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"Kita erst ab 18 Monaten"

Der Psychologe Fthenakis meint, dass es kaum gute Kitas gibt. Nötig sei ein Bildungskonzept für die frühe Kindheit

INTERVIEW HEIDE OESTREICH

taz: Herr Fthenakis, die CDU-Politikerin Ilse Falk sagt: Mittlerweile werden Mütter, die bei Ihren Kleinkindern bleiben wollen, hierzulande als Rabenmütter hingestellt. Sind sie das?

Wassilios Fthenakis: Mit solchen Etikettierungen sollten wir aufhören. Niemand möchte irgendeine Mutter diskriminieren. Die einen sind gerne Hausfrau und Mutter, die anderen wollen das Muttersein mit einer Erwerbstätigkeit kombinieren. Wir haben keinen Grund, die einen gegen die anderen auszuspielen.

Viele Mütter können sich nicht vorstellen, ihr Kind nach einem Jahr in die Kita zu schicken, wie das neue Elterngeld es vorsieht. Die sichere Bindung des Kindes geht für sie vor.

Die sichere Bindung wird nicht behindert, wenn das Kind eine gute Einrichtung besucht. Wir wissen aber aus der Forschung, dass es eine erhebliche Anzahl an Kindern gibt, denen es nicht gelingt, eine sichere Bindung an die Eltern zu entwickeln - unabhängig davon, ob sie in die Krippe gehen oder nicht. Wenn diese Kinder die Chance bekommen, eine hochwertige Einrichtung zu besuchen, dann lernen sie dort eine sichere Bindungsqualität. Diese sichere Bindung übertragen sie dann sogar auf die Eltern. So verstanden unterstützen diese Einrichtungen die Bindung an die Eltern geradezu.

Die Kinderpsychologin Christa Meves sagt aber, Mütter können qua Biologie am besten auf Kleinkinder eingehen.

Frau Meves befindet sich in vollem Gegensatz zu den gegenwärtigen internationalen Erkenntnissen. Die bestätigen, dass Mütter und Väter von Anfang an gleich geeignet sind, auch Kleinstkinder zu erziehen. Die Ähnlichkeiten zwischen den Eltern überwiegen bei weitem die Unterschiede.

In der Kita lernen die Kinder als Erstes, ihre Ellenbogen zu gebrauchen, meint Meves auch.

Es wundert mich, dass man sich mehr Sorgen über Aggressionen in der Kita macht als über die medial und gesellschaftliche vermittelte Aggression. In der Kita wird Aggression zum Gegenstand pädagogischer Arbeit, was draußen nicht der Fall ist.

Das Parade-Argument aller "Familienschützer": Die Kollektivbetreuung in den sozialistischen Ländern hat den Kindern geschadet. Niemand kann ausschließen, dass auch heute noch fragwürdige Pädagogik in manchen Kitas herrscht.

Das Problem ist: Wir haben noch kein konsistentes Bildungskonzept für die frühe Kindheit in der Bundesrepublik. Das brauchen wir dringend. Darin muss auch enthalten sein, dass die Kita viel enger mit den Familien kooperiert, als wir das heute kennen.

Rebellieren die Mütter nicht zu Recht, weil es diese Idealkitas mit tollen BetreuerInnen nicht gibt, sie aber jetzt schon gebraucht würden?

Die Bundesrepublik hat den Aufbau dieses Systems im Gegensatz zu allen anderen europäischen Ländern sträflich vernachlässigt. Frau von der Leyen versucht jetzt ein großes, chronisches Defizit zu beseitigen. Das unterstütze ich voll. Allerdings brauchen wir bessere Konzepte für die frühkindliche Bildung. Es gibt einzelne Orte in Deutschland, wo die Krippen gut sind, aber bisher sind das Glücksfälle.

Das heißt, Sie können Mütter verstehen, die sagen: In diese Krippe in meinem Städtchen möchte ich mein Kind nicht bringen.

Das kann ich gut verstehen, bei mir war es auch so. Ich habe meinen Sohn in die Krippe gebracht, und als ich sah, wie er reagiert hat, habe ich ihn wieder herausgenommen. Das muss man individuell betrachten.

Also: Alle ab eins in die Krippe, das ist auch nicht Ihr Konzept?

Bei Kindern unter zwei Jahren muss man sehr individuell schauen. Ich empfehle den Eltern, das Kind erst ab 18 Monaten in eine Einrichtung zu bringen. Vorher sollte es aber viel Kontakt mit Gleichaltrigen haben, etwa in Spielgruppen. Das Familiensystem bloß nicht geschlossen halten.

Sollte das Elterngeld dann achtzehn Monate gezahlt werden?

Das wäre ideal.

Also: Eine gute Mutter ist allemal besser als eine schlechte Kita, oder?

In der Regel: Ja. Die Eltern lassen sich durch nichts ersetzen. Natürlich gibt es Ausnahmen. Man kann aber das Aufwachsen des Kindes bereichern, wenn es in eine Einrichtung von hoher Qualität geht. Wenn ein Kind mit der Mutter allein ist, bekommt es nur ein Drittel der für seine Entwicklung nötigen Ressourcen. Das zweite Drittel ist die Beziehung zum Vater und das dritte sind die Qualität der Partnerschaft und die sozialen Beziehungen mit anderen, etwa in der Kita oder der Verwandtschaft.

Nun hat sich ein neues "Familiennetzwerk" gegründet. Es will verhindern, dass die Fremdbetreuung zum neuen Leitbild der Familienpolitik wird.

Niemand will die Kinderbetreuung zu einem Leitbild werden lassen. Wenn wir das Land mit den heute beabsichtigten 750.000 Plätzen bereichern, dann hat gerade mal ein Drittel der Kinder darin Platz, zwei Drittel sind außerhalb der Einrichtungen. Das ist kein neues Leitbild.

Das Netzwerk meint: Die Forschung, die negative Auswirkungen der Fremdbetreuung untersucht, wird in der Bundesrepublik unterdrückt.

Wir haben generell zu wenig Forschung im vorschulischen Bereich. Das ist keine Unterdrückung, sondern ein Defizit.

Früher ging es um die wichtige Bindung an die Mutter. Heute wird dagegen betont, wie wichtig die Anregungen durch andere Kinder sind. Gab es da einen Umschwung in der Forschung?

Nein. Die Bindungsqualität ist heute genauso wichtig wie früher. Aber unbestritten ist auch, dass die Bindungsqualität nicht die gesamte Entwicklung steuert. Das Kind braucht intellektuelle und soziale Anregungen, die über die Bindungsqualität allein nicht gesteuert werden. Wer das gegeneinander ausspielt, argumentiert lediglich ideologisch.

Warum wird dann so leidenschaftlich gestritten?

Weil Kinderärzte und Sozialpädiater lange Zeit gepredigt haben, dass Fremdbetreuung schlecht ist. Das war gut gemeint, aber es basierte nicht auf fundierten Erkenntnissen. Wir haben heute die große amerikanische Längsschnittstudie, die alle diese Aspekte gründlich untersucht hat. Die NICHD-Studie ist die größte Studie weltweit über außerfamiliale Betreuung. Heraus kam: Eine gute außerfamiliale Betreuung kann die Qualität des Aufwachsens bereichern und beeinträchtigt das Eltern-Kind-Verhältnis nicht. Ich empfehle allen Ideologen: Bevor sie uns ihren ideologischen Schwanengesang aufdrängen, sollten sie sich mit dem Forschungsstand befassen.

taz Nr. 8207 vom 21.2.2007, Seite 5, 183 Interview HEIDE OESTREICH

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