Lehre

Engagierte Intellektuelle

Ein selektiver Streifzug durch Theorie und Geschichte einer/s lebendigen Untoten.

Auch wenn das verbreitete Missverständnis, mit dem spezifischen Begriff „Intellektuelle“ würden ganz allgemein künstlerisch oder akademisch gebildete Menschen bezeichnet, relativ rasch ausgeräumt ist, wird das Dickicht bei der Annäherung an diesen Begriff dadurch kein bisschen lichter: Die Klärung weist uns lediglich den Eingang ins Feld. Die erste Feststellung, die also zu treffen ist, besteht darin, dass die Unterscheidung zwischen Beschreibung und Entwurf der Intellektuellen-Gestalt oft nur schwer auszumachen ist: Die Klassiker, die sich damit befassten, changieren behände zwischen den Fragen, was Intellektuelle sind, was sie tun und was sie (sein oder tun) sollen.

An einer Gemeinsamkeit können wir uns zunächst orientieren, nämlich dem Gemeinplatz, dass intellektuelles Agieren immer mit Kritik zu tun hat, auch und vor allem an sich selbst und ihres-/seinesgleichen. Und mit dem nächsten Gemeinplatz kassieren wir auch gleich eine unverfängliche Definition: Es sind die Intellektuellen, die sich fragen, was denn Intellektuelle sind. Diese Feststellung ist aber nicht mehr als Rhetorik, wenn sie diesen Gedanken nicht zu Ende denkt und sich darauf beschränkt, dass sich Intellektuelle eben in der (sozialen) Lage befinden, sich derart selbstbezügliche Fragen stellen zu können. Vielmehr gilt es festzuhalten, dass sich die aufklärerische Implikation des Intellektuellen-Begriffs eben daraus ergibt, dass Intellektuelle im Sinne der Aufklärung sich per definitionem hinterfragen und reflektieren müssen.

Universelle Wahrheit

Aufklärung also, da müssen wir beginnen, und zwar bei Voltaire. Seine Initiative zur Rehabilitierung eines nach einem fadenscheinigen Prozess grausam hingerichteten Protestanten namens Calas gilt als Geburtsstunde der „Intellektuellen“, ohne dass es noch einen Begriff dafür gegeben hätte. Denn Voltaire investierte sein öffentliches Ansehen als Schriftsteller in eine regelrechte Kampagne, für die er all seine Kontakte mobilisierte. Erfolgreich war er, weil er sich „die Öffentlichkeit“ zu Nutze machte, die in dieser Form auch gerade erst entstanden war, als eine „unsichtbare Macht“, wie ein Zeitgenosse ehrfurchtsvoll schrieb, die „ohne Armee Gesetze gibt, die selbst im Schlosse des Königs befolgt werden“. Ein weiteres Merkmal vervollständigt das Profil des aufklärerischen Intellektuellen: Er (sic) agiert im Namen universaler Werte, für die er sich zuständig erklärt. „Intellektuelle“ Politik hat also immer schon gleichermaßen einen ethischen Einschlag, wie „Engagement“ als solches „einem schon den Touch des 18. Jahrhunderts“ gibt, wie der Soziologe Pierre Bourdieu einmal ironisch feststellte.

In diese Tradition explizit eingeschrieben hat sich der Schriftsteller Émile Zola im Zuge der Dreyfus-Affäre, als er 1898 gemeinsam mit anderen das berühmte „Manifest der Intellektuellen“ verfasste, mit dem seine Kampagne für den in antisemitischer Hetze desavouierten Hauptmann Alfred Dreyfus ihren Höhepunkt erreichte. In diese Jahren lässt sich auch recht präzise die Entstehung des Wortes „Intellektuelle“ datieren, welches ursprünglich eine gegen die Dreyfusards gerichtete Schmähung war und von dem es heißt, es sei bezeichnenderweise nur in Frankreich kein Fremdwort. Nimmt gemeinhin jede Intellektuellen-Geschichte bei Zola ihren Ausgang, so sind bei seinem Engagement zwei Aspekte festzuhalten, die sämtliche Intellektuellen-Begriffe bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägen: Erstens macht sich ein Schriftsteller für eine Angelegenheit zuständig, die vordergründig nicht in seiner Kompetenz liegt; und zweitens werden in diesem Sinne auch jene Engagierten zu Intellektuellen, die mit dem landläufigen Verständnis dieses Begriffs nicht gemeint sind, die also weder studiert noch einen geistigen oder künstlerischen Beruf haben.

Klassen/Kampf

Am prägnantesten wurde dieses Verständnis, das Intellektuelle nicht über ihren Status, sondern über ihre Funktion in der Gesellschaft definiert, von Antonio Gramsci in seinem Konzept der „organischen Intellektuellen“ ausformuliert. Wenn er sagt, „alle Menschen sind Intellektuelle“, so ist das nicht als frühes Plädoyer für den freien Hochschulzugang misszuverstehen, sondern es meint, dass jede Klasse ihre eigene „Elite“ hervorbringt: Personen von politischer, technischer, administrativer oder eben auch akademischer Intelligenz, welche die AkteurInnen in der Zivilgesellschaft sind, die Hegemonie und Konsens ausverhandeln. Das heißt, dass Gramscis Intellektuelle als Funktionäre des Überbaus genauso wenig wie die „Zivilgesellschaft“ per se politisch positiv besetzt sind. Ein Prototyp des engagierten Intellektuellen, der sich in „eigenartiger Durchdringung von Diagnose und Rezept“ (Demirovic) ausführlich um besagten Selbstentwurf bemüht hat, war Jean-Paul Sartre. Zwar bezieht er sich auf Gramsci und beruft sich auf Zola, doch sagt er, dessen „goldenes Zeitalter“ sei vorbei: Zu seiner Zeit könnten die Intellektuellen, die für ihn zwangsläufig der bürgerlichen Klasse entstammen, über diese Herkunft nicht mehr hinwegsehen und dann noch meinen, universelle Werte zu vertreten, denn die bürgerliche Klasse ist längst nicht mehr die allgemeine. Sartres Intellektuellen-Definition fordert, die Zerrissenheit zwischen Universalismus des Wissens und Partikularismus der Klassenzugehörigkeit durch politischen Kampf auf Seiten des Proletariats zu durchbrechen und „sich in allen Konflikten unserer Zeit zu engagieren“ – womit auch das Motiv der Überschreitung von Zuständigkeiten wieder gegeben ist, die Sartre exemplarisch vorgelebt hat.

Was jetzt?

Nach all den antiquierten Begriffen von Universalität und Klasse, von Werten und Wahrheit, ist es Zeit, in die Gegenwart zu finden, und es stellt sich die Frage, ob sich davon überhaupt noch etwas mitnehmen lässt? Ja, sagt Michel Foucault, nur müsse man den „transzendentalen Narzissmus“ eines Sartre hinter sich lassen und erkennen, dass nicht mehr die Frage umkämpft ist, was „wahr“ ist, sondern was als wahr gilt. Der Kampf lohnt dort, wo Intellektuelle in konkreten Arbeits- und Lebenszusammenhängen Kompetenz erwerben und ihr spezifisches Wissen dem Wahrheitsregime entgegenhalten – und sich dadurch genauso auf Seiten der Marginalisierten und Unterdrückten schlagen. Damit verabschieden sich Foucaults „spezifische“ Intellektuelle, wenn sie sich vernetzen, genauso wenig von einem universalisierbaren politischen Kampf wie die „kollektiven“ Intellektuellen bei Bourdieu: Als Teil eines Netzwerks soll die für eine Frage jeweils kompetenteste Person unter geschickter Nutzung moderner Kommunikationsmittel öffentlich politisch intervenieren.

Die gesellschaftliche Arbeitsteilung gerät freilich auch bei Bourdieu nicht aus dem Blick, und wenn man sie wie die Autoren von „Empire“, Toni Negri und Michael Hardt, mit Fokus auf die zentrale Bedeutung immaterieller Arbeit analysiert, ergibt sich auch daraus Potenzial für intellektuelles Handeln. Negri/Hardt sehen nämlich in immateriellen Gütern wie Wissen, Kommunikation oder Kultur das Potenzial einer „gesellschaftlichen Dispersion“ dessen, was intellektuelle Arbeit ist, und somit eine demokratische, das Empire bedrohende „Massenintellektualität“.

Was tun?

Sich neue Handlungsfelder zu erschließen, ist in all diesen Beispielen der zentrale Akt der Intellektuellen. Er bleibt aber nur wirksam, wenn er als solcher immer wieder gesetzt wird, wenn die Ergebnisse, die er zeitigt, stets auch als veränderte Ausgangslage dafür wahrgenommen werden, ihn von Neuem zu unternehmen. Sich in diesem Sinne „intellektuell“ zu nennen, muss implizit auch heißen, sich auf die damit verbundene Überschreitung gleichermaßen zu beziehen wie auf die Möglichkeiten, die sie eröffnet. Intellektuelle sind und bleiben Privilegierte, allein indem „sie überhaupt noch Denken gegenüber der nackten Reproduktion des Daseins sich gestatten“, wie Theodor W. Adorno formulierte (dem das Schlusswort zu überlassen auch zum Standardrepertoire eines intellektuellen Artikelschreibers gehört, der weiß was sich gehört): „Indem sie es beim Denken belassen, deklarieren sie die Nichtigkeit ihres Privilegs.“

Erschienen in MALMOE # 46 (Juni 2009)

Nach oben