Vorstadt im Kopf
Brennende Autos und Straßenkämpfe: Jeden
Banlieue-Film von RegisseurInnen mit maghrebinischem Background
für autobiographisch oder gar dokumentarisch zu halten, ist
ein Fehler, der auch in der akademischen Rezeption lange genug begangen
wurde. Einen Ausweg bietet die kulturwissenschaftliche Genreanalyse,
die auch die positive Besetzung von Stereotypen beinhaltet.
Von Gudrun Rath
Das Filmfestival in Cannes bringt im Jahr 1995 einen
Skandal- und Überraschungserfolg mit sich: Mathieu Kassovitz’
La haine (Hass), der als einer der ersten
die Situation in den französischen Vorstädten zum Thema
macht, erhält den Preis für die beste Regie, im selben
Jahr werden dem Film weitere Auszeichnungen bei den französischen
Césars und beim europäischen Filmpreis Felix verliehen.
Der Film trifft offensichtlich den Nerv der Zeit, die französischen
Vorstädte rücken zu einer Zeit, in der Unruhen –
denn diese sind nicht neu – regelmäßig in den Nachrichten
auftauchen, immer mehr ins Blickfeld der Gesellschaft. La haine
wird zum Paradebeispiel eines neuen Zweiges des französischen
Kinos erklärt, des cinéma de banlieue, wobei
sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung in der Folge der
eigentlich problematische, da rassistische Begriff cine beur
etabliert.
Bezeichnend ist allerdings die Rezeption des Films: die französische
Regierung organisiert eine Vorstellung für das Kabinett, um
sich Klarheit über die Situation in den Vorstädten zu
verschaffen. La haine wird als Tatsachenbericht gelesen,
fiktionale Elemente werden ausgeblendet.
Die unreflektierte Aufnahme des Films bringt ein tiefergehendes
Problem zum Ausdruck, das nicht nur zu einem gesellschaftlichen,
sondern auch zu einem wissenschaftlichen wird. Die reduzierte mediale
Wahrnehmung von beur-Filmen setzt sich in deren akademische
Rezeption fort, die sich einerseits in ebendiesen undifferenzierten
Umgang einschreibt, andererseits nicht oder nur unzureichend auf
den gesellschaftlichen Kontext eingeht.
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Als Vorläufer des cine beur trifft schon auf
La haine zu, was für zahlreiche Filme des gerade entstehenden
Genres gelten wird: die Reduktion auf die Biographie der RegisseurInnen
untergräbt lange Zeit eine seriöse wissenschaftliche Verarbeitung.
Erfüllt der Autor des Films das Kriterium der nordafrikanischen
Abstammung, so wird sein Film auch im akademischen Kontext als beur
stigmatisiert und als autobiographisch abgetan, was die Beschäftigung
damit vorhersehbar mache. Im Gegensatz dazu zeigte sich die Kritik
bei beur-Filmen von AutorInnen nicht maghrebinischer Herkunft
viel eher zu einer Auseinandersetzung bereit. Das Denken in Binarismen,
das gerade eine (kultur-)wissenschaftliche Analyse abgelegt haben
sollte, zeigt sich so als noch lange nicht überwunden.
Wie kann solchen Entwicklungen nun entgegengewirkt werden? In ihrer
Untersuchung Cinéma beur unternimmt die Romanistin
Cornelia Ruhe den Versuch, dem durch die Einbettung der beur-Filme
in eine Genreanalyse entgegenzusteuern. Das Anliegen, diese Filme
als Genre zusammenzufassen, so ihre These, könne eine Alternative
zu dem in den Kulturwissenschaften längst überholten Ansatz
eines biographischen Reduktionismus bieten. Merkmale eines Genres
seien neben selbstreflexiven und intertextuellen Bezügen auch
das Verwenden bestimmter kanonisierter Muster, an denen Settings,
Protagonisten und Situationen ausgerichtet werden, und derer sich
auch das cine beur bedient. Die Abarbeitung an diesen standardisierten
genretypischen Elementen ist es gerade, die die Herkunft des Autors/
der Autorin in den Hintergrund treten lässt, da sie unabhängig
von selbst Erlebtem „frei“ zugreifbar sind.
Kommt den beur-Filmen so einerseits der Verdienst zu, die
Banlieues zunehmend sichtbar zu machen, so geschieht dies andererseits
oft mit stereotypisierten Bildern, die sich in den Köpfen der
ZuschauerInnen als äußerst hartnäckig erweisen.
Arbeitslosigkeit, Gewalt, Drogen, Prostitution: die Assoziationen
zu den Vorstädten wurden vom genre beur zunächst
untermauert. Dem Argument, dass nur aus einer solchen Rekonstruktion
der Erwartungen heraus eine Dekonstruktion dieser Stereotype möglich
sei, wird entgegengehalten, dass ebendiese dadurch affirmiert werden
und so wiederum in einem looping Rückwirkungen auf
die mediale Wahrnehmung der französischen Peripherie haben.
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So ergibt sich ein Spannungsfeld aus Wechselwirkungen
zwischen gesellschaftlichen Vorgängen, künstlerischer,
medialer und wissenschaftlicher Verarbeitung, das durch den ambivalenten
Umgang mit Stereotypen die Reduktion auf die brennenden Vorstädte
in den Köpfen festschreibt und gleichzeitig problematisiert.
Im Laufe der Entwicklung, die das Genre durchmacht, erfahren die
Stereotype eine Verschiebung, die mit einer utopischen Hoffnung
einhergeht: die vorgefassten Meinungen der Zuschauer zu bearbeiten,
auf subversive Art eine andere Wahrnehmung zu erreichen.
Beklagt Ruhe die Verortung der Rezeption von Immigrationsliteratur
in „einem eigenartigen Zwischenraum zwischen Soziologie, alltagsweltlichem
Wissen und Literaturwissenschaft“, so ist es gerade dieser
fruchtbare Raum, an dem angesetzt werden sollte, um einen weiteren
Reduktionismus zu umgehen. Diese Verbindung von „Genretheorie
und Postkolonialismus“, die Ruhe für das cine beur
konstatiert, erfordert nicht nur von Seiten der RegisseurInnen,
sondern auch von Seiten der Wissenschaft eine kontinuierliche Abarbeitung
an Stereotypen, um einer Festschreibung entgegenzuwirken. Doch offenbar
– das zeigt Ruhes Kritik – gibt es im akademischen Diskurs
selbst noch genug zu dekonstruieren.
Ruhe, Cornelia: Cinéma beur. Analysen zu einem
neuen Genre des französischen Films. UVK Verl.-Ges., Konstanz
2006
Dieser Text erschien in MALMOE #38 (Juli 2007) im
Rahmen des Schwerpunkts Engagierte
Wissenschaft
Warum ein pinker Rahmen? |