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Anfällige
Konsensbildung
Ingo Lauggas im Interview mit Armin Bernhard, Professor
für Pädagogik an der Uni Essen und Autor eines gerade erschienenen
Buches über die politische Pädagogik bei Antonio Gramsci.
Inwieweit kann Gramscis "Erziehungs- und Bildungsmodell" heute
noch von Relevanz sein?
Es ist insofern für unsere gegenwärtige Gesellschaft
relevant, als es gesellschaftliche Bildungs- und Erziehungsfragen reflektiert,
deren Bearbeitung auch heute noch ansteht. Eine zentrale Erweiterung liegt
beispielsweise in dem Umstand begründet, daß Gramsci Bildung
mit der Kultur, begriffen als Lebensweise' von Menschen, verknüpft
und durch eben diese Verknüpfung Bildung nicht idealistisch in einer
luftleeren geistigen Sphäre anlegt, sondern an reale gesellschaftliche
Erfahrungen bindet. Damit gelingt es ihm, die Kategorie der Mündigkeit'
- einen Begriff, der in unserer Gesellschaft immer mehr zu einer inhaltsleeren
Vokabel verkommen ist - wieder eine lebendige Basis zu verleihen: Mündigkeit
wird zu einer praktischen Fähigkeit, die in der Lage ist, gesellschaftliche
Erfahrungen in emanzipative Fähigkeiten zu überführen.
Gramscis Überlegungen können demgemäß als wertvolle
Ergänzungen und Korrekturen einer kritischen Bildungstheorie gelten,
die den Bereich realer gesellschaftlicher Erfahrungen als Ausgangsort
jeder emanzipativen Bildungspraxis stark vernachlässigt.
Ein weiterer Aspekt hängt mit dem ersten zusammen: Gramsci kombiniert
in konsequenter Weise seine pädagogischen Fragestellungen mit den
konkreten Sozialisationsvoraussetzungen der Menschen. Seiner Auffassung
zufolge ist keine qualitative Veränderung der Gesellschaft möglich,
wenn nicht zugleich die Lebensweise und die Mentalität der Menschen
mit in diesen Vorgang einbezogen werden. Wer den Geist der Abspaltung'
herbeiführen, also die bestehende Hegemonie kritisieren und überwinden
will, muß mit der konkreten Mentalität der Menschen und ihren
Konstitutionsbedingungen rechnen: Eine Veränderung im Bewußtsein
muß die spontane Philosophie' und den Alltagsverstand'
als Grundlagen anerkennen, die durch Bildung neu gestaltet werden können.
Die geistige Abspaltung' erfordert methodisch also eine Weiterentwicklung
der spontanen Philosophie durch Bildung, und Bildung muß sich konkret
auf deren Erkenntnisweise einstellen - allerdings ohne diese zu bestätigen.
Die geistige Abspaltung setzt voraus, daß das alltägliche Bewußtsein
sich der Begrenztheit seines eigenen Denkens bewußt wird und diese
Selbsteinsicht zum Anlaß für die Weiterentwicklung des eigenen
Bewußtseins nimmt.
Sie verwehren sich der Trennung des Politikers vom Philosophen
Gramsci. Auch sein theoretisches Werk kann, wie wir wissen, nicht in Einzelaspekte
zerlegt werden. Wie also fügt sich seine Pädagogik in die Hegemonietheorie
ein?
Gramscis Interesse an pädagogischen Fragestellungen
ist zunächst an das Projekt geknüpft, die Herausbildung von
Hegemoniestrukturen in verschiedenen Perioden des geschichtlichten Prozesses
zu verstehen und zu rekonstruieren. Dabei arbeitet er die Relevanz pädagogischer
Ideen, Projekte und Methoden für den Aufbau und die Konsolidierung
von Hegemonie heraus, was heißt, den leisen und langfristigen pädagogischen
Vorgängen mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, als dies bisher
der Fall war.
Diese neuen Akzentsetzungen können selbstverständlich auch mit
Blick auf Anstrengungen zur Bildung einer kritischen Gegenhegemonie nutzbar
gemacht werden: Bildungsprozesse sind das Ferment der Konsensaufkündigung,
ohne die die kulturelle Hegemonie' eine uneinnehmbare Festung bliebe.
Im Feld der Konsensbildung werden nicht nur eindimensional Ideologien
der führenden Gesellschaftsgruppe an die Bevölkerung vermittelt.
Vielmehr stellt die Konsensbildung selbst ein umkämpftes Feld dar,
in dem emanzipatorische Ideen Platz greifen können. Konsensbildung
als zentrales Moment der Hegemoniesicherung soll zwar die Expansion der
Leitbilder einer Gesellschaft - gegenwärtig etwa die Ideologie von
der angeblich alternativlosen neoliberalen Organisation - in das Bewußtsein
der Bevölkerung vermitteln. Da aber sowohl die pädagogische
Beziehung wie auch die Prozesse der Bildung emanzipative Elemente enthalten,
ist gerade das Gebiet der Konsensbildung hochanfällig für Beanstandungen
von unten und kann auch zum Ort der Auflösung von Hegemonie werden.
Was können Gramscis Erneuerungsvorstellungen am gegenwärtig
hegemonialen "Alltagsverstand" noch ausrichten?
Ich möchte vorschlagen, anstelle des Alltagsverstands
mit dem Begriff der spontanen Philosophie zu arbeiten, weil er die übergreifende
Kategorie bei Gramsci darstellt. Unter spontaner Philosophie versteht
Gramsci eine weitgehend reaktive, also reflexionsarme, in sich widersprüchliche
Denkweise der Menschen. Die spontane Philosophie enthält die Alltagssprache
inclusive ihrer alltagsweltlichen Sinndimensionen ebenso wie den Alltagsverstand,
die Popularreligion und die Folklore. Das Kind etwa trifft in der Schule
bereits mit einer bestimmten Sprache, mit bestimmten lebensweltlich vermittelten
Weltanschauungen, mit bestimmten Erfahrungen in die Bildungsinstitution
ein.
Diese spontane Philosophie des Kindes wird zudem in massiver Weise beeinflusst
von der Kulturindustrie, die immer tiefer in den Prozess der Subjektentwicklung
eingreift. Die spontane Philosophie ist demgemäß die epistemologische
Basis von Bildung, an der sie ansetzen muß, nicht etwa um diese
Alltagsphilosophie' zu überwinden, sondern sie mit neuen Erkenntnissen
anzureichern. Bildung im Sinne geistiger Abspaltung beinhaltet die Umstrukturierung
dieser epistemologischen Basis in die Fähigkeit zu zweifelndem Denken.
Methodisch gesehen ist also diese spontane Philosophie die Erkenntnisbasis
konkreter Menschen, die Bildung konzeptionell in ihre Arbeitsweise einbeziehen
muß, um überhaupt Veränderungen provozieren zu können.
Die Etikettierung der Alltagsphilosophie mit der Eigenschaft "spontan"
deutet an, daß das Alltagsdenken der Menschen durchaus Momente der
Eigentätigkeit enthält, damit die Fähigkeit, die eigene
Weltauffassung selbstkritisch durchdringen und in kritischer Weise ausarbeiten
zu können. Dies ist für Gramsci die Grundbedingung dafür,
daß der Mensch, "Führer seiner selbst" werden, die
Gestaltung seiner Lebensverhältnisse zusammen mit anderen in die
eigenen Hände nehmen kann.
Ein weiterer Akzent von Bildung kann aus der zunehmenden kulturindustriellen
Modellierung der spontanen Philosophie abgeleitet werden, Gramsci spricht
von "industriellen Geschmacksdosierungen". Insofern diese in
wachsendem Ausmaß unser Denken und Handeln bestimmen, indem sie
es dem Konsum ausliefern, werden sie zum eigentlichen Gravitationszentrum
der Sicherung von Hegemonie. Auf das Problem der kulturindustriell bearbeiteten
spontanen Philosophie steht eine pädagogische Antwort noch aus. Sie
ist nicht in den diversen Modellen einer Medienpädagogik zu finden,
sondern nur in einem provokativen politischen Bewußtseinsbildungsprozeß,
der die Produktion der konsensstiftenden Weltanschauung durch uns selbst,
durch unser eigenes Bewußtsein, durch unsere eigene Denkweise hervortreten
läßt. Der Mensch kann Gramsci zufolge nur in dem Ausmaß
Führer seiner selbst werden und damit zur Erosion von Hegemonie beitragen,
in dem er sich seiner Verstrickungen in Abhängigkeitsstrukturen bewußt
wird. Eine tiefgehende Bildung ist hierfür die unhintergehbare Bedingung.
Gramscis Politische Paedagogik. Grundrisse eines praxisphilosophischen
Erziehungs- und Bildungsmodells. Argument, Hamburg 2005.
Erschienen in Malmoe #27 / 2005
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