Lehre

Das Pferd bleibt

"Der Krieg ist die einzige Hygiene der Welt", fand Filippo Tommaso Marinetti, Gründungsfigur des Futurismus, der den Militarismus und "all die schönen Ideen, für die man stirbt" verherrlichte. Die derzeit laufende "Futurismus"-Ausstellung im Kunstforum lässt ausgerechnet davon wenig erkennen, wie sich im Gespräch mit der Literaturwissenschafterin Renate Lunzer herausstellt


Lauggas:
Mein etwas zynischer Gedanke bei dieser Ausstellung war, dass den AusstellungsgestalterInnen nichts Besseres passieren konnte, als ausgerechnet in dieser weltpolitischen Phase eine Futurismus-Ausstellung zu machen, weil ja der Umgang mit Krieg und Kriegerischem tagtäglich in den Medien vorgeführt wird. In der bildenden Kunst des Futurismus äussert sich die Faszination für Maschinen und Geschwindigkeit u.a. auch in der Darstellung von Flugzeugen, was mit diesem eigenen Terminus der "Aereopittura" ["Flugzeugmalerei"] bezeichnet wurde. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die derzeitige Kriegsberichterstattung, in der Waffensysteme mit unverhohlener Faszination vorgestellt werden, eine sehr moderne Form der "Aereopittura" auf CNN ist.

Lunzer:
Das stimmt. Aber gerade diesen Diskurs kann man eigentlich in dieser Ausstellung nicht nachvollziehen. Ich finde, dass das Thema Krieg in der Ausstellung nicht besonders thematisiert wird.

Was eigentlich überraschend ist, das Thema Krieg ist doch bei den Schlagwörtern des Futurismus ganz vorne, oder?

Die Frage ist, was man mit so einer Ausstellung will. Ich hatte auch bei der grossen Ausstellung zum Futurismus vor zwei Jahren in Rom den Eindruck, dass man diese negativen und destruktiven Seiten der futuristischen Bewegung nicht unbedingt in den Vordergrund stellen will. In diesem Zusammenhang ist auch interessant, was in dieser grossen Didaskalie neben dem Eingang, also am Anfang der Ausstellung zu lesen ist, dort steht nämlich: "Die weitere Genese des Futurismus ist in einem historischen Rückblick aus heutiger Sicht nicht unproblematisch, war doch Marinetti dem italienischen Faschismus trotz einer gewissen Skepsis gegen Benito Mussolini eng verbunden." Das ist eindeutig unrichtig, denn man müsste wirklich feststellen, dass am Anfang des Futurismus, im ersten "Futuristischen Manifest" von 1909, die Gewalt und der Krieg verherrlicht sind, zusammen übrigens im gleichen Satz mit der Verachtung der Frau, wenn ich mich recht erinnere. Diese Seiten des Futurismus sind in der Ausstellung wenig thematisiert, es kann sein, dass dazu im Ausstellungskatalog breiter Stellung genommen wird; ich habe ihn durchgeblättert, da ist ein Beitrag von Schmidt-Bergmann drin, da war wohl ein Hinweis auf die Verwicklung in Krieg und Faschismus, aber man kann nicht von jedem Ausstellungsbesucher annehmen, dass er sich den Katalog kauft.
Diese Themen gehen also unter, aber das Ziel der Ausstellungsmacher ist wohl doch eher das, eine kulinarische Ausstellung zu bieten, die einen gewissen Überblick über die figurativen Künste gibt und weniger die Ideologie des Faschismus zu thematisieren.

In diesem Manifest, das ganz klein in einer Ecke auch in deutscher Übersetzung stark verkürzt nachgelesen werden kann, ist auch eine der berühmtesten Provokationen von Marinetti zitiert, nämlich dieses Loblied auf das schnelle Auto, das allemal schöner sei als die "Nike von Samotrake". Um jetzt nocheinmal den Bezug zur Gegenwart herzustellen: Ich habe mich erinnert gefühlt an die "grosse Provokation" des US-Verteidigungsministers Rumsfeld, der vom "Old Europe" gesprochen hat, das sich an diesem Krieg gegen den Irak nicht beteiligen will. Ist das eine Provokation, die in die gleiche Kerbe schlägt?

Ja, ich denke schon, dass man da Parallelen sehen kann und muss. Das ist diese ikonoklastische Geste, die aus einem bestimmten Hass gegen alles Alte, aus einem bestimmten Kulturhass heraus kommt. Auch dieser Aspekt geht bis zu einem gewissen Grad unter, dass die militanten Avantgarden ein ungeheures Potenzial an Destruktion an sich haben. Hier ist es eben der Wunsch, die Nike von Samotrake zu zerschlagen, und Rumsfeld versteigt sich nicht einmal mehr bis zur Nike von Samotrake, bei ihm geht das dann auf weniger elaborierte Weise, er spricht nur von "Old Europe".

Das antike Griechenland ist doch auch ein Sinnbild für "Old Europe".

Selbstverständlich, Griechenland ist Sinnbild des "Old Europe". Man könnte auch einfach bei Marinetti hineinschauen und alle anderen Orte, Orte des Gedächntisses heraussuchen, die "Old Europe" symbolisieren, z.B. seine Tiraden gegen Venedig, das als Lotterbett aller europäischen Touristen verunglimpft wird, usw. Dann auch die Vorschläge später in politischen Schriften, schon zur Zeit des sich entwicklenden Faschismus, dass man die Kunstschätze verkaufen soll und ähnliches. Man sieht hier wirklich diesen tiefgehenden Kulturhass, die ikonoklastische Geste, die das zerschlagen will, was viele Generationen und Jahrhunderte vorher aufgebaut haben.

Diesen Kulturhass würde ich dann, wo es dezidiert auch gegen Bibliotheken geht, nicht nur gegen Museen, die als "cimiteri" [Friedhöfe] bezeichnet werden, wo der Aufruf ergeht, die Regale in den Bibliotheken anzuzünden, auch als Anti-Intellektualismus bezeichnen. Aus der Perspektive in Österreich, wo ja die Intellektuellenfeindlichkeit eine wichtige Säule des zentralen gesellschaftlichen Antisemitismus ist, frage ich mich: Welche Rolle könnte im Kontext des Futurismus die Intellektuellenfeindlichkeit spielen?

Das ist auch das Problem dieser völligen Ambivalenz des Futurismus, denn man muss natürlich jemanden wie Marinetti bis zu einem gewissen Grad auch als Intellektuellen bezeichnen. Ich frage mich, ob man hier von Intellektuellenfeindlichkeit sprechen kann ...

Oder richtet sich das nur gegen die tradierte Form der Bildungsinstitutionen?

Vielleicht könnte man schon bis zu einem gewissen Grad von Intellektuellenfeindlichkeit sprechen; wenn sie anfangen, die intellektuelle Tradition an einem bestimmten Punkt abzuhauen, müsste man eigentlich schon von Intellektuellenfeindlichkeit sprechen. Ein anderes Problem ist natürlich, dass Marinetti selber innerhalb des italienischen Faschismus eine bedeutende Rolle einnimmt als Intellektueller, aber das können wir dann mit vielen Fragezeichen versehen. Ich denke also schon, dass man von Intellektuellenfeindlichkeit in dem Sinn sprechen kann, dass eine kulturhistorische Tradition durchgeschlagen und abgehauen wird. Man liefert dann dafür etwas anderes, oder bietet etwas anderes an, und das andere, das angeboten wurde, wären dann die grossen Verdienste des Faschismus für die Entwicklung der europäischen Avantgarden, das müsste man sich doch sehr genau anschauen. Bei all diesen Ausstellungen über den Futurismus in den letzten Jahren ist doch immer im Vordergrund zu sehen: Marinetti als Vater der Avantgarde. Marinetti, der den Paroliberismus und neue Techniken in die Literatur einführt. Es gibt hier eine grosse Ambivalenz.
Ich versuche den Faden aufzunehmen, der Hinweis auf Österreich. Wie war da der Gedanke?

Der Gedanke war, dass der Intellektuellenfeindlichkeit in Österreich eine klare Funktion im "normalen" antisemitischen Diskurs zukommt. Meine Frage war, ob die (von mit behauptete) Intellektuellenfeindlichkeit im Futurismus auch eine Rolle einnehmen könnte.

Ich sehe da wenige Verbindungslinien zwischen dem Futurismus und Österreich, in diesem Sinne, was die Intellektuellenfeindlichkeit betrifft.

Offensichtlich.

Die österreichischen Intellektuellen der Zeit konnten auf Marinetti ohnehin kaum gut zu sprechen sein, der ja ein glühender Kriegsbefürworter war. Er ist ja auch im deutschen Sprachraum zunächst in Berlin rezipiert worden, von den Leuten von Herwarth Walden und von den Leuten vom "Sturm", also nicht in Österreich, wie ja überhaupt die Vermittlung von Geistes- und Kulturgütern zwischen Italien und Österreich zu dieser Zeit vor dem 1. Weltkrieg nicht gut funktioniert hat. Da sehe ich keine Verbindungslinien, ich denke, die österreichische Intellektuellenfeindlichkeit hat wenig oder nichts mit dem Futurismus zu tun. Die ist auf sehr verschiedene Weise hausgemacht.

Im Gedanken an die zu überschwemmenden Museen ist es amüsant, im "Kunstforum" eine Ausstellung zu sehen, die sehr konventionell und frontal einfach Bilder zeigt, und von interessierten Leuten durchschritten wird, ich habe mich an das Publikum erinnert gefühlt, das sich von Handke beschimpfen lässt. Es wird durch den Besuch einer Ausstellung ein Ritual vollzogen, das eigentlich von dem, was ausgestellt wird, durchlöchert und bekämpft werden sollte.

Ja, und das obwohl so viel Gelegenheit gewesen wäre, bei einer solchen Ausstellung eben genau das zu zeigen oder zumindest anzudeuten, was die Futuristen dazu getan haben, um den Bürger zu verschrecken. Das programmatische "epater le bourgeois", d.h. die "serate futuriste" ["Futuristischen Abende"] ein bisschen klarer darzustellen und den Leuten einen Begriff zu geben, was das für ein Spektakel, was das für ein Zirkus war. Das ist mir eigentlich auch abgegangen.

Und genau die Aspekte sind es ja auch, die es einem auch so schwer machen, jenseits von der sachlichen oder kunsthistorischen Haltbarkeit Futurismus als Synonym für faschistische Kunst zu verwenden, weil ja sehr viel Antibürgerliches, Aktionistisches, Anarchistisches enthalten ist, das ja durchaus reizvoll – auch aus linker Perspektive – wirken kann. Ich denke z.B. an die "Cucina futurista" [Futuristische Küche], wo Menüs von hinten nach vorne konsumiert wurden, also vom Kaffee zum Aperitiv, und zwar mit den Händen und nicht mit Besteck, um dem Tastsinn wieder die Rolle zukommen zu lassen, die ihm gebührt. Oder auch diese geräuscherzeugenden Instrumente, die auch in der Ausstellung zu sehen sind, die "Intonarumori", wo es sehr wohl auch in der aktuelleren alternativen Musikgeschichte Ansätze gibt, in der Industrial-Music, bei den Einstürzenden Neubauten...

Ja, die Einstürzenden Neubauten haben mich immer sehr beeindruckt, die haben einen sehr schönen Namen gefunden.

Die machen doch auch etwas Ähnliches, die sind angetreten mit ihrem "Listen with pain", "Höre mit Schmerzen"; die haben also ganz ähnliche Konzepte gehabt wie dieser futuristische Ansatz: Eine Autofabrik kann ein Orchester sein.

Zur Anziehungskraft, die der Futurismus durchaus auch auf aufgeschlossene und linke Geister ausübt, kann man erzählen, dass sich auch Gramsci eine Zeit lang sehr für den Futurismus interessiert. Das heisst, auch hier wird wieder die ganze Ambivalenz deutlich, die sich auch in den politischen Manifesten entfaltet: 1918 Gründung der "Fasci politici futuristi" ["Futuristische politische Bünde"], wozu es ja auch überall Literatur und Programmschriften gibt, in denen durchaus auch linke Elemente waren: ein antiinstitutionelles radikales Sozial- und Wirtschaftsprogramm, sodass Gramsci sich eine Zeit lang wirklich für den Futurismus interessiert hat. Das also zum bereits gefallenen Wort Ambivalenz.
Ich glaube, der springende Punkt, der neuralgische Punkt ist immer der, wo diese Verherrlichung von Maschinen, dem Niederreissen der Nike von Samotrake und traditioneller Kulturgüter einmündet in eine Ästhetik des Krieges und der Gewalt. Dort ist dann der neuralgische Punkt.

Auf der Ebene der Literatur kann man doch das Beispiel von Vladimir Majakovskij heranziehen, um zu sagen: Man kann ausgehend von diesen futuristischen Ideen auch einen anderen Weg einschlagen als den faschistoiden und bellizistischen .

Man könnte, vielleicht.

Aber Sie glauben, dass das den Konzepten immanent ist?

Die Malerei und die Skulptur sind Bereiche, wo das nicht so deutlich zu verfolgen ist, aber bei Marinetti kann man sehr schön sehen, dass hier wirklich ästhetische Theorien Hand in Hand gehen mit Bellizismus, mit einer Ästhetik des Krieges und der Gewalt. Und das Interessante ist auch, dass die avantgardistische Tat Marinettis in der Literatur, wenn Sie so wollen, die Erfindung der "Mots en liberté" ["Befreite Wörter"], "Paroliberismus", ziemlich parallel mit den hohen Jahren des Krieges geht. Die Werke Marinettis, die am eindeutigsten paroliberistisch sind, also "L'aereo di Papa" ["Das Flugzeug des Papstes"] oder "Otto anime in una bomba", "Acht Seelen in einer Bombe", wobei Marinetti selbst die Bombe ist. Der paradigmatische Roman "Zang Tumb Tumb", der mit dem bulgarisch-türkischen Krieg einhergeht, wo Marinetti sich als Kriegsberichterstatter bewährt hat, ist paroliberistische Literatur, die parallel zum Krieg läuft. Und es flaut dann langsam ab. Die avantgardistische Entfaltung Marinettis ebbt dann langsam ab.

Aber warum dann diese Grosszügigkeit in der Rezeption des Futurismus? Wenn es z.B. im Ausstellungstext wörtlich heisst: "Aus heutiger Sicht muss man nachträglich sagen, dass es doch nicht unproblematisch war...", als wäre das nicht schon 1909 in diesem ersten Manisfest völlig klar nachzulesen zu gewesen. Diesen Eindruck habe immer wieder beim Umgang mit dem italienischen Faschismus oder auch mit der Zeit davor, z.B. auch bei der Terminologie des "Irredentismus", wo ich mir denke, "Irredentismus" würde gleich weniger harmlos klingen, wenn wir ihn "völkischen Nationalismus" nennen würden, der er doch eigentlich war. Liegt das nur daran, dass der italienische Faschismus nicht von der Gesamtbevölkerung getragen wurde wie der Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich, oder dass er eben nicht die systematische Vernichtung von Milionen von Menschenleben zum zentralen Anliegen hatte, dass man deshalb auch etwas grosszügiger mit den Leuten umgeht, die auf einer künstlerischen und intellektuellen Ebene mit den Boden aufbereitet haben?

Das ist jetzt wirklich eine interessante und ich glaube auch eine schwierige Frage. Warum unterdrückt man auch in der italienischen Diskussion die negativen, destruktiven Seiten von Kulturgrössen wie D'Annunzio, Marinetti, der futuristischen Bewegung überhaupt? Ich weiss es nicht, ich kann hier nur Hypothesen aufstellen. Zweifellos hat Italien im 20. Jahrhundert wenig so beeindruckende kulturelle Strömungen zu bieten wie den Futurismus, der als gesamtkünstlerische Bewegung von nicht wegzuleugnender Bedeutung gewesen ist. Und vielleicht ist es einfach der Versuch, ihn von seinen negativen Seiten zu entschlacken.
Dazu muss man sagen, das es ohnedies eine gewisse Zeit nach dem 2. Weltkrieg gedauert hat, bis man sich mit futuristischen Themen beschäftigt hat. Ich denke, in den Jahrzehnten, in der die Intellektuellen der Resistenza noch den Ton angegeben haben, war der Futurismus, Marinetti, D'Annunzio bis zu einem gewissen Grad Tabuthema. Aber die Frage ist schwer zu beantworten, warum man das zumindest bei solchen grossen öffentlichen Präsentationen bis zu einem gewissen Grad ausklammert. Als Parallelbeispiel haben wir diese Ausstellung über D'Annunzio vor drei Jahren in der Via del Corso - vom Banco di Roma und anderen Institutionen organisiert -, wo nicht einmal ein Wort verloren wurde über die Beziehungen von D'Annunzio und Mussolini, über das Maß, in dem D'Annunzio in die Enstehung des Faschismus involviert war. Das ist offensichtlich doch das Bestreben, Kulturgrössen von diesen negativen Seiten freizuhalten.

Womit dann aber doch leicht eine Parallele hergestellt werden kann zu anderen postfaschistischen Gesellschaften.

Das würde ich annehmen, ja. Und es ist ja auch interessant, dass man in der Zeit, wo die Rechte an die Regierung gekommen ist, eine solche Jubelausstellung zu D'Annunzio machen kann. Das hätte man vielleicht vor 15 Jahren auch anders gemacht, ich weiss es nicht.

Aber das jetzt in Österreich mit Schwarz-Blau zu verbinden, wäre auch abenteuerlich ...

Nein, das denke ich nicht, sondern hier steht einfach die bild-künstlerische Tätigkeit dieser Avantgarde im Vordergrund. Da müsste man sich überhaupt mal mit den Leuten unterhalten, die diese Ausstellung organisiert haben, wie weit die überhaupt vorgedrungen sind in diese Ideologie des Futurismus, von der wir jetzt reden.

Womit sich diese Leute offensichtlich nicht befasst haben, zumindest konnte ich es der Ausstellung nicht entnehmen, ist ein anderer Aspekt: diese inhaltliche Säule des Futurismus, die in einem Antifeminismus und in einem offen artikulierten Frauenhass betsteht. Das hat nämlich nicht ausgeschlossen, dass sich auch Frauen innerhalb des Futurismus engagiert haben; zum Beispiel mit recht interessanten Deutungen, einer weiblichen Adaption des Nietzsche'schen Superuomo [Übermensch]. Ich hatte den Eindruck, die Ausstellung thematisiert den Frauenhass nur sehr sekundär und thematisiert die Rolle von Frauen innerhalb des Futurismus gar nicht.

Abgesehen von diesem "Manifesto della donna futurista" ["Manifest der futuristischen Frau"], von dem ein Stück zu lesen ist, ein Text von einer der ersten Futuristinnen, wenn wir sie so nennen wollen, von Valentine de Saint-Point, was ein Pseudonym ist, ist in der Ausstellung tatsächlich – wenn ich gut geschaut habe – von Futuristinnen nichts zu sehen, auch nicht irgendwo in einem Nebensatz. Und dieser "Manifesto della donna futurista" ist auch ein ziemlich schwer verdauliches Dokument, da übermenschelt es ordentlich, da kommen "Übermensch, Helden, Genie, Mannheit, Weibheit..." usw., also da geht's ordentlich zu in diesem "Manifesto". Wir haben schon so oft das Wort der Ambivalenz des Futurismus und der Ambivalenz Marinettis fallen lassen, und hier ist es wieder am Platz: Auch dieser Frauenhass Marinettis war ja offensichtlich nicht so doktrinär, dass er es den Frauen völlig unmöglich gemacht hätte, sich dem Futurismus anzuschliessen. Es gibt einerseits die programmatische Verachtung der Frau – in diesem Zusammenhang ist übrigens auch das zweite futuristische Manifest "Töten wir den Mondschein" sehr interessant – und in den Texten Marinettis ein geradezu obsessiver Einsatz der sexuellen Metapher zur Darstellung von Gewalt und Krieg. Wenn man sich zur Zeit des Weltkrieges und kurz vorher entstandene Texte ansieht wie "La battaglia di Tripoli" ["Die Schlacht von Tripolis"] oder die schon erwähnten "Acht Seelen in einer Bombe", oder "L'alcova d'acciaio" ["Alkoven aus Stahl"]...

Da gibt es ja auch diese Kopulationsszene mit dem Vaterland...

Ja, richtig, das ist aus "L'alcova d'acciaio": Marinetti war Leutnant, der einen Panzerwagen gefahren ist, eine "auto blindata", und der Panzerwagen dient als Symbol der Frau oder des Vaterlandes, je nach Bedarf. In "L'alcova d'acciaio" haben Sie den obsessiven Einsatz der sexuellen Metapher. Andererseits ist es ihm doch offensichtlich gelungen, eine ganze Reihe von Frauen für den Futurismus zu begeistern, doch von denen erfährt man in der Ausstellung gar nichts. Es gab die Zeitschrift "Italia Futurista", in Florenz während des Weltkrieges gegründet, die war nicht sehr langlebig, vier Jahre glaube ich ist sie herausgekommen, bei der eine ganze Reihe von Frauen mitgearbeitet haben, z.B. Edith von Heinau, eine Österreicherin, die es nach Italien verschlagen hat, die ein Kind aus einer östererichischen Aristokratenfamilie war. (Das Witzige daran ist, dass einer ihrer Ahnen jener General von Heinau war, der sich als "Hyäne von Brescia" in die italienische Geschichte eingeschrieben hat und als "Henker von Arab" in die mitteleuropäische Geschichte; der nach dem 48er Aufstand in Ungarn reihenweise die rebellischen ungarischen Aristokraten hinrichten liess.) Oder Eva Kühn-Amendola, das war die Frau von Amendola, und noch andere Frauen, die zum Teil sehr ausführlich und sehr dezidiert zu Marinettis Frauenverachtung Stellung nehmen in dieser Zeitschrift "Italia Futurista". Kurz und gut: Es kommt nicht vor, sie kommen nicht vor, abgesehen von Valentine de Saint-Point.
Wenn wir schon von Ambivalenz reden: Sehr merkwürdig ist ja auch der Umschlag von diesem Frauenverächter Marinetti, wenn wir von seiner Biographie sprechen wollen, der von sich selbst sagt "Io sono l'uomo del coito veloce e violento." ["Ich bin der Mann des schnellen und gewaltsamen Koitus."] und eine Unmenge von ganz kurzen Verbinungen dieser Art mit Frauen eingeht, ein wüster trompeur de famme ist, und dann nach seinem vierzigsten Lebensjahr diese wunderschöne Benedetta Cappa heiratet, eine Futuristin, und ein völlig stinknormales Familienleben führt. Also offensichtlich gezähmt zum braven Familienvater.

Dieser Frauenhass kommt ja nicht nur in diesen sehr expliziten Statements und Manifesten zum Ausdruck, sondern auch sehr "indirekt" in diesem Begehren, Frauen verschwinden zu lassen über die Mechanisierung von Organismen. Dass also mit der Natur der Körper verschwindet und mit dem Körper die Frau verschwinden möge.

Ja, das ist ein ganz zentraler Punkt, diese Utopie des "Uomo metallizzato dalle parti intercambiabili" ["Metallmensch aus austauschbaren Einzelteilen"]. Diese Utopie ist ja schon ausgereift in einem der ersten Romane Marinettis (1910), wo am Ende des Romans ein ähnliches Wesen, ein Übermensch geboren wird, und zwar – wie Marinetti so schön sagt – ohne die Hilfe der Vulva. Dieser Gazurmach, der Sohn des Mafarca, dieser dem übermenschlichen Willen des Mafarca entsprungene Sohn, der ein Mittelding ist zwischen einem Flugzeug, einem Vogel und einem metallisierten Menschen, tötet dann seinen Erzeuger, der physisch degeneriert und schon älter ist. Das Alte, Degenerierte, Schwache wird vom metallisierten Übermenschen sowieso liquidiert. Das geht zusammen mit der Verachtung der Frau, mit der Verachtung der Natur, mit der Verachtung des Organischen.

Ich glaube das ist auch der Punkt, wo man auf die Beurteilung Marinettis durch Erich Fromm zu sprechen kommen müsste. Die mag nämlich sehr extrem ausgedrückt sein, aber es ist doch ein gerüttelt Mass an Richtigem und Wahrem dran, was Fromm feststellt. Man kann es nachlesen in der "Anatomie der menschliches Destruktivität", erschienen im Original 1973 in New York ("Anatomy of human destructivness"); dort nennt Fromm Marinetti schlicht und einfach einen Nekrophilen. Er zählt ihn zu den nekrophilen Charakteren, Fromm versteht unter Nekrophilie nicht die bekannte Perversion im herkömmlichen psychiatrischen Sinn, sondern er verwendet den Begriff im erweiterten Sinn nach dem spanischen Philosophen Miguel de Unamuno: "Nekrophilie ist das leidenschaftliche Angezogensein von allem was tot, vermodert, verwest und krank ist." Das würde man zunächst nicht mit der Maschine in Bezug setzen. "Die Leidenschaft, das, was lebendig ist, in etwas Unlebendiges umzuwandeln", und dazu zählt Fromm dann auch die Leidenschaft und das Interesse an allem, was rein mechanisch ist, "die Leidenschaft, lebendige Zusammenhänge zu zerstückeln." Und obwohl man ja wirklich den Begriff der Nekrophilie nicht mit der modernen Technik assoziieren würde, führt Fromm den Diskurs zu dem Schluss, dass die "leblose Welt der totalen Technisierung nur eine andere Form der Welt des Todes und des Verfalls ist." Man denke an die Umweltzerstörung durch die Technik, die auch von Fromm angeführt wird in diesem Zusammenhang. Und es ist ganz interessant, dass Fromm all diese Argumente pro und contra Marinetti, die wir nun schon besprochen haben, zusammenfasst: "Der augenfällige Zusammenhang zwischen der Destruktion und der Vergötterung der Technik hat seinen ersten expliziten Ausdruck bei Filippo Tommaso Marinetti, den Begründer des italiensichen Futurismus und lebenslangen Faschisten gefunden. Man hat von Marinetti gesagt", und jetzt kommen die ganzen Proargumente, "er sei ein Revolutionär gewesen, er habe mit der Vergangenheit gebrochen, er habe der Vision einer neuen Welt des Nietzsche'schen Übermenschen die Tore geöffnet und er sei gemeinsam mit Picasso und Apollinaire eine der wichtigsten Kräfte in der modernen Kunst gewesen. Ich möchte dem entgegenhalten, dass seine revolutionären Ideen ihm einen Platz in der Nähe Mussolinis und noch näher bei Hitler zuweisen. Sein erstes Futuristisches Manifest verkündet Ideale, die im Nationalsozialismus und in den zu Anfang des 2. Weltkrieges angewandten Methoden ihre volle Verwirklichung finden sollten."

Das sind natürlich starke Worte, aber es stimmt, dass in den Schriften Marinettis, die Fromm hier anführt, wirklich Diskurselemente zu finden sind, wie die Vernichtung von Schwachen und Alten, also genau von dem, was dann der Nationalsozialismus das "unwerte Leben" nennt. Man sieht, dass hier zumindest ganz stark sozialdarwinistische Diskurse geführt werden. Übrigens auch bei seinen Zeitgenossen, bei den Leuten von "Lacerba", das ja vor dem 1. Weltkrieg als Organ des Futurismus gedient hat, wenn Sie beispielsweise Aufsätze von Giovanni Papini lesen wie "Amiamo la guerra" ["Wir lieben den Krieg"] oder "La vita non è sacra" ["Das Leben ist nicht heilig"], sehen Sie: hier wird weit über das hinaus, was sich Marinetti jemals zu sagen traute, dieser sozialdarwinistische Diskurs in einer Art und Weise verfolgt, die man nur noch intellektuelles Rowdytum nennen kann. Und selbst wenn man hier das Bürger-Schrecken, epater le bourgeois, abrechnet, was Papini sicher wollte, dann muss man immer noch feststellen, dass diese Dinge wirklich so schrecklich sind, ich verwende jetzt absichtlich dieses naive Wort "schrecklich", dass man hier wirklich kein neutrales literaturkritisches Urteil mehr anwenden kann, sondern wirklich zu moralischen Urteilen schreiten muss. Ich befinde mich hier übrigens auf einer Linie mit Anderen, wie z.B. Ingeborg Bachmann, die genau von diesen Dingen ausgegangen ist in den "Frankfurter Vorlesungen", und das "Gasmasken-Ästhetik" nennt.

Um noch einmal auf diesen mechanisierten Körper zurückzukommen, auf diesen entkörperlichten Körper sozusagen: Diesbezüglich kann man doch sagen, dass der Futurismus nicht nur "futuristisch", sondern auch visionär war, aus heutiger Sicht. Da arbeiten ja heute ziemlich viele an dieser Vision, das ist ja keine Spinnerei mehr.

Absolut. Das war wirklich auch eine Überlegung, die mich auf's Äusserste fasziniert hat, vor eineinhalb Jahren, als ich diese Vorlesung "Der Krieg im Text" gehalten habe: Dass am Anfang des 20. Jahrhunderts und am Ende des 20. Jahrhunderts genau diese Menschheitsutopien - nennen wir sie einmal mit Marinetti "L'uomo metallizzato dalle Parti intercambiabili" ["Metallmensch aus austauschbaren Einzelteilen"] - das Jahrhundert wird von denen eröffnet und geschlossen!

Es bleiben aber doch noch Sehnsüchte über: Das ist das Pferd, das ja ein klassisches kriegerisches Symbol ist (auch bei Theweleit ist das ja sehr schön aufgeschlüsselt, welche Rolle es da spielt), das Pferd verschwindet nicht aus der futuristischen Kunst, auch in der Wiener Ausstellung gibt es mehrere Pferdebildnisse. Da sage ich, die könnte man doch leicht durch Panzer ersetzen, so wie ja schon in einem Gemälde von 1904 von Umberto Boccioni "Die Fuchsjagd aus dem Auto" dargestellt wird, ohne Pferd. Welche Sehnsüchte spielen da mit?

Vielleicht ist ja "das Pferd" in diesem Sinne konsakriert und im kollektiven Bewusstsein eingeprägt durch das Trojanische Pferd, das ja eine Kriegs-Maschine ist.

... sich somit seine kriegerischen Sporen schon verdient hat und drum bleiben darf?

Ja, das könnte sein. Ich wüsste nicht, warum es sonst gerade das Pferd sein sollte, das diese Restsehnsucht nach dem Natürlichen ausdrückt.
Was wir in diesem Zusammenhang auch noch anreissen müssten, wäre die Kritik von Benjamin an Marinetti, der ja hier einhakt bei der Ästhetisierung des Krieges, der Krieg als Fest, der die Konvivenz Marinettis mit dem Faschismus untersucht in "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit". Die Dinge sind ja alle schon gedacht worden und gesagt worden. Dass sie dann von Ausstellungsmachern nicht einbezogen werden, steht auf einem anderen Blatt, aber da müsste man eine Ausstellung eben anders konzipieren. (Es wäre übrigens interessant zu wissen, ob das tatsächlich die erste Ausstellung über den Futurismus seit 1912 ist.)
Anschauen sollte man sich die Ausstellung auf jeden Fall, wenn sie auch nur ein matter Abglanz der grossen Ausstellung ist, die man vor zwei Jahren in Rom sehen konnte. Teilweise ist sie ja auch wirklich unterhaltsam, wenn man sich besonders den hinteren Teil mit den Lärmmaschinen von Russolo ansieht oder die Konzeptionen der Futuristen, man kann sie ruhig infantil nennen, aus der Zeit, als Italien in den 1. Weltkrieg eintreten sollte: die Futuristen-Weste, das "Vestito antineutrale" ["Antineutrale Kleidung"], und alle diese Dinge. Ich will ja nicht zynisch sein, aber die sind alle auch sehr unterhaltsam, und wie gesagt etwas infantil.

Aber auch hochaktuell, oder? Die Vermittlung über Kleidung und Symbole, diese politische Geste.
Was ich auch sehr interessant gefunden habe, das waren diese Bilder von Francesco Cangiullo mit den Buchstaben, die auf die Universität gehen, das Bild heisst einfach nur "Università", man sieht so ein Gebäude, das monumentale Universitätsgebäude und die Treppe davor und die Buchstaben, die raufsteigen... Ich würde sagen, dass sind so diese ironischen, diese spielerischen Sachen, die vielleicht auch Teil der Erklärung für die Grosszügigkeit, für die Nachsichtigkeit gegenüber den politischen Implikationen sind.

Weil wir gerade von infantil geredet haben, es ist ja auch eine Marinetti-Collage zu sehen, auf dieser Collage waren auch irgendwelche Textilien, und da stand "Bombardaaaaaamennto – Bumm Bumm Bumm – Zang Tumb Tumb!".
Zu den Kleidern und ähnlichen Propagandamitteln der Futuristen: Ardengo Soffici, ein Lacerbianer, der sich dann von den Futuristen getrennt hat, hat den Marinetti dann ordentlich durch den Kakao gezogen, da gibt es aus dem April 1915 einen Artikel in "Lacerba", in dem er auf die politischen Propagandamethoden Marinettis losgeht:
Was muss man machen? "Erstens: ein schwarzgelbes Papierfähnchen verbrennen, in einer zentral gelegenen Strasse auf und ab gehen mit der Nationalfahne in der Rechten und der schwarz-gelben zu Boden gerichtet in der Linken; auf dreifarbigen Karten ein Motto mit dem jeweiligen Kalauer schreiben", also klarerweise 'marciare non marcire' ['marschieren und nicht faulen']; "bei Menschenaufläufen 'Hoch!' und 'Nieder' schreien, im Trikolorenanzug ausgehen. Sechstens: einen Polizisten ohrfeigen und für drei Stunden in der Polizeidirektion landen. Jede andere Auffassung von Politik ist nicht modern und daher auszuschliessen."

Das ist ein schönes Schlusswort.

 

Erschienen in MALMOE #13 / 2003