Zwischen Fachunterricht und Indoktrination – Geschichtsunterricht in der DDR am Beispiel eines Videomitschnitts einer Schulstunde zum Mauerbau

 

Die Errichtung der „Berliner Mauer“ war für den Geschichtsunterricht in der DDR gewiß eines der schwierigsten, wenn nicht das schwierigste Thema überhaupt. Ein gängiges Sprichwort sagte, daß 20 Uhr mit der „Tagesschau“ 90% der DDR-Bürger täglich auswanderten. Gleichzeitig hatte die Schule den Auftrag, eben diese bundesrepublikanische Wirklichkeit, die für die meisten Jugendlichen in der DDR eine stark orientierende Funktionen erfüllte, als abschreckend und feindlich darstellen zu sollen. Diese Darstellung des bedrohlichen Charakters der BRD mußte so weit gehen, daß der Mauerbau im August ´61 als eine plausible Maßnahme des Selbstschutzes erschien. Das war eine paradoxe Aufgabe. Weil diese Aufgabe mit zunehmendem Abstand immer absurder erscheint, ist es um so bedeutender, Dokumente dieser schizophrenen unterrichtlichen Bemühungen zu finden. Solche Dokumente jenseits der offiziellen Unterrichtsliteratur sind jedoch kaum vorhanden.

An der Humboldt-Universität Berlin gab es seit Beginn der 70er Jahre ein audiovisuelles Zentrum, in dem zu didaktischen Zwecken Aufzeichnungen von Unterrichtsstunden angefertigt wurden. Darunter ist eine komplette Stunde zum Thema „Sicherung der Staatsgrenze“ im August ´61.        Die Stunde zum Mauerbau wurde 1975 aufgezeichnet. In einem von der „Stiftung Aufarbeitung“ geförderten Forschungsprojekt habe ich dies Video auf ein gängiges Format überspielt, die Hintergründe und Kontexte, den „Sitz im Leben“ dieser Aufnahme rekonstruiert. Es handelt sich um ein einmaliges Dokument aufgezeichneten Unterrichts.

In dieser Zeit wird das Thema in der 10. Klasse behandelt. Der Mauerbau wird eingeordnet in die weltpolitische Situation des kalten Krieges und stellt in dieser Interpretation den Höhepunkt der friedenssichernden Bemühungen der DDR dar. Das Lehrbuch der 10. Klasse endet mit dieser Thematik. Die Schwierigkeit einer „klassenbewussten“ Sichtweise der „Maßnahmen zur Grenzsicherung“ belegen auch die vielfältigen didaktischen Hilfsmittel, die die Lehrer bei der Gestaltung der Stunde unterstützen sollten. In den 70ern war dies neben zahlreichem Bildmaterial vor allem eine Schallplattenproduktion des Schulverlages, die die Unterrichtshilfen erwähnen und die auch in der dokumentierten Stunde zum Einsatz kommt. Später gab es sogar einen eigenen Film des Unterrichtsfernsehens. Die für die gesamte DDR verbindlichen Lehrpläne und Unterrichtshilfen geben detailliert den Stundenaufbau vor. Innerhalb dieses strengen Rahmens hatten die einzelnen Lehrer jedoch Gestaltungsfreiheit.

Die Stunden, die aufgezeichnet wurden, wurden zuvor mit den zuständigen Fachdidaktikern der Humboldt-Universität minutiös vorbereitet. Es sind also Musterstunden, auch wenn die Schülerreaktionen freilich nicht geplant werden konnten. Die Videos sind darum Zeugnisse von Unterricht im Spannungsfeld von Inszenierung und Spontaneität. Die Schulklasse kam ein Mal wöchentlich in einen speziellen Seminarraum der Humboldt-Universität, damit das Verhalten während der Aufnahme nicht durch ungewohnte Räumlichkeiten beeinträchtigt wurde.

Im Referat werde ich die Hintergründe der Entstehung dieser Aufnahme erläutern und besonders markante Szenen der Aufnahme zeigen. Die Interpretation dieser Szenen soll auf dem Hintergrund der populären These Heinz-Elmar Tenorths erfolgen, dass Fachunterricht Indoktrination verunmöglicht. Den Umstand, dass Fachunterricht Wissen vermittelt, deutet Tenorth so, dass dies Wissen immer auch gegen die Intention des Indoktrinierenden verwendet werden konnte. Die pädagogische Einsicht, dass Wissen und Haltung nicht identisch sind, und gleichzeitig mit dem Wissen nicht die dazu einzunehmende Haltung verbindlich zu machen sei, sondern dies ein je individueller Akt des lernenden Individuums sei,  verunmögliche jegliche Indoktrination. Diese hoffnungsvolle und menschlich sympathische These hatte politische Folgen. Vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages führte diese Argumentation dazu, dass DDR-Lehrer, auch bei noch so großer Ideologienähe, salviert wurden, da sie ja Fachlehrer waren und insofern gar nicht indoktrinieren konnten, selbst wenn sie gewollt hätten! Kriterium für die Weiterbeschäftigung der Lehrer wurde so auch nicht deren Agieren als Pädagogen, sondern lediglich Stasi-Mitarbeit oder zu verantwortungsvolle Parteimitgliedschaft wurde ihnen zum beruflichen Verhängnis.

Anhand von Ausschnitten aus der Aufzeichnung soll diese These Tenorths diskutiert werden. Wie wenig stimmig Tenorths These ist, lässt sich schon an dem von ihm selbst gewählten Beispiel, der Behandlung des „Horst-Wessel-Liedes“ durch Lehrer Fritz zeigen, der seine Schüler (unter ihnen Walter Jens) durch bloße Grammatik gegen die nationalsozialistische Ideologie immunisiert habe. Schon eine flüchtige Betrachtung zeigt, dass Lehrer Fritz die Grammatik bestenfalls als dürftige Fassade einer bewussten Entideologisierungskampagne benutzte. Er analysiert den Satz: „Kammeraden die Rot-Front erschossen, marschiern im Geiste mit uns mit.“ indem er fragt, wer hier eigentlich wen erschossen habe. Anders das hier gezeigte Beispiel, das sich zumindest so interpretieren lässt, als sei der Fachunterricht nur die dürftige Fassade der Indoktrinationsbemühung. In gewisser Weise lässt sich Tenorths These deshalb sogar umkehren: Fachunterricht ist die beste Tarnung für Indoktrinationsversuche.

So optimistisch Tenorths These daherkommt, verunklart und beschönigt sie doch Zusammenhänge, die sicher keine kausalen Ursache-Wirkungs-Ketten nach einem einfachen Reiz-Reaktionsschema sind, bei denen aber dennoch Folgen zu erwarten sind, die bis heute nachwirken. Es ist nicht davon auszugehen, dass diese Indoktrinationsbemühungen 1:1 „erfolgreich“ waren, schließlich ist dies die Generation, die die Wende in der DDR herbeigeführt hat. Dass sie folgenlos war, ist jedoch gleichfalls eine naive Annahme. Die Studierenden aus dem Ostteil Deutschlands in unseren Veranstaltungen sind von den gleichen Lehrern unterrichtet worden, auch wenn sie Ihre Abschlüsse nach der Wende gemacht haben. Insofern werden wir noch lange mit den Folgen der Indoktrination zu tun haben. Die Analyse dieses Films kann dazu beitragen, die Verwobenheit von Fachunterricht und Indoktrination in der DDR und insofern auch unsere Studierenden besser zu verstehen.