Zitat aus: Bundesministerin Renate Schmidt: Auf den Anfang kommt es an - die besten Startchancen für Kinder! "Perspektiven zur Weiterentwicklung des Systems der Tageseinrichtungen für Kinder in Deutschland". http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Internetredaktion/Pdf-Anlagen/PRM-25026-Gutachten,property=pdf,bereich=,rwb=true.pdf

 

 

Die bislang wohl umfassendste Studie zu den Auswirkungen einer frühen Tagesbetreuung stellt die Studie des National Institute of Child Health and Human Development (NICHD) Early

Child Care Research Network dar, die in den USA durchgeführt wurde. In dieser Studie wurde die Entwicklung von mehr als 1000 Kindern vom ersten Lebensmonat an über inzwischen mehr

als sieben Jahre hinweg erforscht. Die teilnehmenden Familien stammen aus 10 unterschiedlichen Regionen der USA und stellen einen Querschnitt der US-amerikanischen Bevölkerung dar.

Bei der Studie wurde ein sehr komplexer Erhebungsansatz realisiert, anhand dessen sich überprüfen lässt, inwieweit Merkmale der Betreuungssituation (Art, Umfang und Qualität der Betreuung), familiale Merkmale (soziodemographischer Status, Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale der Mutter), aber auch Merkmale des Kindes (Geschlecht, Temperament) Auswirkungen auf seine Bindungssicherheit und seine langfristige emotionale, soziale, kognitive und Sprachentwicklung haben. Die beschriebenen Merkmale wurden zu mehreren Zeitpunkten und anhand unterschiedlicher Verfahren erhoben. Dieser Ansatz ermöglicht nicht nur, den relativen Einfluss familialer Faktoren und Merkmale der Tagespflege auf die Entwicklung des Kindes abzuschätzen, sondern auch das Zusammenspiel familialer und institutioneller Faktoren nachzuzeichnen und mögliche Wechselwirkungen aufzudecken. Die Ergebnisse der Studie wurden in

mehreren renommierten Fachzeitschriften publiziert.30 Die zentralen Erkenntnisse über die Auswirkungen einer frühen Tagesbetreuung werden im Folgenden dargestellt: Mutter-Kind-Beziehung: Nicht ein bestimmtes Betreuungsarrangement, sondern eine mangelnde Feinfühligkeit und Responsivität von Müttern stellt den zentralen Risikofaktor für die Entwicklung einer unsicheren Mutter-Kind-Bindung dar. Weder das gewählte Betreuungsarrangement als solches noch der Umfang der Fremdbetreuung hatten einen Einfluss auf die Bindungssicherheit. Eine außerfamiliale Betreuung des Kindes erwies sich in dieser Studie jedoch dann als nachteilig für die Mutter-Kind-Beziehung, wenn die Mutter wenig feinfühlig und responsiv im Umgang mit ihrem Kind war. Dieser Effekt wurde weiter verstärkt, wenn nicht nur die Mutter, sondern auch die außerfamiliale Betreuungsinstanz sich durch eine mangelnde Sensitivität gegenüber dem Kind auszeichnete. Außerfamiliale Betreuung konnte allerdings die negativen Effekte einer mangelnden Sensitivität der Mutter kompensieren, wenn sie von hoher Qualität war. Sprich: Liegen

auf Seiten der Mutter Risikofaktoren für die Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung vor, kann eine qualitativ hochwertige Betreuung einen kompensatorischen Effekt haben. Allerdings scheinen insensitive Mütter häufiger eine qualitativ schlechte Tagesbetreuung für ihr Kind zu akzeptieren, wodurch die Wahrscheinlichkeit kompensatorischer Effekte geringer ausfällt.

Soziale Entwicklung:

Im Hinblick auf die soziale Entwicklung zeigte sich ein leicht negativer Effekt einer frühen außerfamilialen Betreuung. Je mehr Zeit Kinder in den ersten Lebensjahren in außerfamilialer Betreuung verbrachten, desto mehr externalisierendes Problemverhalten zeigten sie im Alter von vier Jahren und desto mehr Konflikte hatten sie mit Erwachsenen, und zwar sowohl mit den eigenen Eltern als auch mit den Erzieherinnen. Die Werte lagen jedoch für die meisten Kinder im Normbereich; nur 17 % der Kinder, die in den ersten Lebensjahren im Schnitt 30 oder mehr Stunden pro Woche von anderen Personen als der eigenen Mutter betreut wurden, lagen über dem kritischen Grenzwert. Im Übrigen galt dies auch für 6 % der Kinder, die nur von der eigenen Mutter betreut wurden. Weiterhin zeigte sich, dass der Effekt des Betreuungsumfangs deutlich schwächer ausfiel als der Effekt der mütterlichen Sensitivität und des sozioökonomischen Status’ der Familie.

Sprachentwicklung und kognitive Entwicklung:

Für die Sprachentwicklung zeigte sich, dass nicht die Art oder der Umfang der außerfamilialen Betreuung, sondern deren Qualität einen Einfluss auf die kognitive und die Sprachentwicklung in

den ersten sechs Lebensjahren des Kindes hat. Hohe Qualität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Kinder ein hohes Ausmaß an Stimulation im jeweiligen Bereich erhalten und dass sich die Stimulation an den Interessen des Kindes orientiert. Inwieweit eine hohe Qualität bei der institutionellen Betreuung verwirklicht werden kann, hängt – neben anderen Faktoren – wiederum ab von strukturellen Rahmenbedingungen, wie der Gruppengröße, dem Personalschlüssel und der Qualifikation des Personals.

Die Ergebnisse der Studie machen weiterhin deutlich, dass es häufig zu einer Akkumulation von Risikofaktoren kommt. Eltern mit niedriger Bildung und niedrigem Einkommen weisen gegenüber Eltern mit besserer Bildung und hohem Einkommen im Allgemeinen nicht nur ein deutlich schlechteres Befinden auf und verfügen in geringerem Ausmaß über die Kompetenzen und Mittel, um ihr Kind angemessen zu fördern. Sie akzeptieren außerdem häufiger Betreuungsarrangements von mangelnder Qualität, wobei finanzielle Gründe eine wesentliche Rolle spielen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass den Befunden der NICHD Early Child Care Research Network Studie zufolge eine außerfamiliale Betreuung als solche weder positive noch negative Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern hat. Diese Erkenntnis erscheint auch vor dem Hintergrund von wissenschaftlichen Studien plausibel, die die Auswirkungen der Berufstätigkeit von Müttern auf das Interaktionsverhalten untersuchen. Zwar verbringen berufstätige Mütter weniger Zeit mit ihren Kleinkindern als nicht berufstätige Mütter; die berufstätigen Mütter versuchen jedoch, die Zeiten ihrer berufsbedingten Abwesenheit zu kompensieren indem sie sich in der Zeit vor und nach dem Kindertagesstättenbesuch besonders intensiv mit ihrem Kind beschäftigen31 und verbringen in ihrer Freizeit und am Wochenende besonders viel Zeit mit ihm.32 Insbesondere im Hinblick auf die verbale Stimulation zeigen berufstätige Mütter außerdem ein größeres Engagement als nicht berufstätige Mütter.

Die gegenüber der Familienbetreuung unterschiedliche Gesamtsituation von fremdbetreuten Kindern hat jedoch zur Folge, dass Kinder, die Betreuungseinrichtungen besuchen, andere Erfahrungen machen und sich dementsprechend auch etwas anders entwickeln als Klein(st)kinder, die ausschließlich in der Familie betreut werden. So scheinen Krippenkinder oftmals sozial kompetenter, selbstbewusster, durchsetzungsfähiger und hilfsbereiter zu als Kinder, die zu Hause betreut werden. Sie sind aber häufig auch ungehorsamer und aggressiver, wobei die Ausprägung dieser externalisierenden Verhaltensweisen in der Mehrzahl der Fälle im Normbereich liegt. Negative Effekte einer außerfamilialen Betreuung auf die Entwicklung des Kindes gehen im Allgemeinen auf eine geringe Qualität der Betreuung zurück, nicht auf die Tagesbetreuung als solche. Bei hoher Qualität kann eine außerfamiliale Betreuung bis zu einem gewissen Grad sogar ungünstige innerfamiliale Entwicklungseinflüsse kompensieren. Den größten Einfluss auf die Entwicklung des Kindes hat letztendlich die Familie. Kinder entwickeln sich dann gut, wenn sie feinfühlige und responsive Eltern haben, die aktiv Anteil an der Entwicklung ihres Kindes nehmen und in einer glücklichen Partnerschaft leben.