Lehre

Postmoderner Peronismus

Paolo Flores D'Arcais ist Philosoph in Rom und gibt die politische Zeitschrift "MicroMega" heraus, eines der wichtigsten Organe der linken Landeshälfte. Er gilt als bedeutender linker Theoretiker und beteiligt sich an sozialen Protesten. Und dann schreibt er noch Bücher und spricht über all dies mit MALMOE.


Ihr neues Buch handelt von der Dissidenz, was verbinden Sie mit diesem Konzept?

Ich vertrete die These, dass die Demokratie und der Totalitarismus die beiden extremen Punkte aller Möglichkeiten der politischen Organisation der Gesellschaft darstellen. Totalitarismus ist die höchste Form von Konformismus und der Negation jeglichen Dissenses. Demokratie in ihrer kohärentesten Form ist daher, wenn man sie ernst nimmt, jene Form, in der die Souveränität tatsächlich in den Händen der einzelnen Individuen in ihrer Eigenschaft als potenzielle Dissidenten liegt. So gesehen ist die ideale Demokratie eine, in der alle im Verhältnis zueinander häretisch sind. Doch die Bedingungen für potenzielle Häresie, für potenziellen Dissens sind durch eine Reihe von Faktoren eingeschränkt. Wie stark sie eingeschränkt werden, ist ein Indikator für den guten oder schlechten Zustand der Demokratie.

In meinem Buch halte ich mich nicht an die klassischen Definitionen von Demokratie, seien sie nun liberal oder im Sinne von Habermas republikanisch, vielmehr gehe ich von einer Minimal-Definition aus - ein Mensch eine Stimme - und versuche zu sehen, inwieweit eine Stimme tatsächlich Ausdruck einer autonomen Entscheidung ist, und welche Faktoren hingegen diese Autonomie beschneiden und den Konformismus der einzelnen Individuen bestärken. Meine Überlegungen gehen von den materiellen Bedingungen aus, ich meine damit zunächst bestimmte Gewaltverhältnisse: Wir kennen Systeme mit freien und demokratischen Wahlen, die aber von Gewalt bestimmt werden. Das emblematischste Beispiel dafür ist Kolumbien, wo Präsidentschaftskandidaten ermordet werden, und wo die Wahlen zwischen zwei Anschlägen der Drogenhändler stattfinden; auch wenn hier die Wahl geheim ist und regulär durchgeführt wird, kann man nicht von einer Demokratie sprechen.

Und dann befasse ich mich mit den anderen materiellen Faktoren, die die Entscheidungsfreiheit beeinträchtigen - es geht um ein Minimum an Sicherheit aus der Sicht der Gesundheit: ein Haus, Bildung, die minimalen Elemente also der materiellen Reproduktion. EinE BürgerIn kann ihre Rechte nur wahrnehmen, wenn es möglich ist, den Körper zu ernähren und vor Krankheiten zu schützen, ein Dach über dem Kopf zu haben, wenn die Kultur und die Bildung vorhanden sind, eine Entscheidung zu treffen. Wir sind es nicht gewohnt, diese Aspekte in Zusammenhang mit dem grundlegenden Wahlrecht zu bringen, wir sehen sie als etwas Zusätzliches, als eine Wohlfahrtspolitik, die es geben kann oder auch nicht, ohne aber das demokratische Prinzip als solches in Frage zu stellen. Ich versuche zu zeigen, dass das eben nicht so ist, dass das Fehlen eines Sozialstaates, der irgend eine Form von Gleichheit oder zumindest elementare Lebensbedingungen garantiert, das freie und gleiche Wahlrecht unmittelbar beeinträchtigt. Es ist daher sinnlos zu sagen: Es gibt ein bestimmtes Wahlprozedere und das ist demokratisch, und dann gibt es eine Labour-Politik für Haus und Gesundheit oder eine Tatcher-Politik gegen Haus und Gesundheit, aber beide sind gleichermaßen demokratisch. Ich behaupte, dass das nicht wahr ist, eine harte tatcheristische Politik, die das Recht auf Gesundheit nicht garantiert, betrifft indirekt das Wahlrecht.

Und schließlich behandle ich die anderen Aspekte, die das Wahlrecht beeinträchtigen, die effektive Möglichkeit, frei und autonom zu wählen, also die Medienwelt, die Organisation und Finanzierung von Wahlen und Wahlkämpfen und so weiter.

Bei der Rede von Massenmedien kommen wir unweigerlich zum Phänomen Berlusconi, mit dem Sie sich ausgiebig beschäftigt haben und dem Sie mit "MicroMega" eine bedeutende Gegenöffentlichkeit entgegensetzen. Sie haben in einem Artikel ausführlich Piero Gobetti zitiert (Anm.: liberaler Parteigründer, 1926 von den Faschisten ermordet) und die These vertreten, dass Italien ein Land war, dem eine bestimmte Normalität abging, weil eine bürgerliche Revolution nie stattfand. Mit den Schmiergeldskandalen von Mani Pulite sei eine Art "westliche Normalität" hergestellt worden, von Bürgerlichkeit und Legalität. Berlusconi sei es aber durch seine Machtergreifung und die Gesetze, die er umgehend gemacht hat, gelungen, diese Normalisierung wieder rückgängig zu machen. Wie sehen Sie diese Situation heute, ist sie nun "normal" geworden, kann man noch problematisieren was geschieht, skandalisieren, was skandalös ist?

Gobetti war der Meinung, das historische Problem Italiens bestünde darin, dass es keine konservative Partei gab, die diesen Namen auch verdiente, eine liberale Rechte. Wir reden hier von vor 80 Jahren, seine Analyse betraf die präfaschistische Zeit und warnte vor den Gefahren des Faschismus - Gobetti behauptete, dass es in Italien nie eine konservative Rechte gegeben hatte, die die kapitalistischen Werte des Marktes respektierte und ernst nahm. Denn vom ökonomischen Standpunkt hat die Rechte immer auf die Hilfe und die Begünstigungen des Staates gezählt, es hat also nie eine Ökonomie, einen Kapitalismus im weberschen Sinne gegeben. Und vom politischen Standpunkt hat es nie Liberale im angelsächsischen Verständnis gegeben, sondern immer nur eine autoritäre Rechte. Deshalb besteht das historische Problem Italiens darin, keine konservative Partei zu haben, die diesen Namen auch verdient: politisch liberal und die Konkurrenz des Marktes respektierend.

Ich habe ihn zitiert, weil nach 80 Jahren das Problem das selbe ist: Die sogenannte Rechte besteht in Italien aus Forza Italia, Berlusconis Firmen-Partei, die eine sehr reiche und postmoderne Version des Peronismus darstellt; dann gibt es die Ex-Faschisten und die Lega, die ein absolut antimodernes Phänomen darstellt, eine deklariert rassistische Partei; und dann gibt es da noch die kleine Partei der Ex-Christdemokraten, im Grunde die einzige echte demokratische Rechtsfraktion in Italien.

Das Fehlen einer liberalen Tradition hätten Sie aber auch mit Gramscis Thesen über den Risorgimento untermauern können.

Ich habe aber Gobetti zitiert und nicht Gramsci, denn hätte ich Gramsci zitiert, wäre es leicht gewesen zu antworten: "Gramsci ist doch ein Kommunist." Gobetti hingegen hat streng bürgerliche Kriterien angewandt, von Locke bis Toqueville, die Klassiker des Liberalismus. Mani Pulite hätte die Möglichkeit einer liberalen Revolution sein können, es war die Gelegenheit für eine anthropologische und ethische Umwälzung, nach der es auch in Italien normal geworden wäre, so etwas wie Staatssinn zu entwickeln. Die Reaktion auf diesen Versuch war der Berlusconismus und der stellt bislang eine explizite, schwerwiegende, vulgäre und extreme Renaissance des Übelsten der italienischen Tradition dar, von allem, was in der italienischen Geschichte extra-liberal und extra-demokratisch war. Berlusconi betont zwar ständig, ein Unternehmer zu sein, aber er ist kein Unternehmer im weberschen Sinn: Berlusconi hatte Erfolg, weil er ein Freund von Craxi war, er hat in einem Sektor Karriere gemacht - dem Äther -, der der Allgemeinheit gehört, er ist groß geworden, weil er Freunde in der Regierung hatte, es hat nie eine echte Konkurrenz gegeben.

Craxismus in extremis also...

Selbstverständlich. Das hat nichts mit der Ideologie des Primats des Marktes zu tun, es ist das genaue Gegenteil: Berlusconi ist gegen den Markt, er ist für das Monopol. Aus politischer Sicht hat seine Vorstellung des Staates als Firma nichts zu tun mit demokratischen Traditionen, nicht einmal der europäischen Rechten.

Haben Sie es deshalb so bemerkenswert gefunden, dass es auf einer Anti-Berlusconi-Demonstration Schilder gab, die sich ausgerechnet auf Montesquieu bezogen?

Ja. Die bezogen sich auf etwas, das sogar noch vor der bürgerlichen Demokratie kommt, denn mit Montesquieu sind wir noch nicht so weit, da geht es lediglich um eine Theoretisierung von Vorläufern des Liberalismus. Tatsache ist heute, dass sich Elemente des Populismus, der absoluten Gleichgültigkeit gegenüber den demokratischen Freiheiten, immer weiter verbreiten, auch in anderen Ländern.

Ich erinnere mich, dass Sie schon vor einigen Jahren davor warnten, dass Berlusconi völlig offen die Pläne der Geheimloge P2 umsetzen wird; hat sich das bestätigt?

Ganz sicher. Berlusconi hat schon viele Teile des Programms der P2 umgesetzt. Etwa die Angriffe auf die Verfassung, die er gerade in diesen Wochen betreibt: Mit der sogenannten Verfassungsreform würde es ihm gelingen, sogar die essenziellen Prinzipien der P2 in der italienischen Verfassung zu verankern. Die Frage ist nun, ob ihm das gelingt oder ob die Kräfte der Opposition in der Lage sein werden, dieses Projekt zu verhindern, das ja gar kein Projekt mehr ist, sondern die konkrete Politik, die Tag für Tag verwirklicht wird.

Diesbezüglich klingen Sie nicht sehr optimistisch.

Wenn wer sagt "Das ist aber pessimistisch", antworte ich immer, optimistisch oder pessimistisch zu sein hängt davon ab, wie man am Abend zuvor gegessen oder wie man in der Nacht geschlafen hat. Was morgen passieren wird, hängt von 1000 Dingen ab, inklusive dem, was wir tun oder nicht tun. All die Demonstrationen der letzten Jahre haben gezeigt, dass es in Italien den Willen gibt, die Dinge zu ändern, eine profunde, verwurzelte und leidenschaftliche Motivation, die Millionen von BürgerInnen mitzieht. Das Problem besteht darin, dass die politischen Kräfte der Opposition der Aufgabe, der sie gegenüber stehen, überhaupt nicht gewachsen sind. Sie machen eine schwache Oppositionspolitik, voller Zugeständnisse an Berlusconi, sie sind total verbürokratisiert, eine erbärmliche, deprimierende Polit-Kaste. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, aber die sind wirklich rar.

Leider muss man auch feststellen, dass im Mitte-Links-Spektrum bestimmte Verhaltensweisen zurückkommen, die den Craxismus gekennzeichnet haben. Zwar sind wir heute nicht in der selben Situation, aber in manchen Situationen kann man einschlägige Symptome erkennen, die besorgniserregend sind: Dann nämlich, wenn eine opportunistische Politik gemacht wird und per Kooptation eine personelle Veränderung stattfindet, die die kritischen und aufrechten Geister marginalisiert und stattdessen die Opportunisten hereinholt. Es gibt in diesem Land enorme Möglichkeiten der Veränderung, aber die organisierten politischen Strukturen sind dafür absolut ungeeignet, es ist also alles noch offen.

Demnach heißt das, dass die Bewegungen außerhalb der traditionellen Strukturen noch wichtiger werden?

Ja, selbstverständlich, aber es geht hier immer um Momente. Eine spontane Bewegung ist eben spontan, die hat Höhen und Tiefen, sie entsteht und zerfällt, andere Dinge entstehen. Das mit den "Girotondi" ist vorbei (Anm.: Protestbewegung von 2002), aber vor einem halben Jahr hat sich eine große Bewegung von LehrerInnen und Eltern gegen die Bildungsreform gebildet; in einem halben Jahr entsteht vielleicht eine Bewegung gegen die Angriffe auf die Verfassung, oder vielleicht auch ganz etwas anderes. Das Problem ist, dass diese Dinge dann in institutionelle Politik übersetzt werden müssen, und im Augenblick ist das Instrumentarium hierfür, das Bündnis der Mitte-Links-Parteien, überhaupt nicht auf der Höhe dieser Aufgabe.


Paolo Flores D'Arcais: Die Demokratie beim Wort nehmen. Der Souverän und der Dissident. Übers.v. F.Hausmann. Wagenbach 2004.

Erschienen in Malmoe # 23 / 2004