Lehre

Grenzen des Begreiflichen

Ein Gespräch mit Yariv Lapid, der seit zwei Jahren die pädagogische Abteilung der Gedenkstätte im Konzentrationslager Mauthausen leitet und davor in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem gearbeitet hat, über unterschiedliche Diskurse, Erwartungen und Aufgaben von Erinnerungsarbeit.

In der letzten Zeit waren österreichische Gedenkstätten mehrmals Ziel von rechtsextremen bzw. neonazistischen Angriffen – siehst Du einen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen und bestimmten Diskursen und Geschichtsbildern, die in Österreich präsent sind?

Ich bin Teil einer Minderheit und stehe ziemlich allein damit, dass ich in den österreichischen Diskursen durchaus auch Vorteile sehe und nicht vor allem Nachteile, was den Umgang mit den Massenmorden und dem Genozid im 2. Weltkrieg und die Beteiligung der ÖsterreicherInnen daran betrifft. Meine Annahme lautet: jede Gesellschaft tendiert dazu, Dinge, die in der Öffentlichkeit als besonders negativ gesehen werden, eher zu verstecken. Es wäre sehr heuchlerisch zu meinen, dass wir alle so aufrichtig sind und gerne öffentlich über unsere Schwachpunkte sprechen. Auch und gerade direkt nach dem 2. Weltkrieg und dem Holocaust wäre es falsch zu erwarten, dass die Gesellschaft als Ganzes und alle Menschen, die sich daran beteiligt haben, dastehen werden und sagen: Da haben wir etwas ganz Schlimmes gemacht und es tut uns leid. Gerade da sehe ich in Österreich im Unterschied zu Deutschland gewisse Vorteile. Deutschland wird immer als Beispiel dafür genannt, wie die Gesellschaft öffentlich Verantwortung übernommen hat, während Österreich als das Land gilt, in dem alles verleugnet wurde. Wenn man die Protokolle des Deutschen Bundestags liest, als es um die Frage ging, ob es formelle Beziehungen zum Staat Israel geben soll (denn Deutschland hat nach dem Krieg mitnichten gleich Beziehungen zum neu entstandenen Staat der Juden aufgenommen), sieht man, dass es ganz andere Prioritäten gab als die, wie man sich zum jüdischen Staat verhalten sollte; man war viel mehr mit dem heute eher wenig betrachteten Thema beschäftigt, welche Länder Ostdeutschland anerkennen würden: es ging vor allem darum zu vermeiden, dass die Teilung Deutschlands allgemein anerkannt wird. Die Frage also, ob man Beziehungen zu Israel aufnehmen sollte, hatte nichts mit dem Holocaust zu tun, sondern mit ganz allgemeinen staatlichen Interessen, die mit Verantwortung und Reue, oder wie all die schönen Worte lauten, absolut gar nichts zu tun hatten.

Wir projizieren oft Vorstellungen von heute auf Zustände von damals, die damit eigentlich nichts zu tun haben. Der Holocaust hat erst viel später diese symbolische Bedeutung erhalten, und es gab auch in Deutschland nach dem Krieg mehrere antisemitische Wellen und Brutalitäten gegen Juden. Das Bild von der vorbildhaften Verarbeitung ist also historisch falsch. In den 80er und 90er Jahren war es in Deutschland dann „in“, sich auf die Seite der Opfer, also der Juden zu stellen. In den 80er Jahren hat Matthias Heil – heute der pädagogische Leiter der Gedenkstätte des KZ Ravensbrück – eine Untersuchung unter SchülerInnen durchgeführt und dabei festgestellt, dass sie viel mehr über jüdische Biographien wissen als über ihre eigene Familie. Daraus hat er den logischen Schluss gezogen, dass die Identifikation mit Juden einen Fluchtweg ermöglicht, um sich nicht mit der eigenen problematischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Buch „Opa war kein Nazi“ von Harald Welzer ist in diesem Zusammenhang eines der wichtigsten Bücher der deutschen Nachkriegszeit, denn es zeigt, wie dieser Mechanismus der Erinnerungskultur in Deutschland dazu führt, dass es die Menschen vermeiden, sich mit ihrer Vergangenheit tatsächlich auseinanderzusetzen. Öffentlich werden immer die richtigen Worte gefunden, aber persönlich darf niemand einen Nazi-Opa haben. In Österreich hingegen durfte man durchaus einen Nazi-Opa haben, denn hier war es wesentlich legitimer, in der Waffen-SS gewesen zu sein oder sonst eine Nazi-Vergangenheit gehabt zu haben. In Deutschland hat das korrekte soziale Benehmen dies immer mehr verboten, in Österreich hingegen war es erlaubt, in manchen Gegenden konnte man sogar darauf stolz sein.

Es ist also äußerst rar, dass Individuen oder Gesellschaften besonders schlimme und sozial unakzeptable Akte öffentlich als ihre eigenen anerkennen. Sowohl Deutschland als auch Österreich haben darüber gelogen, was damals passiert ist, aber sie haben das auf unterschiedliche Weise getan. Mein Eindruck ist, dass die österreichischen die besseren Lügen sind, weil sie es im Nachhinein ermöglichen, eine authentischere und richtige Auseinandersetzung in der dritten und vierten Generation zu führen. In Deutschland führen die Identifikation mit den Juden und die viel tiefer sitzenden gesellschaftlichen Lügen dazu, dass niemand mehr positive Erinnerungen an einen Nazi-Opa haben darf. Das hat ja auch die große Auseinandersetzung zwischen Bubis und Martin Walser gezeigt, als Walser seine Idee von einer Moralkeule in die Welt gebracht und gesagt hat: ihr verbietet mir meine positiven Kindheitserinnerungen, weil sie in der Nazi-Zeit verortet sind; weil es anderen so schlecht gegangen ist, und da das mit meiner Identität als Deutscher zu tun hat, ist es mir verboten, irgendwo zu sagen, dass ich Spaß hatte in der Zeit. Das ist krankhaft; als Jude und als Israeli verstehe ich die ethische Problematik durchaus, und natürlich bin ich nicht besonders glücklich, dass die Gesellschaft, die solche Taten in die Welt gebracht hat, Spaß hatte, während meine Familie ermordet worden ist. Aber psychologisch gesehen verunmöglicht es das Verbot, von dem Martin Walser spricht, die authentischen Zustände wirklich zu verstehen: Was ist in der Nazi-Zeit passiert? Wie wollen wir so etwas vermeiden, wenn wir verbieten, dass jemand sagt, dass er Spaß hatte in der Zeit?

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Ein Drittel der BesucherInnen der Gedenkstätte Mauthausen kommt aus Schulen, insgesamt machen Jugendliche 50% aus. Wie wird mit dem Umstand umgegangen, dass sie auf diese Besuche meist nicht gut vorbereitet sind?

Wir begegnen dem jetzt auf drei verschiedenen Ebenen. Wir versuchen zum einen, den Schulen und LehrerInnen Konzepte anzubieten, indem wir Lehreraus- und -fortbildungen an den pädagogischen Hochschulen durchführen, denn das wichtigste ist, an die LehrerInnen heranzukommen, solange sie noch nicht berufstätig sind und sich in der Ausbildung befinden. Wir besprechen dabei die Frage, was ein/e LehrerIn überlegen muss, wenn Mauthausen oder eine andere Gedenkstätte besucht werden soll, und dann präsentieren wir unsere grundsätzlichen Konzepte. Der Besuch einer Gedenkstätte kann nämlich nur ein – wenn auch wichtiger – kleiner Teil sein, der in einem viel breiteren Rahmen dessen steht, was an der Schule selbst gemacht wird. Es geht nicht, dass die SchülerInnen einfach nach Mauthausen kommen und die LehrerInnen glauben, damit dieses Thema abgehakt zu haben. Wir bieten auch sehr praktische Hilfe etwa in Form von Workshops an, wie man sich in der Schule zu diesem Thema vorbereiten kann. Darüber hinaus versuchen wir gemeinsam mit der Abteilung für politische Bildung im BMUKK, zu der ich durch meine Arbeit in Yad Vashem ein sehr gutes Verhältnis habe, und dem Verein erinnern.at, uns strategisch zu überlegen, wie dieses Thema besser in die Schule eingebettet werden könnte. Erinnern.at hat ein großes Netzwerk an LehrerInnen in ganz Österreich, und über dieses Netzwerk entwickeln wir ein TutorInnen-System, in dem LehrerInnen mit viel Erfahrung jene unterstützen, die das brauchen können und zugeben, dass sie im Umgang mit dem Thema unsicher sind.
Die zweite Ebene betrifft die Guides selber: wir entwickeln einen VermittlerInnen-Pool, und in diesem Winter wird es erstmals eine richtige und ausgedehnte Ausbildung in Mauthausen geben, um am Ende wesentlich professionellere Guides mit dieser Arbeit betrauen zu können als dies bisher der Fall war.

Der dritte Punkt betrifft die Inhalte, die es zu vermitteln gilt. Seit knapp einem Jahr arbeite ich daran gemeinsam mit meinen KollegInnen, die sich sehr gut in dem Feld auskennen. Im Zentrum steht für uns vor allem der Rundgang, der in Gedenkstätten für die meisten BesucherInnen das wichtigste ist. Die meisten Menschen halten sich dort nicht länger als für die Zeit des Rundgangs auf – wir können zwar enorm interessante Workshops und andere Angebote entwickeln, aber die wird nur ein sehr kleiner Teil in Anspruch nehmen. Damit ist es die zentrale, aber auch die schwierigste Aufgabe, dem Rundgang ein pädagogisches Niveau zu geben. Es muss vor allem einmal Information über die Kerntopographie des Ortes vermittelt werden, und das mit einem sehr geringen Zeitbudget: ein großes Gelände muss in nur zwei Stunden gezeigt werden. In dieser Zeit eine pädagogisch interaktive, ethische Arbeit zu leisten, ist eine enorme Herausforderung, und vor allem darüber zerbrechen wir uns seit einem Jahr die Köpfe. Wir gehen davon aus, dass ein Monolog von eineinhalb Stunden schlecht ist; man muss vor allem mit schulischen BesucherInnen immer für eine Interaktion mit der Gruppe sorgen und den Schwerpunkt auf die Menschen selber legen. Wir haben drei zentrale Lernziele definiert: 1. die Topographie selbst: Was ist dieser Ort und was ist hier passiert? 2. Was ist der historische Zusammenhang, in dem das stattgefunden hat? 3. – und das ist die Neuerung: Was hat das mit mir zu tun? Das in einem Rundgang unterzubringen, ist wirklich eine sehr große Herausforderung.

Das berührt verschiedene Ebenen, die miteinander zu tun haben. Es gibt z.B. ein Phänomen, das wir Delegierung nennen können: die Gesellschaft delegiert ihre negativen Erinnerungen an einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Zeit und befreit sich damit von der persönlichen Auseinandersetzung mit einem Thema. In St. Valentin, in Linz oder auch in Wien gab es Außenlager von Mauthausen, in denen Menschen zum Teil nicht besser behandelt wurden als in Mauthausen selbst. Wer aber assoziiert Wien oder Linz mit Mauthausen? Wenn ich Leute frage, woher sie sind und was sie über ihre eigenen Orte wissen, in denen es ein Außenlager gab, so zeigt sich, dass sie überhaupt keine Ahnung haben. Und diesen Delegierungsprozessen wollen wir entgegentreten, wir wollen diese Projizierung umkehren und die Leute durch bestimmte Fragen und Aufgaben, Bilder und Materialien, die während des Rundgangs eingesetzt werden, zum Nachdenken animieren. Wir wollen nicht nur erzählen, was in einer Gaskammer passiert, sondern etwa thematisieren, dass Gaskammern und vor allem Krematorien von Ingenieuren gebaut wurden – wo kamen diese Ingenieure her? Bevor es in Mauthausen Krematorien gab, wurden die Menschen nach Steyr gebracht – was haben sich die Leute in Steyr gedacht, als plötzlich Tausende von Menschen als Leichen zu ihnen gebracht wurden? Man kann in einem Krematorium diese Fragen stellen, Hintergründe aufwerfen und die Leute fragen, woher sie sind. Man kann fragen, was diese Orte mit uns zu tun haben, ohne dabei mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, aber mit Fragen und Materialien die Leute selbst zum Denken anregen. Man darf das nicht aufzwingen, sondern muss es anbieten.

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Du hast viel über Inhalte und Informationen geredet, und ich möchte nun einen emotiven Aspekt thematisieren. Es gibt diesen Satz von Günther Morsch, wonach Gedenkstätten keine „antifaschistischen Durchlauferhitzer“ sein können, was ja auch heißt, dass Leute, die vorher etwa keine Empathie verspürt haben, das auch nachher nicht unbedingt tun werden. Der Shoah-Überlebende und Journalist Karl Pfeifer, der seit vielen Jahrzehnten wieder in Österreich lebt, sagt in dem Film über sein Leben, an dem ich mitgewirkt habe, dass er als Jude so etwas wie Empathie bis auf ganz wenige Ausnahmen nie erfahren hat. Inwieweit kann die Vermittlung einer Ausstellung an einem Ort wie Mauthausen hierzu einen Beitrag leisten?

Das ist eine gute Frage ... ich glaube, nicht viel. Ich möchte aber vorher in Klammern sagen, dass wir Israelis Karl Pfeifer sehr gut kennen, weil er Berichterstatter des nationalen israelischen Rundfunks war, und man kennt sein stark akzentuiertes Hebräisch aus dem Radio. Wie viele Israelis unterscheide ich mich jedoch von Karl Pfeifer dahingehend, dass die meisten von uns Antisemitismus nie erlebt haben, sie kennen die Erfahrung nicht, von der Karl Pfeifer erzählt. Mag sein, dass das die Verwirklichung des zionistischen Traums ist, dass die Juden aufwachsen werden, ohne das einmal erlebt zu haben. Vielleicht würde auch Pfeifer sagen, dass das gleichzeitig Vor- und Nachteile hat, wenn man das nicht kennt, so wie ich ja auch etwas „Positives“ darin sehen kann, dass es rechtsradikale Stimmen in einer Gesellschaft gibt, weil sie etwas zum Ausdruck bringen; vielleicht hört sich das etwas dumm an, das ist dann die Dummheit eines Israeli, der so etwas wie Karl Pfeifer nie erlebt hat. Das fehlt mir sozusagen: so tief emotionell, wie er und andere das erlebt haben, kann ich das nicht nachempfinden. Ich schließe also diese Klammer mit dem Hinweis auf meine eigene diesbezügliche Begrenztheit.

Professionell gesprochen bin ich mir nicht sicher, ob ein ehemaliges Konzentrationslager, eine Gedenkstätte der Ort ist, an dem so etwas wie Empathie erzeugt werden kann. Ich denke, das ist eher die Aufgabe anderer Gremien in dieser Gesellschaft. Ich bin der Meinung, Empathie sollte mehr über positive Dinge entstehen und nicht über negative. An einem Ort wie Mauthausen kann man vor allem Verantwortung oder Schuldgefühle lernen, Empathie sollte eher über positive Schienen laufen, über Respekt und Zuneigung etwa – das fände ich irgendwie logischer und auch besser. Ein Ort, an dem vor allem täglich Menschen ermordet und gefoltert wurden, kann vielleicht dann mit Empathie in Verbindung gebracht werden, wenn man sich menschlichen Beispielen nähert und sich fragt, wer denn dort zugrunde gegangen ist. Wie etwa in den Büchern von Jorge Semprún, in denen er die letzten Tage von Maurice Halbwachs in Buchenwald beschreibt, und man versteht, welche unglaublichen Persönlichkeiten von den Nazis ermordet wurden. Der große Respekt vor diesen Menschen kann vielleicht so ein Empfinden erzeugen, aber das ist nicht Empathie im engeren Sinn.

In bestimmten Bereichen würde ich sagen, dass in einer Gedenkstätte Empathie gar nicht erst angestrebt werden sollte. In dem Film „KZ“ von Rex Blumstein sind z.B. ganz negative Beispiele zu sehen, wenn etwa versucht wird, in einer Gaskammer Empathie zu erzeugen, indem man beschreibt, was vor sich geht, wenn Menschen durch das Gas sterben. Das ist Kitsch, schrecklicher unvorstellbarer Kitsch, wie Saul Friedländer das genannt hat. In einer Gaskammer sollte man das nicht versuchen. Auch für mich ist die Frage nicht endgültig geklärt, wo welche Emotionen und Affekte in die pädagogische Arbeit eingebaut werden können. Aber zum jetzigen Zeitpunkt scheinen mir vor allem diese Bereiche der Gedenkstätte eher dazu geeignet, uns unsere Grenzen zu zeigen, das, was wir nicht verstehen und begreifen können.

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Beim Besuch eines ehemaligen Konzentrationslagers steht man ja buchstäblich auf einem Friedhof, und an einen solchen Ort werden je sehr verschiedene Erwartungen gerichtet, Aufgaben gestellt. Hier kommen Themen zusammen wie Gedenkarbeit, Erinnerung, aber auch Vermittlung und Lernen. Ist es möglich, diese drei Aspekte miteinander zu verbinden?

Ein klares Ja auf diese Frage wäre meiner Meinung nach falsch. Erst neulich habe ich das mit unserem neuen Guide-Pool besprochen: Nach dem Fall von Ebensee, als nach der Befreiungsfeier diese jungen Burschen vorbeimarschiert sind, hat sich diese Frage für mich sehr zugespitzt: Wem gegenüber tragen wir die zentrale Verantwortung? Gegenüber den jungen Leuten, die zum Teil für uns Erwachsene schwer verdauliche Ausdrucksformen wählen? Manche Jugendliche erleben unsere Gesellschaftsformen als heuchlerisch, was ich zu einem großen Teil stimmig finde, denn wir gehen mit unseren Jugendlichen oft heuchlerisch um: es ist schwierig, immer authentisch und echt zu sein.

Oder ist es die Verantwortung gegenüber den ehemaligen Häftlingen und Opfern, den Menschen, denen dort so schlimme Dinge angetan wurden? Manchmal stehen die Interessen dieser so verschiedenen Gruppen tatsächlich in Widerspruch zueinander. Wenn in den Duschräumen ein Hakenkreuz hinterlassen wird, dann ist das eine Ausdrucksform, die ich vielleicht mit einer BesucherInnengruppe aufnehmen und bearbeiten sollte: es ihnen zeigen, sie fragen, was sie davon halten, und das mit ihnen bearbeiten. Wenn ich es entferne und ihnen nur davon erzähle, ist der pädagogische Effekt etwas kleiner. Ich entscheide mich dafür, meine Hauptverantwortung gegenüber den Opfern zu sehen. Das ist für mich eine ethische Frage: die Überlebenden und die Opfer der Nazis haben die höchste Priorität, und es verlangt eine enorme Fähigkeit an pädagogischen Umgangsformen, dass das so wenig wie möglich auf Kosten der jungen Leute geht. Das gelingt uns leider nicht immer.

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Der Politologe Enzo Traverso kritisiert an der westeuropäischen Erinnerungskultur, dass sie immer stärker entpolitisiert bzw. politisch konformistischer wird. Gleichzeitig schilderst Du Phänomene wie die Etablierung von Gedenkstätten „von oben“, wo es sehr explizit um politische Interessen geht. Sind das zwei gegensätzliche Tendenzen?

Insgesamt glaube ich, dass der Versuch, eine organisierte Auseinandersetzung mit Genozid und mit einem Völkermord zu führen, der mit Administration und System gelaufen ist, einen tiefen Widerspruch beinhaltet. Denn die Erinnerung daran verlangt von den Staats- und Systemträgern eine Selbstkritik, die es in der Regel nicht gibt. Das wird eher in Deutschland diskutiert, was ich sehr gut finde an der dortigen Gedenkkultur, denn es gibt sehr wohl Energien, die sich gegen das Establishment richten, eine Auseinandersetzung mit dem Staat und mit der Verstaatlichung dieser Institutionen. Die NGOs, in Israel wie auch in Deutschland und Österreich, stehen ständig vor der Entscheidung, ob und wie sie mit dem Staat kooperieren sollen.

Man hört in Österreich auch immer wieder von linker Seite die für mich überraschende Meinung, dass es gut ist, wenn der Staat in diesem Feld so präsent ist, weil es beweist, dass er Verantwortung dafür übernimmt, was sich dort ereignet hat. Andererseits denke ich, implizieren KZ-Gedenkstätten eine tiefsitzende Kritik gegen an staatlichen Organisationen, und es geht immer um Kompromisse, wie sich in einer modern entwickelten und verwalteten Gesellschaft ein solches Niveau an Kritik an ihrem eigenen Charakter und ihrer eigenen Natur etablieren lässt.
Ein Umgang, der meinem Empfinden entspricht, berücksichtigt diese Ebene der Kritik, denn die Beschäftigung mit diesen Themen braucht ein sehr hohes Niveau an ständiger Selbstkritik, am eigenen Staat, an der eigenen Kultur. Das ist nicht einfach und muss mit einem Respekt vor den Menschen Hand in Hand gehen. Es macht in meinen Augen keinen Sinn, die Mauthausener aus dieser Zeit alle als Täter zu begreifen, und alle Menschen, die heute in Mauthausen leben, als völlig unsensibel, weil man nicht begreift, wie sie an einem solchen Ort überhaupt leben können. Wenn alle schuldig sind, ist niemand mehr wirklich schuldig, das hilft niemandem. Man kann sich auf die Brust klopfen, auf die eigene, auf die des Staates, auf die der Menschheit – aber am Ende hat das keine wirkliche Bedeutung mehr, niemand nimmt das mehr ernst. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, wie fokussiert, konkret und spezifisch mit den Fragen danach umgegangen wird, wer in einer bestimmten Zeit genau welche Rolle gespielt hat, um den Ereignissen und der Frage nach Verantwortung eine ernsthaftere Bedeutung zu geben, die nicht so leicht zu rechtfertigen wäre. Mit unserem neuen Konzept für Mauthausen versuchen wir sehr konkret zu sein in der Benennung von Menschen, Orten oder Gegenständen, die mit einer bestimmten Situation in Zusammenhang zu bringen sind.

Auf eine Sache möchte ich gerne zurückkommen. Ich habe im Zusammenhang mit Rechtsradikalismus den Begriff „Heuchelei“ benutzt; das hat auch mit dem zu tun, was wir gerade über die Politik gesagt haben. Wir hatten uns ja gefragt, wie Rechtsradikalismus bei Jugendlichen als Reaktion auf die übliche und normative Heuchelei der Eltern und der Erwachsenengesellschaft entsteht. Wenn 30% der österreichischen Gesellschaft eine xenophobe Partei wählen, wenn wir davon ausgehen, dass ihre Sprüche legitim sind – denn diese Leute sitzen ja tatsächlich im Parlament und sind damit für einen großen Teil der Gesellschaft legitimiert –, können wir auch davon ausgehen, dass junge Leute die unterschiedlichsten Formen von xenophober Verallgemeinerung hören und das dann sehr normal finden. Ich glaube, die Angst vor Dingen, die wir nicht kennen, gibt es in uns allen. Xenophobie und Antipathie gegen Menschen, die uns nicht ähneln, sitzt in uns allen, vielleicht auch neben einer bestimmten Anziehung. Die Frage ist nur, was wir damit tun, wenn wir das fühlen. Wie gehen wir damit um? Welche Mechanismen werden in Gang gesetzt, wenn solche Ängste und solche Gefühle hochkommen? Das Problem besteht darin, dass ein Teil des gesellschaftlichen Diskurses diese Gefühle delegitimiert, statt sie als Gefühl zu bestätigen und die Frage zuzulassen, was wir damit tun. Es ist Teil der liberalen Kultur, diese Gefühle von vornherein zu delegitimieren, und daraus entsteht eine große Heuchelei. Das schafft eine politisch korrekte, aber keine ethische Kultur. Es geht nur noch darum, was man sagen darf, nicht aber, was man denkt. Diese Spannung ist genau der Ort, in den rechtspopulistische Parteien eindringen und so viel Erfolg haben. Sie können deshalb so viele junge Leute überzeugen, weil sie ihre Vertreter authentisch finden, weil sie die Spannung zwischen der authentischen allgemeinen Wahrnehmung sehr vieler Leute und den nach außen getragenen Lügen ansprechen. Hier fehlt die Politik, auch in unserem Bereich, es geht um die authentischen Ängste, diese innere emotionelle Abwehr, die sehr viele Leute gegen Menschen haben, die anders sind als sie. Denken wir an Krankheiten, die bei uns Angst hervorrufen, angesteckt zu werden: die Nazi-Ideologie der Sauberkeit, Ordentlichkeit, Gesundheit – all das schafft ein Gefühl von Sicherheit. Wenn man diese Bedürfnisse von vornherein delegitimiert, wirkt das nicht überzeugend für junge Leute, wenn sie bemerken, dass ihre Eltern und PolitikerInnen alle diese Bedürfnisse haben, aber der gesellschaftliche Diskurs es nicht erlaubt, sie auszusprechen. Die Differenzierung zwischen dem, was ich fühle, und dem, was ich mit meinen Gefühlen mache, ist genau der Knackpunkt der Problematik von Erziehung. Daran habe ich in einer israelischen NGO schon vor 20 Jahren lange Zeit mit SchülerInnen gearbeitet, was es nämlich bedeutet, erwachsen zu werden: ich muss zwischen meinen Gefühlen und dem, was ich mit diesen Gefühlen mache, differenzieren. How do I act on it?

Bei unserem Thema nun – die Taten der Nazis, der Massenmord – sind die Emotionen so herausfordernd und überdimensional, dass es sehr schwierig ist, vernünftig darüber zu sprechen. Wir fallen schnell in grobe Verallgemeinerungen und wirken damit sehr unauthentisch auf die jungen Leute. Das ist ein zentrales Problem der Gedenkstättenarbeit, dass wir eine politische Correctness herstellen, aber nicht unbedingt für gute politische Bildung sorgen.

Interview: Ingo Lauggas
mit Unterstützung von Sylvia Köchl und Erk Schilder

Erschienen in MALMOE # 47 (Oktober 2009)

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