Lehre

Hemmungslose Latenz

Beinah wäre nach dem üblen Gezänk um Mozart das beste Bonmot bei der ZDF-Wahl zum größten Deutschen aller Zeiten verloren gegangen: Die UserInnen konnten auf dem Webformular nur schwer daran gehindert werden, massenhaft für Hitler zu stimmen. Gewonnen hat schlussendlich Adenauer, und wer darin einen Widerspruch zur beschriebenen Fehleinschätzung des deutschen Wahlverhaltens sieht, irrt: "Die spießige Innerlichkeit der Adenauerzeit, die scheinbar den äußersten Gegensatz zu den in Bewegung gesetzten Massen des NS bildet, ist in Wahrheit die selbsttätige Einlösung des nazistischen Traumbilds von Gesellschaft."
Folgende Annahme wohnt dem inne: Der Nationalsozialismus lebt in seinen Nachfolgestaaten fort, und zwar nicht nur auf den bekannten ökonomischen Fundamenten von Vernichtung und Zwangsarbeit oder am "ewiggestrigen" Rand, sondern mitten in der strukturellen Verfasstheit dieser demokratischen Gesellschaften selbst.

Vor 2 Jahren war diesem Thema ein Kongress in Wien gewidmet, der weniger wegen seines Programmes als seiner Einladungspolitik für Unmut sorgte: Nicht nur war den veranstaltenden Gruppen für's Podium "trotz längerer Debatten keine Frau eingefallen", wie es hieß, einer der Referenten hatte sich darüber hinaus durch einen Artikel ins Eck gestellt, in welchem er ein Ende des weiblichen Definitionsmonopols von Vergewaltigung forderte. Nun ist ein Buch erschienen, das überarbeitete und aktualisierte Beiträge des Kongresses sammelt, diese Vorgeschichte aber tunlichst verschweigt; schade eigentlich, sie wäre eine gestochen scharfe Vorlage für die im Band geforderte permanente "Reflexion der Bedingungen von Praxis" gewesen.

Das "Nachleben des NS in der Demokratie" also, es macht deutlich, dass letztere genauso wenig in Widerspruch zu ersterem steht, wie sich der Faschismus dagegen sträubt, demokratisiert zu werden; seine Ideen sind nicht nur IN der Demokratie lebensfähig, sondern gerade auch DURCH sie. Dies ist das den Beiträgen zugrundeliegende Verständnis von "Postfaschismus", das im ersten Teil des Buches dargelegt wird: Es geht nicht um eine substanzielle, sondern um eine diachronische, qualitative Unterscheidung zwischen dem "historischen" und dem "ökonomisch-strukturellen" Faschismus unserer Zeit.
Dieser zeigt sich unter anderem durch eine Neudefinition der altbekannten Rolle des Staates als Vermittlungsinstanz zwischen Kapital und Arbeit, als Regisseur der "vollständigen Identifikation mit dem aggressiven Wohltäter, als der das kapitalistische System auftritt". Das macht einen repressiven Staat nun überflüssig, die faschistischen Strategien werden lediglich in "Impfstoffdosierung" zur Verfügung gehalten. Hier spielen auch die Gewerkschaften mit, was zeige, "wie sehr sie bereits hinter dem (…) aus rein kapitalsystematischen Gründen praktizierten Konsum stehen, wie sehr sie also (in einem spezifischen) Sinn faschistisch organisiert sind." Solch Determinismus muss bei der Lektüre des Buches schon verkraftet werden, wie auch eine bestimmte Kulanz nicht schadet, wenn dann und wann der konstatierte gesellschaftliche "Wahn" argumentatorische Schwachstellen durch die Hintertüre entsorgt.

Doch zurück zur Konsenspolitik: Ein nützlicher Text zur sozialpartnerschaftlichen Normalität leitet den "Österreich"-Teil ein und verdeutlicht, wie nahe "genuin faschistische und rechts-sozialdemokratische Grundsätze" einander sein können, wie sehr die oben beschriebenen Merkmale hierzulande noch zugespitzt durch "österreichische Sonderwege" anzutreffen sind. Daraus folgt: Weder ist die blau-schwarze Regierung ein wesentlicher Bruch zu ihrer Vorgeschichte (sondern vollendet sie vielmehr), noch ist Haider ein Anti-Demokrat außerhalb welchen Bogens auch immer. Vielmehr personifiziert er das "österreichische Syndrom" und ebnet den Weg, "ohnehin vorhandene faschistische Elemente gesellschaftlich wirksam werden zu lassen." Dies alles kommt in einem Plauderton daher, der angesichts der zwangsläufigen Nähe zum 1000sten FPÖ-Definitionsversuch spürbar lustlos wird, wo er Altbekanntes rezipiert. Die Thesenhaftigkeit des sozialpsychologischen Zugangs hebt sich davon wohltuend ab, auch weil er illustriert, wie die Annäherung an kollektive Mechanismen zur Analyse ihrer Manifestationen wesentliche Beiträge leisten kann, ohne das politische Faktum pathologisierend auszuhöhlen. So funktioniert nämlich eine leider immer noch unterrepräsentierte Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Antisemitismus und Rassismus, die nämlich "nicht deren Objekte zum Gegenstand (hat), sondern deren Subjekte".
Dies alles werde vom zivilgesellschaftlichen Mainstream, der gegen Schwarzblau auf die Straße ging, verdrängt, verkannt, verleugnet. Seine Staatsfixiertheit, die selektive Wahrnehmung von Gewalt und die Blindheit gegenüber der "barbarisch" sich entpuppenden Demokratie ließen ihn alles "wiederholen, was die Linke nach 1945 falsch gemacht hat".

Die Prämissen der Argumentationen des Buches, so heterogen sie sein mögen, sind nachvollziehbar und solide dargestellt; nur bei genauerem Hinsehen wird klar, dass sie allerdings häufig auch mit deren Ergebnis ident sind; "rhetorische Form des Mythos" würde Barthes das nennen, andere schlicht Rechthaberei. Doch andererseits: Rechthaberei ist immer noch dort am erträglichsten, wo sie recht hat.

 

Grigat (Hg.): Transformation des Postnazismus. Der deutsch-österreichische Weg zum demokratischen Faschismus. Freiburg 2003