Lehre

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Das Elend des allgemeinen Kant-Gedenkens

Da kann Suhrkamp die Hauptwerke zum Jubeljahr noch so billig verschleudern - den Philosophen Imanuel Kant muss nicht gelesen haben, wer wochenlang aus vollen Rohren zu hören bekommt, dass dieser im Grunde nur zweierlei vertrat: Füg auch nicht dem andern zu, was du nicht willst oder so ähnlich, und: Aufklärung heißt selber denken. Auf diese Weise gezippt geht sich der Kategorische Imperativ sogar samt biographischer und wirkungsgeschichtlicher Eckdaten seines Verkünders in den 15 Zeilen einer Teletexttafel aus. Das muss auch reichen für ein Publikum, das sich bekanntermaßen ganze mythologische Kosmen und philosophische Jahrhunderte am liebsten von Köhlmeier und Liessmann auf das Format von Märchenstunden vor- und zurechtkauen lässt.

Bezeichnend und irgendwie suspekt waren aber in den vergangenen Wochen die ungezählten Inanspruchnahmen des Königsbergers: Dass ihn sämtliche Feuilletons für ihre Kundschaft reklamieren würden, war zu erwarten; interessanter dagegen die politischen Ansprüche aus den ideologischen Ecken. Während hierzulande dogmatische Kommunisten Kant gegen die "transformatorische Linke" in Schutz nehmen zu müssen glauben (indem einer von ihnen die komplette "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" in ein Internet-Forum postet), mutiert er in anderen Foren rasend zum "rabiaten Rassisten". Bei Ö1 ruft atemlos ein stimmbrüchiger No-Global an, der endlich enthüllt wissen möchte, dass Kant ein früher Apologet des Neoliberalismus sei, was er der verdutzten Studiobesetzung auch durch ein Zitat aus dem "Schwarzbuch Globalisierung" zu belegen weiß.

Zwei Attribute sind allerorten die unverfänglichsten, wenn über Kant geschrieben werden soll, wie hochaktuell er nämlich sei und wie ungeklärt noch viele seiner Fragen, allen voran – aus heutiger Sicht – wo sich denn die Vernunft verschanzt habe, "als Auschwitz geschah". Niemand jedoch hat den "Mut, sich seines Verstandes zu bedienen" und auch nur zu ahnen, dass gerade in Auschwitz die Maxime der einzelnen Willen zum "Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung" geworden ist. Doch aller Aufwand, den Zusammenhang antiamerikanischer Ausfälle (die ja nie nur Amerikaner meinen) in ihrem Zusammenhang zur alliierten Beendigung des deutschen Mordens zu analysieren, verblassen angesichts der Neudeutung dieses Endes, das das Hamburger Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" wohl eher seiner Kundschaft, den Deutschen, als dem Jubilaren Kant zum Geschenk machte: "Der Zusammenbruch (...) der Nazi-Herrschaft lässt sich, zumindest im Nachhinein, als Sieg (der) selbstkritischen Vernunft über einen neuen Glauben interpretieren, auch wenn zum Ende (...) Selbsterschöpfung und die entschlossene Gegnerschaft ihrer Feinde beigetragen haben."

Spätestens wenn sich "entschlossene Gegnerschaft" mit der Erschöpfung der Mörder den Platz in einem mickrigen Konzessivsatz im Schatten "selbstkritischer Vernunft" teilen muss, ist der Wunsch am Platze, sie hätten den armen Kant doch einfach in Frieden ruhen lassen.

Malmoe #19 / 2004