang mit dieser Nachricht auszuloten. Und nicht zuletzt eine endlose Serie von Ermittlungspannen, die sich derart systematisch durch die ganze “Affaire”, wie Sciascia sie nannte, ziehen, dass man nur noch schwer an einen Zufall glauben kann.

In den Briefen aus dem “Volksgefängnis” hat Aldo Moro seine Partei-”Freunde” offensichtlich gewarnt: “Es besteht die Gefahr, dass ich über bestimmte Dinge zu sprechen gezwungen werde, was unerfreulich gefährlich sein könnte.” Als später von der Polizei ein Versteck der BR ausgehoben und umfangreiches Material beschlagnahmt wurde, versuchten die Brigadisti – erfolglos –, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass Teile der Unterlagen fehlten, Teile, deren Brisanz sie selbst nicht erahnen konnten: Es sind Moros Ausführungen zu “Gladio”.

Gladio war eine geheime und illegale Truppe der NATO, die gemeinsam mit den Geheimdiensten aufgebaut wurde, um im Falle einer sowjetischen Invasion aktiv zu werden, doch vor allem auch um deren “Komplizen” im Westen – Kommunisten und Linke im weitesten Sinne – zu bekämpfen. Es gibt auch Hinweise darauf, daß sie im Falle “innerer Unruhen” zum Einsatz gekommen wäre und daß sie zu einem guten Teil aus Alt- und Neofaschisten bestand, die auch Zwischenfälle und Attentate verübten, um sie der Linken anzulasten.

Erst 1990, “überraschenderweise” genau zu dem Zeitpunkt, als der politische Wirbel um Gladio am größten ist, taucht Moros belastendes Material bei Renovierungsarbeiten im selben Haus, wo es 12 Jahre gelegen hatte, wieder auf. Und schließlich wurden am Entführungsort Patronenhülsen gefunden, wie sie nur von Gladio-Einheiten benutzt wurden.

Als sicher gilt auch, dass die Roten Brigaden, “die bewaffnete KP”, von Anfang an von V-Leuten “des Klassenfeindes” durchsetzt war. Es gibt Hinweise darauf, dass die Entführer und “Henker” Aldo Moros nicht nur im Sinne ihrer Feinde handelten, sondern überhaupt nur deren Marionetten waren. Eines der Indizien hierfür könnte die Tatsache sein, dass ausgerechnet Moro entführt wurde, der nun wirklich kein Paradebeispiel für das repressive “Herz des Staates” war, das die Brigaden doch treffen wollte. Warum haben sie nicht Andreotti genommen?

Die Moro-Entführung bedeutete das Ende der ursprünglichen Konzeption der Roten Brigaden. Und – verlieren wir die Strategie der Spannung nicht aus den Augen – eine beispiellose Repressionswelle gegen Linke: Es wurde gegen Zigtausende ermittelt und Haftbefehle ausgestellt (unter ihnen Toni Negri), 40.000 Prozesse geführt und 15.000 Urteile gefällt, vor allem aber wurden repressive Sondergesetze erlassen, die zum Teil bis heute gelten. Auf etliche der nach Genua 2001 Verfolgten wurden genau diese Verordnungen angewandt.

Und schließlich klebt auch an diesen Geschichten der “Verwesungsgeruch aller Verschwörungstheorien” (Th. König), sogar in Italien: Wo so vieles unklar ist und im Dunkeln liegt, wo man so wenig erfährt und zu fassen bekommt, da müssen doch “die Juden” ihre Finger im Spiel haben. Es gibt ernsthaft die These, wonach Moro die ganze Zeit in der israelischen Botschaft festgehalten und schließlich vom Mossad ermordet worden war, denn dort konnte die Polizei ja nicht hin. (Und der Hinweis, dass just deutsche Autoren von dieser These nicht lassen wollen, lässt sich nur schwer verkneifen.)

Der Schatten der P2

Völlig frei von Spekulationen, dafür umso beklemmender ist der Umstand, dass “bis heute über dem ganzen Fall der Schatten der Loge P2 schwebt”, wie es in einem parlamentarischen Untersuchungsbericht heißt: Belegt ist auf jeden Fall, dass die ranghöchsten Ermittler während Moros Entführung auf den später aufgetauchten Mitgliederlisten dieses Geheimbundes stehen. Die Loge wurde Ende der 1960er Jahre von Licio Gelli gegründet, einem Mann mit langer rechtsextremer Geschichte, der heute als geachtetes Mitglied der Gesellschaft seinen beschaulichen Lebensabend in der Toskana genießt. Die Geheimloge Propaganda 2 hatte zum Ziel, zur Installierung eines autoritären Regimes in Italien einen schrittweisen, “sanften”, so genannten “weißen” Putsch zu organisieren, indem sie die wichtigsten Köpfe aus Politik, Heer, Wirtschaft und Medien versammelte und so alle Schlüsselstellen des Staates infiltrierte. In den Mitgliederlisten der Loge, die durch Zufall im Rahmen einer Steuerfahndung entdeckt wurden, finden sich – abgesehen von den wichtigsten Köpfen der süditalienischen Mafia – Industrielle, Bankiers, Generäle, Chefredakteure und Parlamentarier. Es ist davon auszugehen, dass viele von ihnen durch Gelli, der seit dem 2. Weltkrieg über ausgezeichnete Kontakte zu den italienischen und amerikanischen Geheimdiensten verfügte, mittels Erpressung zur Teilnahme an der Verschwörung gezwungen wurden.

P2 ist der Stoff, aus dem Verschwörungsthriller sind. Sie war entstanden als geheimer Bund innerhalb der italienischen Freimaurer-“Szene”, die an sich in einer liberalen Tradition steht. Gelli war ursprünglich mit organisatorischen Fragen betraut, leitete aber rasch eine Politisierung ein und macht aus seinen Plänen – aus heutiger Sicht – keinen Hehl: “Wir haben die Philosophie beiseite gelegt”, schreibt er in einer Aussendung, “weil wir es für nötig halten, uns mit konkreten Argumenten zu befassen, die für das gesamte Leben der Nation von Interesse sind." Nicht alle Freimaurer goutierten Gellis Treiben, und er wird schließlich aus ihren Reihen ausgeschlossen, doch es ist davon auszugehen – und jetzt wird es wirklich filmreif –, dass dieser Ausschluss nur eine Farce war, um noch verdeckter, noch geheimer arbeiten zu können: “Es handelte sich um eine regelrechte Geheimgesellschaft, und zwar eine Geheimgesellschaft nicht nur gegenüber der bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern auch gegenüber der Organisation, aus der sie hervorgegangen war”, stellt der parlamentarische Untersuchungsbericht fest.

P2 und Geheimdienste arbeiteten häufig zusammen, auf politischer Ebene war man sich in vielen Bereichen einig, in den Ermittlungen zu den verheerenden rechtsextremen Anschlägen tauchen immer beide auf, und dass neofaschistische Terroristen nicht nur von staatlichen Institutionen gedeckt, sondern auch von P2 (finanziell) unterstützt wurden, ist belegt; P2 und die Geheimdienste waren Partner in einem einheitlichen politischen Projekt: "Wir können uns eine Pyramide denken, deren Spitze Gelli bildete. Will man jedoch dieser Pyramide eine Bedeutung geben, so muss man einräumen, dass über ihr eine weitere, gewissermaßen auf den Kopf gestellte Pyramide steht, deren untere Spitze nun Licio Gelli ist. Welche Kräfte in der übergeordneten Struktur am Werk waren, das wissen wir noch nicht einmal ansatzweise.”

In den schließlich entdeckten Unterlagen der P2-Loge finden sich ein “Plan der demokratischen Wiedergeburt” und ein “Memorandum”, in denen die politischen Absichten von P2 detailliert ausgeführt werden.

Umsetzung der Putsch-Pläne

In den strategischen Abschnitten des “Planes” finden sich auch Ausführungen über die Wichtigkeit der Kontrolle über das Privatfernsehen. Licio Gelli brüstete sich noch Anfang der 1990er Jahre damit, dass dieser Teil des Planes schon erfolgreich umgesetzt ist: P2-Mitglied Nummer 1 816 ist nämlich Silvio Berlusconi. Dass sein Medienimperium ausgerechnet in den 1980er Jahren groß wurde, ist nicht nur der “offiziellen” politischen Protektion, ihn begünstigenden Gesetzen und den Bestechungen zu verdanken, deren juristische Spätfolgen ja auch gegenwärtig täglich nachzulesen sind, sondern wohl auch seiner Funktion in den Plänen von P2. Die wirtschaftliche Grundlage für sein Imperium bildeten gigantische Kredite, die ihm die “Banca Nazionale del Lavoro" gewährt hatte. Zu jenem Zeitpunkt waren deren Generaldirektor, 4 Vorstandsmitglieder, sowie weitere 5 Mitglieder der oberen Leitungsebene dieser wichtigsten italienischen Bank aktive Mitglieder von P2.

Die Kette der entsprechenden, atemberaubenden Zufälle ist damit aber noch nicht zu Ende: Als Berlusconi in die (offizielle) Politik eintritt und seine Partei “Forza Italia” in Form von lokalen “Clubs" organisiert, ist die Überlegung, mit einem “anti”-politischen Image die politikverdrossenen WählerInnen zu blenden, nur eine mögliche Erklärung für die Wahl dieser Organisationsform. Weitaus bemerkenswerter ist, dass Gellis “Plan der Wiedergeburt” genau diese Form der politischen Organisierung vorschlug.

Am 26. Jänner 1994 hält Berlusconi eine Fernsehrede, in der er sein Engagement mit einer “tiefgreifenden Krise der moralischen Grundwerte und des Parteiensystems” begründet, mit einem “sich ausbreitenden Anarchismus” und “Ermüdungserscheinungen der staatlichen Institutionen”, sowie mit dem Kampf gegen eine Kommunistische Partei, die “hinter einer Maske aus Wohlanständigkeit ihr wahres tschechoslowakisches oder ungarisches Gesicht verbirgt”. Diese Wortwahl und noch eine ganze Reihe weiterer Formulierungen sind 1:1 aus den Papieren von P2 übernommen, Berlusconi hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, die 20 Jahre alten Texte wesentlich umzuschreiben.

Die Geheimloge P2 ist offiziell – per eigens erlassenem Gesetz – aufgelöst, und es wundert natürlich nicht, dass, wer über ihr Fortbestehen spekuliert, sich nicht besonders weit aus dem Fenster lehnt. Mit Silvio Berlusconi und seinen Koalitionspartnern ist ja nicht nur eine Clique an der Macht, deren personelle Überschneidungen zu rechtsextremen Geheimbünden und neofaschistischem Terrorismus ohne Zahl sind, sondern auch eine Regierung, die zum Teil exakt das umsetzt, was der “Plan der demokratischen Wiedergeburt” vorsah.

Rechtsverschiebungen

Das eigentlich Bedrohliche an dieser langen Geschichte ist aber nicht die Behauptung, entsprechende Strukturen würden fortbestehen, sondern die Tatsache, dass vieles, worauf die Strategie der Spannung, Staatsterrorismus, Gladio und P2 abzielten, tatsächlich auch verwirklicht wurde, obwohl die skandalträchtigen Konnexe aufgedeckt wurden. So muss die Antwort auf die Frage, warum viele Putschpläne nicht umgesetzt wurden, schlicht lauten: Weil es nicht nötig war. Sogar die Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden brachte für die reaktionären Kräfte das erwünschte Ergebnis: Die politische Achse des Landes wurde weit nach rechts verschoben und die Kommunisten nachhaltig wieder aus der Nähe der Regierungsbeteiligung gedrängt. Gladio hätte das nicht besser gekonnt.

Die permanenten Attacken gegen die Justiz und ihre ExponentInnen, welche auch hierzulande die Meldungen und kritischen Analysen zu Silvio Berlusconi dominieren, gehen in ihrer Bedeutung weit über die offensichtliche Erkenntnis hinaus, dass der Mann eben seine Haut retten will. Judikative und Exekutive sind in Italien politische Akteure, das ist eine Tatsache. Polizeiliche und gerichtliche Aktivitäten haben nirgendwo sonst so zentrale politische Erschütterungen zur Folge gehabt wie in Italien, die Schmiergeldaufdeckungen von Tangentopoli, die immerhin ein ganzes System zu Fall (und Berlusconi, Fini und Bossi an die Macht) gebracht haben, sind das herausragendste Beispiel dafür. Der Umstand, dass der “Starermittler” Di Pietro später selbst kandidierte (und dass eine Gesellschaft überhaupt einen Staatsanwalt zum Star machen kann!), sowie dass es im wesentlichen der Justiz überlassen wurde, die lange “Affärengeschichte” Italiens aufzuarbeiten, zeigt, wie absurd es ist, von einer “politikfernen” Justiz überhaupt zu sprechen.

Der Philosoph Paolo Flores d'Arcais deckte den durchaus erfolgreichen und wirksamen Taschenspielertrick Berlusconis auf – nach der Aufdeckung der Korruption der politischen Klasse des Landes, in deren Gefolge sich u. a. die jahrzehntelange Regierungspartei Democrazia Christiana auflöste – zuerst der größtenteils unbescholtenen Linken das neue und attraktive “antipolitische” Terrain wegzuschnappen und in Form seines Populismus und “üppigen Peronismus” neu zu besetzen, um dann die in Italien aus verständlichen Gründen fest verankerte herkömmliche Deutung von Antipolitik im Sinne von Legalität in die Sphäre des “Alten” zu verweisen, um in einem dritten Schritt die ihn verfolgende Justiz – als Sinnbild der Legalität – mit der Diktion von “Politisierung” zu denunzieren.

Dass einzelne Prügelpolizisten von Genua, die zu begreifen beginnen, dass sie über ihre eigene Schuld hinaus Figuren eines größeren “Spiels” sind, nun fordern, dass die Ermittlungen gegen sie selbst nicht nur strafrechtlich, sondern auch parlamentarisch, politisch geführt werden sollen, ist aus all diesen Zusammenhängen nachvollziehbar. Vieles ist – wieder einmal – mysteriös. Verschwörungstheorien taugen aber nicht zur politischen Analyse. Es ist in Italien auch nicht nötig, über Verschwörungen zu sinnieren und die Schlussfolgerungen in immer abenteuerlichere Gefilde zu schrauben, im Gegenteil, es reicht, wie Pasolini schon 1974 schrieb, “auch entfernte Tatsachen zu einem Bild zusammenzufügen, das ein kohärentes politisches Szenario ergibt, das Logik wieder herstellt, wo Willkürlichkeit, Wahnsinn und Mysterien zu regieren scheinen. Denn die Rekonstruktion der Wahrheit über das, was in Italien seit 1968 geschehen ist, ist gar nicht so schwer…”

(Eine Literaturliste zu den verwendeten Zitaten und useful links gibt es auf Anfrage beim Autor.)

 

Erschienen in Malmoe #12 / 2003