Lehre

So was will ich nimmer erleben

Das Kunstbuch „6/44 – 5/45“ über „Ungarisch-Jüdische ZwangsarbeiterInnen“ zeigt, wie sich auch ein engagiertes zeitgeschichtliches Projekt nicht von heimatlichen Verstrickungen lösen kann. Ambivalente Eindrücke eines Interviews mit der Autorin von Ingo Lauggas

Die Zahlen im Titel stehen für einen Zeitraum: das knappe Jahr von Juni 1944 bis Mai 1945, in dem etwa 15000 ungarische Juden und Jüdinnen auf dem Gebiet des Waldviertels als ZwangsarbeiterInnen eingesetzt waren. Die Wiener Philosophin, Autorin und Foto-Künstlerin Maria Theresia Litschauer hat sich mit einem „topo/foto/grafischen“ Projekt auf ihre Spuren begeben und ein so detail- wie umfangreiches Werk vorgelegt, das den Anspruch erhebt, „dieses wenig bekannte Kapitel nationalsozialistischer Vergangenheit aufzuarbeiten“, wie sie im Malmoe-Interview erzählt. Arbeitsweise und formales Ergebnis sind dem Prinzip der Transdisziplinarität verpflichtet: Das Medium Fotografie wird in verschiedenen Kontexten eingesetzt, „Fragen des Ortes bzw. Nicht-Ortes“ werden zum Thema gemacht.

So spielen die Fotos in dem Band eine zentrale und autonome Rolle, die komplementär zu dem umfangreichen Archivmaterial sowie zu den „Erzählungen der ZeitzeugInnen“, die Litschauer gesammelt hat, stehen und „das Referenzfeld der Zwangsarbeit visualisieren“, wie es im Vorwort heißt: „Während präzise konstruierte Farbfotografien in ihrer eigenen Ästhetik die vermeintliche Banalität der gezeigten Landschaften und Architekturen unterstreichen und gerade in ihrer Unauffälligkeit die Rezeption schärfen, zeigen die Textmontagen in ihrer typo- und grafischen Gestaltung, wovon sie handeln bzw. wer spricht.“ Diese Gestaltung sieht so aus, dass in den Text der Autorin Erzählfragmente aus den geführten Interviews buchstäblich eingeschoben sind. Anliegen war es, sowohl die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen als auch die einheimische Bevölkerung, die diese auf die eine oder andere Weise wahrgenommen hat, „selbst sprechen zu lassen“, wie Litschauer erzählt: „ihre transkribierten Erzählungen stehen in meinem Text; das Nebeneinander beider Texte lässt eine diskursive Struktur entstehen.“

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Fakten, Fakten, Fakten

Die Erzählungen, die zur Verfügung gestellten Tagebucheinträge und die Fotografien werden durch historische Aufnahmen und Dokumente ergänzt, die Litschauer in Archiven erschlossen hat. Im Interview betont sie, dass trotz der grafischen und ästhetischen Aufarbeitung dieses Material den Status einer Dokumentation hat: „Was ich auf 300 Seiten versammle, sind Fakten.“ Als Künstlerin lege sie lediglich Wert „auf ein dem Gesamtkonzept entsprechendes Design“ als „Lösung für den Form-Inhalt-Komplex“. Beeindruckender Teil dieser Faktensammlung sind die Namen jener, die bei der Deportation oder während der Zwangsarbeit verstorben sind; sie werden in langen Listen zu zentralen Momenten des Buches: die Auflistung der Opfer „vollzieht Gedenken und konstituiert im Verweis auf die Auslöschung ihrer Geschichte an den realen Orten das Buch als Ort der Erinnerung.“ (Vorwort)

Diese Intention und das Vorhaben der Autorin, sich für die Errichtung „realer“ Gedenkorte an jenen Stätten einzusetzen, an denen ohne irgend eine Spur oder Kenntlichmachung die Opfer begraben lagen oder liegen, machen das Projekt zu einem begrüßenswerten, da es gerade durch seine unkonventionellen methodischen Zugänge neues Terrain zu öffnen in der Lage ist. Der transdisziplinäre Ansatz und ein Selbstverständnis, das das Projekt zu einem „Hybrid“ irgendwo zwischen Zeitgeschichte und Kunst macht, verweisen aber auch auf problematische Aspekte, die dieser Arbeitsweise innewohnen.

Kommen wir etwa auf die angesprochene Betonung zurück, es handle sich bei dem Buch um eine Sammlung von Fakten. Litschauer weist mit Vehemenz das Bedenken zurück, dass ihre In-Szene-Setzung dieser Fakten zwangsläufig auch deren sinnlich-emotionale Instrumentalisierung mit sich bringt. Dass die Inanspruchnahme ästhetischer Strategien ein Rezeptionsfeld eröffnet, dessen Substanz weit über eine nüchterne Aufarbeitung, das Schließen einer Lücke, der Dokumentation eben, hinausgeht. Litschauer zieht sich darauf zurück, dass sie nach Abschluss ihrer Arbeit in keinerlei Verbindung mehr zu deren Rezeption steht, dass es allein Sache der RezipientInnen sei, wie diese mit Text und Bild verfahren und welche Verknüpfungen sie herstellen. Dass also allfällige Emotionen, wie etwa eine bei dieser Thematik unschwer zu evozierende Betroffenheit, von außen in ihr Werk getragen würden und in keiner ursächlichen Verbindung zu dessen Konzeption stünden. Diese Haltung – aus dem Munde einer gesellschaftspolitisch engagierten Künstlerin ohnehin verblüffend – wird spätestens dann fragwürdig, wenn Litschauer im Kontext mit einem Massengrab, in welchem im April 1945 die jüdischen Opfer eines Massakers verscharrt wurden, eine Liste von gefundenen Habseligkeiten abdruckt, in der unter anderem „eine Aluminiummilchkanne“, „ein Taschenspiegel“ oder „Brotreste“ zu finden sind. Zur Dokumentation des Vorgefallenen tragen diese letzten Reste von persönlichster Habe wenig bei. Litschauer betont aber, hier werde nicht auf Betroffenheit abgezielt, denn diese Liste sei ein Faktum par excellence, da es sich um ein Dokument handelt, das sie in Prozessakten gefunden hat. In seiner Eigenschaft als Dokument sei es kein Stilmittel. Die Liste ersetze die Namenslisten an anderen Stellen des Buches, da in diesem Falle die Namen der Opfer nicht mehr zu recherchieren gewesen seien. Es steht hier also das Andenken im Mittelpunkt: „Im Fall der namenlosen Toten des Massakers sollen persönliche Gegenstände, die bei der Exhumierung der Leichen vom Gerichtsmediziner aufgelistet wurden, für ihre Namen stehen.“ Zwar weiß die Künstlerin, dass auch ein Dokument nie nur ein Dokument und seine Verortung und Wirkung stets von seiner Kontextualisierung geprägt ist – doch obwohl sie als Autorin die Rolle annimmt, über diese Kontextualisierung zu entscheiden, will sie mit den Konnotationen des choreografischen Effektes, den der Abdruck einer solchen Liste nun einmal darstellt, nichts mehr zu tun haben.

Georg Seeßlen hat einmal sehr schlüssig beschrieben, dass die beiden letzten Rechte, „die wir den Opfern schaffen können: das Recht, nie vergessen zu werden, und das Recht, die Würde, die ihnen das faschistische Todessystem nahm, in ihrem Gedenken zu erschaffen und zu bewahren“ – dass diese beiden Rechte also einander immer wieder in die Quere kommen, mehr als andernorts im Kunstbetrieb. Auch und gerade dann, wenn wie im vorliegenden Fall Dokumentation und Gestaltung, noch dazu in erklärter Absicht vermischt werden, wird erstere zum Rohstoff der Zweiten, wird die intime Habe der Massakrierten zum ergreifenden Farbtupfer im Gesamtbild.

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Wer spricht?

Diese Kritik könnte im Prinzip auch auf die Textfragmente umgelegt werden, die Ausrisse aus Erzählungen, die Litschauer in ihren eigenen Text montiert. „Ich habe versucht, Methoden der Wissenschaft für die Kunst produktiv zu machen und mit Strategien der Kunst eine wissenschaftliche Arbeitsweise zu erweitern“ sagt sie im Interview. Dass eine derartige Collage autobiographischer Narrationen ohne Transparent-Machung ihres Settings oder auch nur der Fragestellung, auf die sie antworten, nirgendwo als „Methode der Wissenschaft“ durchginge, dass der Charakter dieser Sammlung mehr mit einer durchaus spannenden Reportage zu tun hat als mit der von der Autorin reklamierten „Oral History“, und dass die bislang ausbleibende Rezeption des Buches zumindest im wissenschaftlichen Milieu wohl auch damit zu tun hat, dass es mehreren basalen Kriterien tatsächlich nicht genügt – davon sei an dieser Stelle einmal abgesehen. Interessanter ist es zu fragen, welche Reflexion dem Zugang zu Grunde liegt, für dieses Projekt nicht nur überlebende jüdische ZwangsarbeiterInnen zu befragen, sondern auch die „andere“ Seite, die Waldviertler Bevölkerung.

Bild: Verena Weißenböck

Dieses Buch erscheint ja zu einem Zeitpunkt, an dem wir nach und dank dem Gedenkjahr 2005 immer dreistere Täter/Opfer-Umkehrungen und ein Österreich erleben, das sich und die Opfer der Shoah in einem einzigen Konglomerat von Opfern sehen will. Opfern eines „Krieges“ eben, der auf allen Seiten Leid verursacht habe. Diese Nivellierung kommt im vereinheitlichenden Begriff der „ZeitzeugInnen“ zum Ausdruck, den auch Litschauer ohne weitere Differenzierung verwendet. In einem Pressebericht über ihr Buch hieß es, sie habe „mit Überlebenden einerseits und Personen aus der Waldviertler Bevölkerung andererseits“ gesprochen. Dieses problematische Einerseits-Andererseits, das sich in besagte Gleichsetzungsdiskurse einreiht, wird von der Autorin zwar nicht geteilt, wie sie betont, wichtig seien ihr lediglich die unterschiedlichen Perspektiven gewesen: „Erinnerungsnarrative stehen nebeneinander und im Text der in den Archiven gefundenen Fakten“. Dieses Nebeneinander wird aber auch in keiner Weise problematisiert; das Problem, „dass die Dinge möglicherweise geschönter dargestellt werden, als sie waren“, wird für Litschauer durch den erfreulichen Umstand kompensiert, dass es manchmal ja mehrere „ZeitzeugInnen“ gab, wodurch sich ein „differenzierteres Bild“ ergeben habe. Wie kann aber noch von Differenziertheit gesprochen werden, wenn in Aufarbeitung und Abbildung kein Unterschied gemacht wird, wer was erzählt und möglicherweise warum, wenn alle zu gleich gewichtigen „ZeugInnen“ einer „Zeit“ werden, die „den einen“ vielleicht ein paar Jahre sattes Familienleben, „den anderen“ aber buchstäblich alles, das Leben gekostet hat?

„Mir haben sie so erbarmt, weil sie alle so abgemagert waren“, gibt die heute betagte Maria K. ihre Erinnerungen an die ZwangsarbeiterInnen zu Protokoll, und auch eine andere Zeitzeugin erinnert sich mitleidsvoll: „Die sind alle arm gewesen“, und wünscht sich: „Nein, so was will ich nimmer erleben. Ich wünsche mir von Herzen, dass so was nimmermehr kommt.“ Eine solche Rührseligkeit, die bei genauer Betrachtung an Zynismus grenzt, wenn man bedenkt, dass es die stets auf dem Trockenen Sitzende ist, die sich von der Geschichte erhofft, ihr in Hinkunft das Mitansehen des jüdischen Leides zu ersparen, wird unhinterfragt und implizit zustimmend in die Erzählungs-Montage aufgenommen.

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Wir sind Helden

Doch bei diesen Bekundungen bleibt es nicht: Litschauer gibt in ihrem Buch immer wieder Erzählungen von so genannten „Mitleidshandlungen“ Raum, also großen und kleinen Anekdoten, in denen die einheimische Bevölkerung den ZwangsarbeiterInnen auf die eine oder andere Weise geholfen hat. Diese Geschichten werden von der Autorin als „widerständige humanitäre Gesten“ angekündigt, und spätestens in diesem Kontext eignet sich das Buch zumindest als Einladung, die oben umrissenen Diskursverschiebungen ungewollt zu unterfüttern. Ö1 hat in einem Beitrag zu Litschauers Projekt diese Einladung gerne angenommen und fast die Hälfte des Raumes diesen „Heldengeschichten“ gewidmet. Das sei Sache der betreffenden Redakteurin, meint Litschauer mit dieser Problematik konfrontiert, ohne aber an sich heranlassen zu wollen, dass ihre Präsentation eine solche Umgewichtung nicht nur möglich macht, sondern im Post-Gedenkjahr-Blick geradezu hervorruft. Die Frage nach TäterInnen und deren Kollektiven scheint sich abseits der beamteten NazionalsozialistInnen nicht mehr zu stellen, wenn ein liebenswerter Zeitzeuge von seiner Euphorie für die Hitlerjugend erzählen kann („Von lauter Nazis umgeben; ich war begeistert.“), die ihn aber nicht daran gehindert habe, „viele Freunde bei den Gefangenen“ zu haben.

Überhaupt, erzählt Litschauer, sei die Offenheit verblüffend gewesen, mit der sich zahlreiche WaldviertlerInnen bereit gefunden hätten, ihre Erinnerungen zu erzählen. Sie sei mit dem „Vorurteil“ an das Projekt gegangen, in erster Linie mit Antisemitismus konfrontiert zu werden, was sich „als unbegründet herausgestellt“ habe, wie sie im Interview berichtet. Allerdings sei sie sich durchaus bewusst, dass ihre Erhebung nicht dazu tauge, Aussagen über den Antisemitismus der Bevölkerung zu treffen, da sie als Forscherin ohnehin vor dem Problem gestanden sei, GesprächspartnerInnen zu finden; und es war „klar, dass bei meiner Suche nach InterviewpartnerInnen nicht ausgerechnet die sich melden würden, die gegen Juden sind.“ Und so kommen in dem Buch „logischerweise“, wie Litschauer bestechend argumentiert, nur die Leute vor, „die nicht schlecht über die Juden reden.“

Sich damit zufrieden gegeben zu haben, deutet zunächst einmal darauf hin, dass die Autorin die im Buch angekündigten „Fragen nach den ideologisch-politischen Prämissen“ nicht einmal konsequent zu stellen bereit ist. Dem Einwand, dass diese (im Buch nicht transparent gemachte) frappante Einseitigkeit des Bildes von den Einheimischen dem proklamierten Anspruch von Dokumentation und Sachlichkeit der Publikation diametral gegenübersteht, bescheinigt die Künstlerin achselzuckend, „eine nicht auflösbare Problematik“ zu sein.

Bild: Verena Weißenböck

Bestandteil der guten Stimmung bei den Gesprächen dürfte auch gewesen sein, dass Maria Theresia Litschauer selbst aus dem Waldviertel stammt: „Nicht nur kenne ich die regionalen Gegebenheiten, als Vorteil für Recherche und Interviews sollte sich die Vertrautheit mit der Mentalität, vor allem mit der Sprache herausstellen.“ Ihre Herkunft sei der Faktor gewesen, der diese Orte als Gegenstand der Recherche erst nahegelegt habe. Doch bekommt in diesem Kontext diese buchstäbliche Verbundenheit, dieser „Vorteil“ der Herkunft, den sie mit ihren Waldviertler ZeitzeugInnen teilt, eine ganz andere Bedeutung. Was heißt das denn, wenn eine nachgeborene Einheimische „positiv überrascht“ feststellt, dass sich Ihr „Vorurteil“ nicht bestätigt hat, dass es eine antisemitische Grundstimmung gibt? Wenn also in ihrem Buch der Antisemitismus nur in einer historisierten Form zum Thema wird, während in der Gegenwart „Heldengeschichten“ erzählt werden? (Einmal ganz abgesehen davon, dass man auch auf die Idee kommen könnte zu fragen, welchen Grund es gibt anzunehmen, dass ausgerechnet diese Geschichten stimmen sollen.)

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Mit dem Eigenen brechen

Diese Fragen bleiben im Interview leider unbeantwortet: „Das Ganze ist vielschichtig, nicht homogen und durchgehend.“ Man kann Litschauer sicher keine grundsätzliche Verweigerung des Blickes auf Kontinuitäten zur Gegenwart unterstellen. Das kommt durch die angekündigte Initiative für Gedenktafeln zum Ausdruck, da sie zu Recht von einer Fortschreibung der „Auslöschungspraxis nationalsozialistischer Politik“ schreibt; das kommt durch ihre Bildstrecken zum Ausdruck, die Kontinuitäten, ein bestimmtes Gleich-Bleiben (der Orte) frappant visualisieren. Aber man kann unterstellen, dass es bezeichnend und ausgesprochen österreichisch ist, dass Litschauer trotz expliziten Hinweises darauf den Irrtum nicht einmal wahrzunehmen bereit ist, den ihre Auffassung darstellt, dass es „eine andere Arbeit gewesen“ wäre, sie selbst als Person, ihre Verortung und Verstrickung in diesem Projekt auch nur zum Thema zu machen. Litschauer illustriert anhand des Beispiels eines Denkmals für im Waldviertel umgekommene Juden, in dessen Inschrift weder von Juden, noch vom Nationalsozialismus die Rede ist, wie hierzulande eine Gedenkkultur praktiziert wird, „die sich als Verdrängung erweist“. Doch den gleichen scharfen Blick will sie offenbar nicht auf sich selbst richten: im Vorfeld des Malmoe-Interviews verbittet sie sich ausgerechnet die Frage danach, was ihre Motivation für diese Arbeit gewesen sei als eine der dümmsten, die Journalisten sich ausdenken können.
Doch möglicherweise ist es die zentrale.

Maria Theresia Litschauer: 6|44 - 5|45. Ungarisch-Jüdische ZwangsarbeiterInnen. Ein topo|foto|grafisches Projekt. Schlebrügge.Editor, Wien 2006

 

Dieser Text ist Teil des Schwerpunktes "Schweigen und Reden", der in MALMOE # 33 (Juli 2006) erschienen ist.

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