Lehre

Was wir wissen sollten

Ingo Lauggas über ein Irak-Buch der anderen Art

Dass ein Historiker wie Philipp Sarasin Derrida bemühen muss um festzustellen, dass die USA nicht aus reiner Menschenliebe Kriege führen, sondern durchaus auch eigene Interessen damit verbinden, wurde an anderer Stelle bereits belustigt festgehalten (MALMOE 22); doch auch (politik)wissenschaftlicher formuliert bleibt von einem solchen "moralisierenden Vorwurf" nicht mehr als die "Feststellung einer Banalität". Mehr als banal wird eine solche Kritik überaus problematisch, wenn sie - wie heute immer üblicher - mehr oder weniger explizit mit diversen Verschwörungstheorien verbunden wird, die auch die biedersten FriedensapologetInnen mit dezidiert rechtsextremen Diskursen in Verbindung bringen. Wo Bush ein von einflussreichen Lobbys gesteuerter Trottel ist und ein orientalischer Diktator allemal sympathischer, der die Bevölkerung seines Landes tyrannisiert und ermordet, palästinensische Selbstmordattentate finanziert und Scud-Raketen auf Israel feuert, kommt auch hierzulande eine 'Friedensbewegung' zu sich und hält den Terror ba'thistischer Gruppen für Widerstand, werden deklarierte Antisemiten "nationale Befreiungskämpfer". Dies ist unter anderem dann möglich, wenn die Stimmen der irakischen Oppositionellen tunlichst nicht zur Kenntnis genommen werden, wenn die Einschätzungen jener, die in dem Land leben oder politisch und wissenschaftlich aktiv sind, in den von 'Nahostexperten' überfüllten Bücherregalen keinen Platz finden.

Höchste Zeit also, ein Plätzchen freizumachen für eine Neuerscheinung, die zu einem großen Teil den Einschätzungen irakischer Intellektueller, Politiker-, Journalist- und PolitologInnen vorbehalten ist, verbunden mit den Analysen österreichischer und deutscher AutorInnen, die sich "schon länger mit dem Irak beschäftigen". In der Sammlung "Irak - Von der Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie?" ist eine politisch alles andere als homogene Bandbreite von Texten enthalten, die verdeutlicht: Auch jenseits von islamischem Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Antisemitismus bietet der Irak genug Stoff für anspruchsvolle Kontroversen.

Der Band (dem alle Zitate dieses Textes entnommen sind) blickt zunächst auf das "blutige 20. Jahrhundert" zurück, um dann das Verhältnis von Europa und der USA zum Irak zu untersuchen, die Gründe für den Krieg und das Verhalten dazu. Im letzten Teil wird versucht, Perspektiven für den "neuen Irak" zu entwickeln, die unter anderem entlang so zentraler Fragen wie Demokratie, Föderalismus und Säkularismus diskutiert werden. Da davon auszugehen ist, dass uns im Zuge der Parlamentswahlen eine massenmediale Informations- und Analyseflut bevorsteht, bietet das Buch ausgezeichnete Gelegenheit, sich in die Materie in einer Weise einzulesen, die die Agenturmeldungen erst versteh- und entschlüsselbar macht.
So etwa in die Geschichte des Landes, Form und Ideologie des ba'thistischen Regimes, dessen Spuren den Irak prägen. Gerade diesbezüglich ist es gewinnbringend, sich mit den unterschiedlichen Ansätzen zur Einordnung zu befassen, reicht die Charakterisierung von Saddams Herrschaft doch von "national-islamisch" über "nationalistisch-chauvinistisch" bis "faschistisch", an einer Stelle wird der "Ba'thismus zum legitimen Erben des Nationalsozialismus". Diese Analogien sind nicht als Provokation gemeint und nicht immer werden sie mit der nötigen Sorgfalt eingesetzt, die durch die Gefahr geboten ist, die Kraft einer bestimmten Terminologie in Bezug auf Österreich und Deutschland zu schwächen, indem ihre Referenz auf den Irak ausgedehnt wird.

Zusätzlich zu einer Kritik Europas und seiner Friedensfreunde, die zwar nichts substanziell Neues enthält aber durchaus lohnt, in dieser kompakten Form einmal festgehalten zu werden, ermöglicht das Buch, allerorten umherschwirrende Chiffren endlich mit einem Hintergrund zu versehen, ob es nun positive Schlagwörter sind (wie 'Linke im Irak', 'Widerstand von Frauen') oder negative ('Falluja'). Auch mit dem Krieg und seinen Folgen setzen sich die Texte auseinander, er wird von den AutorInnen keineswegs einheitlich eingeschätzt, doch die differenzierten Argumente der Kritik heben sich wohltuend von den gängigen antiamerikanischen Dumpfheiten ab. Vielmehr wird darauf hingewiesen, dass etwa die jüdische Gemeinde ihre "relative Freiheit" mit Kriegsbeginn eingebüßt hat, dass sexualisierte Gewalt gegen Frauen als gesellschaftliche Normalität nach der Befreiung noch zunahm oder dass die alliierten Truppen am gegenwärtigen Terror durch strategische Fehleinschätzungen Mitschuld tragen, wodurch nun die alles überschattende Sicherheitsfrage "die Gefahr einer autoritären Entwicklung" im Irak birgt.
Die Texte sind zum Teil hochaktuell und arbeiten auch noch jüngste Entwicklungen ein, doch ist dies ein zweischneidiger Vorzug: Der erhobene Anspruch, über die kurzlebige journalistische Analyse hinauszugehen, bleibt dadurch nicht an allen Stellen gewahrt, manche Einschätzungen werden schon bald an der Entwicklung verifizierbar sein und das Buch veralten lassen. Doch die Antwort darauf kann nur ein Folgeband sein, was angesichts des Niveaus dieser Publikation definitiv wünschenswert wäre.

Mary Kreutzer, Thomas Schmidinger (Hg.): Irak - Von der Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie? Freiburg 2004

Erschienen in Malmoe # 24 / 2004