Lehre

VOM NIEDERGANG EINES ‚KOLLEKTIVEN INTELLEKTUELLEN‘

Der Journalist und Politiker Lucio Magri erzählt in seinen Lebenserinnerung die Geschichte der italienischen Linken: die der KPI und die der undogmatischen ‚Ketzer‘

Mit dem Tod von Luigi Pintor starb, so Rossana Rossanda 2003, „ein großer Teil meiner Generation“. Die italienische Intellektuelle schrieb dies in der unabhängigen kommunistischen Tageszeitung il manifesto, deren erste Ausgabe sie im Juni 1969 gemeinsam mit Lucio Magri koordinierte. Pintor, Rossanda und Magri sind die prominentesten Vertreter der manifesto-Gruppe, die den vergeblichen Versuch unternommen hatte, die behäbige Kommunistische Partei Italiens (KPI) für die neuen „68er“-Bewegungen zu öffnen und zu einem kritischen Umgang mit der Sowjetunion und vor allem mit den Ereignissen von Prag zu bewegen, wo die Truppen des Warschauer Paktes einmarschiert waren. In den Fabriken Norditaliens flammten neue Arbeiter_innenkämpfe auf, und immer mehr, vor allem den jüngeren Leuten schien die KPI nicht mehr der einzige Ort zu sein, um sich mit (radikaler) linker Politik zu engagieren. Die manifesto-Gruppe wollte zwischen der traditionellen Linken und den Bewegungen vermitteln, doch die KPI reagierte mit Parteiausschlüssen und trug somit unfreiwillig zur Nachhaltigkeit einer undogmatischen linken Bewegung außerhalb ihrer Strukturen bei, die – wenigstens als Zeitung – bis heute besteht und eine wichtige linke Stimme in Italien ist. 

Dass die KPI um 1968 keinen Dissens in ihrem Inneren duldete, unterschied sie weniger von ihren Schwesterparteien andernorts als die unglaubliche Stärke, die sie erlangt hatte und die keine andere KP des Westens je erreichte. Und das ist im Grunde auch die Hauptfrage, die sich durch die politischen Erinnerungen Lucio Magris (1932-2011) zieht: Wie konnte es kommen, dass sich ausgerechnet im Sehnsuchtsland vieler Linker eine der einflussreichsten marxistischen Organisationen Westeuropas derart selbst demontierte? In seiner möglichen Geschichte der KPI versucht Magri, die wesentlichen Wendepunkte, die zum „Ende der KPI“ 1991 führten, zu benennen und ausführlich zu analysieren. 

Der „italienische Weg zum Sozialismus“ orientierte sich auch an den Schriften des KP-Mitbegründers Antonio Gramsci, der im Staat bekanntlich nur einen „vorgeschobenen Schützengraben“ sah, „hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten“ befindet, was den Kampf um Hegemonie in der Zivilgesellschaft so wichtig macht. Die Partei ist bei Gramsci „ein komplexes Gesellschaftselement, in welchem ein Kollektivwille konkret zu werden beginnt“, und die Möglichkeit der Ausgestaltung einer linken Partei als „kollektiver Intellektueller“ beschäftigte Magri schon früh und immer wieder. Wie kaum ein anderer Intellektueller hat er sein Denken stets in Bezug zu den Massenbewegungen seiner Zeit gesetzt: „Das war für die Generation Gramscis üblich“, schreibt Perry Anderson über ihn, „doch im Zeitalter des Kalten Krieges war es ganz in Vergessenheit geraten.“ 

Es geht in diesem Buch also um weit mehr als um die Geschichte einer untergegangenen Partei. Ihre leidenschaftliche Analyse betrifft die ganze Linke, nicht nur die italienische, und wird mit den teilweise sehr persönlichen Lebenserfahrungen Magris verwoben, die ohne jede Bitterkeit vorgetragen werden.

Lucio Magri: Der Schneider von Ulm. Eine mögliche Geschichte der KPI. Argument Verlag, Hamburg 2015

Erschienen in MALMOE 70  (2015)

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