Die Kritische Theorie ist tot
Peter Sloterdijk schreibt
an Assheuer und Habermas
Südfrankreich, Anfang
September 1999
Sehr geehrter Herr Assheuer,
als ich Ihren sehr
interessanten und fantasievollen, wenn auch etwas zu sensationellen Aufsatz
über das von Ihnen so genannte "Zarathustra-Projekt" in der ZEIT vom 2. September las, hatte ich
spontan das Bedürfnis, Ihnen, verständlichen Vorbehalten zum Trotz, zu
gratulieren. Sie weisen in Ihrem Artikel endlich wieder vor großem Publikum auf
aktuelle Probleme hin, die viele zeitgenössische Philosophen,
Naturwissenschaftler und Soziologen seit Jahrzehnten beschäftigen. Sie tun der
philosophischen Debatte den Gefallen, zu zeigen, dass akademische Öde nicht ihre
einzige Existenzweise sein muss.
Besonders hat mir Ihr
Hinweis gefallen, dass es nach meinem Vortrag in Elmau
"in der Philosophenszene rumort" habe. Da ich die einschlägigen
Rumor-Philosophen persönlich kenne, kann ich die Tragweite dieser Bemerkung überblicken.
Noch besser gefiel mir Ihre Formulierung, dass das Rumoren "allerdings nur
hinter vorgehaltener Hand" stattfinde. Dieser Ausdruck ist amüsant, weil
er auf eine Sachlage verweist, die anatomisch nicht leicht nachzuvollziehen
ist. Wie stellt man es an, hinter vorgehaltener Hand über jemanden zu reden,
hinter dessen Rücken man redet?
Es wäre mir aber lieb, wenn
Sie mir den Text des von Ihnen rezensierten Vortrags zur Überprüfung überlassen
könnten. Mein Wunsch nach einer Gegenlektüre ist leicht erklärt: Ich habe bei
mir zu Hause eine Version des von Ihnen fabelhaft dämonisierten Textes liegen,
die um vieles blasser ist als Ihr triumphales Referat. Normalerweise suche ich
mir die Leute, die mich besser verstehen als ich mich selbst, nach Möglichkeit selber
aus, aber mir scheint, dass ich in Ihrem Fall eine Ausnahme machen muss. Gern
würde ich Ihr Exemplar mit dem meinen vergleichen, um zu sehen, ob wir
dieselben Vorlagen benutzen. In meinem Text heißt es zum Beispiel an einer
Stelle, dass Nietzsches züchterische Visionen hysterisch und unangemessen waren
und dass sein Konzept des Übermenschen für uns keine Bedeutung mehr haben kann,
aber dass er nichtsdestoweniger - wie Plato - ein Zeuge bleibt für das
Aufdämmern gewisser "pastoraler" Aspekte in Fragen nach der
Fortpflanzung, Erziehung, Medikalisierung und
Selbstoptimierung menschlicher Wesen. Ein anderes Beispiel: In meinem Exemplar
steht, dass angesichts der aktuellen Durchbrüche in der Biotechnologie ein
moralischer Codex formuliert werden muss (ich sage, etwas umfassender, für die
"Anthropotechniken") - und ich füge, zu
Ihrem Verständnis, hinzu, dass in einem solchen Codex, unter anderem, die
Grenze zu ziehen ist zwischen legitimen genmedizinischen
Optimierungen für die Einzelnen und illegitimen Biopolitiken für Gruppen. Sie
haben offenbar eine surrealistische Version vorliegen, weil Sie lesen, es werde
für eine umfassende elitistische Neuzüchtung der
Gattung plädiert. In meinen Ohren klingt das nach Science-Fiction, mit
biologischer Gotik und soziologischer Schauerromantik kombiniert. Ich würde
gern wissen, wer den Ihnen vorliegenden Text so sensationell umgeschrieben hat,
dass er jetzt ungefähr das Gegenteil von dem besagt, was in ihm steht? Oder hat
vielleicht die vorgehaltene Hand Ihnen Winke gegeben, wie er gegen den Wortlaut
zu lesen sei?
Kommen wir zum Modus Ihres
Angriffs. Im Prinzip könnte Ihre alarmistische
Attacke eine legitime demokratische Funktion ausdrücken. Sollte ich den Unsinn
gesagt und gemeint haben, den Sie in meinen Text hineinlegen, so hatten Sie
Recht, davor zu warnen.
In Bezug auf Ihr Vorgehen,
Herr Assheuer, ist aber ein Bedenken anzumelden. Muss man nicht gelegentlich
auch vor dem Warner warnen? In meinen Augen sind Sie auf dem besten Weg, selbst
zu einer Problemgans zu werden, zum einen, weil Sie so übertrieben auftragen,
zum anderen, weil Sie im Auftrag Dritter den Alarm auslösen. Von beidem ist zu
reden.
Zunächst: Allen Lesern
Ihres Artikels wird auffallen, wie sehr Sie den Alarm ästhetisiert haben. Das
weckt sofort einen gewissen Verdacht: Haben Sie vielleicht den l'alarme-pour-l'alarme für sich entdeckt? Sie rauschen daher
wie eine gefiederte Entrüstungsdiva, die ständig nach der Publikumsreaktion
schaut.
Die Dekadenz des Alarms ist
also bei Ihnen nicht zu übersehen, er ist zur selbstbezüglichen Form geworden
und luxuriert. Worin besteht für die Öffentlichkeit
der Nutzen einer Sologans, die ihre Wahnsinnsarie abschnattert, während weit
und breit kein Gallier zu sehen ist? Oder wollen Sie sagen: Was ein Gallier
ist, das bestimmt die Gans, die vor ihm warnt?
Offenbar ist dies Ihr
Ansatz. Andernfalls, scheint mir, hätte es genügt, darauf hinzuweisen, dass der
Philosoph X einen Vortrag über eines der brisantesten Themen der Gegenwart
gehalten hat, eine ziemlich esoterische, literarisch anspruchsvolle Rede, ein
philosophisches Nachtstück, das der Autor selbst nicht ohne Sorge vor den
Abgründen seiner Problemstellung in Elmau vor einer
Gruppe eminenter Philosophen und Theologen vortrug (es müssen, neben Ihnen,
lauter Schlafmützen gewesen sein).
Ein Wort zu der eben
gebrauchten Formulierung "Dekadenz" des Alarms - ich hätte auch "Ausdifferenzierung"
sagen können oder einfacher "Geschäft". Ihr Artikel ist ein gültiges
Beispiel dafür, wie sich in der zeitgenössischen totalen Öffentlichkeit eine
Entwicklung vom Alarmismus zum Skandalismus
vollzieht (vgl. Peter Sloterdijk, Selbstversuch,
Hanser Verlag, München 1996, S. 110-130). Nicht
wenige Journalisten, darunter auch Sie, haben die Zeichen der Zeit erfasst: den
Tod der Kritik und ihre Transformation in Erregungsproduktionen auf dem eng
gewordenen Markt der Aufmerksamkeitsquoten. Sie bieten seither ihre Dienste
immer unverhohlener an: entweder als Publicity-Macher oder als Skandalisten, was strukturell dasselbe ist. Also darf man
fragen: Wem dienen Sie mit Ihrem Auftritt - sich selbst?,
einem anderen?, der Diskursdemokratie?, der ganzen Menschheit?
Damit kommen wir zu dem
anderen Punkt. Folgen wir einfach Ihrem Hinweis: Wenden wir uns an den Besitzer
der vorgehaltenen Hand, die Ihnen zugesteckt hat, zu wessen Nutzen Sie sich und
andere munter machen sollen.
Mit freundlichen Grüßen Ihr P. Sl.
Der offene Brief, Zweiter Teil
Sehr geehrter Herr Habermas,
Gerüchte reisen bekanntlich
schnell. Irgendjemand hat einmal gesagt, sie reisen so schnell wie der böse
Wille. Inzwischen ist auch mir, als letztem Glied in der geflüsterten Kette, mit
einer Verzögerung von nur wenigen Wochen, sogar an meinem Ferienort im Süden zu
Ohren gekommen, was Sie über mich und meinen Elmauer
Vortrag zum Humanismusbrief von Martin Heidegger verbreitet haben sollen, mit
Worten, die eher aus dem polemischen Reservoir Ihres politischen Wortschatzes
stammen, wobei der Ausdruck "jungkonservativ" eine große Rolle
spielt.
Mit Rücksicht darauf, dass
es zwischen uns einmal hellere Tage gegeben hat, sogar die unausgeführte
Vorskizze zu einer Freundschaft, und weil ich meine Erinnerungen an die
Hochachtung, die ich für Sie als Verfasser einiger für mich und meine
Generation lehrreicher Bücher empfand, nicht im Affekt verwerfen will, schreibe
ich Ihnen hiermit, um die Voraussetzungen für eine Rückkehr zu dialogischen,
nicht diffamierenden Verständigungsformen von meiner Seite her zu erfüllen. Ich
tue den ersten Schritt, obwohl es Ihnen der Situation nach oblegen hätte, ihn
zu machen. Ich honoriere den Bonus des Älteren, den Sie in Bezug auf mich
genießen. Ich betrachte bis auf weiteres Ihre Auslassungen als bloße Irrtümer,
die Sie revidieren können, und Ihre Urteile als Ausdrücke eines Zustands, von
dem eine Rückkehr in gemäßigte Formen noch möglich ist.
Bitte beachten Sie die
Formulierung "bis auf weiteres". Sie drückt aus, dass ich der
Obergrenze meiner Toleranz nahe bin. Sie haben, Herr Habermas, mit zahlreichen Leuten über mich geredet, niemals mit
mir. In unserem argumentierenden Gewerbe ist das bedenklich; bei einem
Theoretiker des demokratischen Dialogs ist es unverständlich. Mit Ihren Reden
haben Sie, um nach dem zu urteilen, was ich im indirekten Rücklauf höre, für
Aufregung gesorgt. Über Wochen hin, scheint es, haben Sie im Groben gepoltert
und im Feinen agitiert. Sie haben zwischen Hamburg und
"Souverän ist, wer
sich so vertreten lassen kann, als ob er in seinem Vertreter selbst anwesend
wäre." In Anspielung auf den von uns beiden heftig kritisierten Carl
Schmitt habe ich in meinem letzten Buch (Sphären
II, Globen, S. 667) einen Satz formuliert, der, wenn er zutrifft, erkennen
lässt, dass Sie sich noch immer um die Rolle des Souveräns der deutschen
Diskurs-Produktion bemühen, auch nach Ihrer Emeritierung. Es gibt, soweit ich
sehe, in der Theoriegeschichte keinen Präzedenzfall, dass sich ein Denker in
einer so prekären Sache so diskret und effizient hat vertreten lassen wie Sie.
Ich gebe zu diesen
Vorgängen zunächst einen Kommentar im Jargon unserer einstmals gemeinsamen
philosophischen Schule. Man würde damals angesichts einer asymmetrischen
Gesprächslage dieses Typs bemerkt haben: Der Kritiker verdinglicht seinen
Gegner; er behandelt ihn wie einen Mechanismus, nicht wie eine Person. Er
reklamiert für sich die volle Subjektivität (aus direktem Zugang zur Wahrheit)
und spricht dem anderen eben diesen Zugang ab. Dies ist im semantischen
Bürgerkrieg manchmal nötig. Glauben Sie mir, Herr Habermas,
ich bin mit dergleichen Sprachspielen so gut vertraut wie Sie selbst. Sie
gehören zum inhumanen Erbe des ideologiekritischen Denkstils, der bei Ihnen
gewiss nicht schlimmer ausgeprägt ist als bei anderen Vertretern dieser
inzwischen nicht mehr ganz so ansehnlichen Tradition. Sie sind hierin nur ein
durchschnittlicher Träger einer problematischen Gewohnheit, die man einst mit
dem Ehrennamen der Kritik umkleidete.
Eine Frage drängt
gleichwohl sich auf: Hat es nicht auch zu den Denkfiguren unserer verwelkten
Frankfurter Tradition gehört, mit einer "Rache der Dinge" zu rechnen?
Was glauben Sie, was geschähe, wenn das Ding Sloterdijk mit einem Mal zu
sprechen begänne? Wie wäre es, wenn dieses Ding, dieser Mechanismus, als
nervöses An-sich, als schmerzempfindliches Es eine
Reaktion zeigte, eine Überreaktion sogar, wer weiß? Wenn das Ding auf den
Gedanken käme, eine Ehre zu haben?
Das ausgedehnte Ding namens
Peter Sloterdijk bildet sich partout ein, es sei (vortheoretisch natürlich)
auch eine res cogitans,
mit der man hätte reden können, vielleicht sogar reden sollen. Da Sie sich
gegen das Reden-mit und für das Reden-über
entschieden haben, besteht - das Ding ist boshaft genug, dies zu betonen - ein
diskurspraktisches Defizit, zumal ich als Autor und Verlagskollege nur zehn
Ziffern auf Ihrem Telefon (Vorwahl inbegriffen) oder einen Posttag von Ihnen
entfernt lebe.
Seltsam genug, Ihr Ding,
das sich eine Ehre einbildet, hat noch ein paar andere quasisubjektive
Merkmale: Es denkt zum Beispiel gelegentlich in historischen Konstellationen.
(Das haben wir, sehr geehrter Herr Habermas, trotz
allen sonstigen Unterschieden weiterhin gemeinsam, nur dass Sie eher an die
Lage von 1933-1945 denken, Ihren lebensgeschichtlichen Beanspruchungen
entsprechend, während ich seit jeher lieber mit vormärzlicher
Analogie operiere, aus Gründen, die ich gleich erklären will. So hat jeder von
uns seine Wahlvergangenheit, aus deren Kontrast Missverständnisse
wahrscheinlich werden.)
Um bei vormärzlichen
Bezügen einen Augenblick zu verweilen: Ich weiß nicht, sehr geehrter Herr Habermas, ob Ihnen gegenwärtig ist, welchen Stellenwert die
Motive der Schriftstellerehre und der Satisfaktion im Werk des von uns beiden
hoch geschätzten Aufklärers Heinrich Heine besaßen und wie er in den dreißiger
und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts einige größere Denunziationsversuche,
durch einen gewissen Wenzel und durch Ludwig Börne, beantwortet hat. Da Sie
selber mich - in fernen, freundlicheren Tagen -, ich denke, sehr zu Recht, in
Heines Tradition eingeordnet haben, darf ich mir hier vielleicht die
Beobachtung erlauben, dass auch dieser ein ziemlich ehrenempfindliches Ding war
und dass er vor kaum einer verbalen Violenz
zurückschreckte, wenn es um Angriffe auf die sensitiven Punkte seiner Existenz
ging - sein Judentum, seinen Protestantismus, vor allem aber seine Integrität
als Sprecher der emanzipatorischen Tendenzen seiner Zeit. Was mich angeht, so
empfinde ich seine Gegenattacken zwar als fulminant, aber nicht immer als
vorbildlich, denn Heine schlug manchmal in seinem gerechten Zorn heftiger zu,
als für seine Sache gut war. Dennoch verstehe ich, warum er sich gelegentlich
wie ein martialisch-heiterer Erzengel des offenen Worts gebärdete. Er mochte
die Zensur im Allgemeinen nicht, besonders aber nicht die Zensur durch
eifersüchtige Kollegen.
In der Sache hatte Heine
Recht. Was er in prozeduraler Hinsicht in seinem
Börne-Buch vollzogen hat, diese politische Psychoanalyse des scheinliberalen
Charakters am Beispiel eines bekannten politischen Moralisten, das finde ich
bewundernswert, und mehr noch, ich finde es aktuell und auf Wiederholung
drängend.
Wenn es ein Gutes an
Kommunikationsabbrüchen gibt, Herr Habermas, so
besteht es darin, dass sie Klarheit begünstigen. Man tritt nicht nur einen
Schritt zurück, sondern mehrere, und gibt Illusionen auf. Indem Sie mich
verdinglichen, geben Sie mir, Ihrem Ding, eine Chance, interobjektiv auch Ihre
Grenzen klarer zu erkennen. In diesem objektiveren Blick auf Sie ist mir
zumute, als überschaute ich mit einem Mal ein ganzes Terrain, eine Epoche, ein
System von Illusionen. Das Wesen Kritischer Theorie wird in der Dämmerung
offenkundig.
Darf ich notieren, was ich
jetzt sehe? In ihrer älteren Version (Adorno) war die Frankfurter Schule ein
gnostischer George-Kreis von links; sie lancierte die wunderbar hochmütige
Initiative, eine ganze Generation in verfeinernder Absicht zu verführen. Sie
löste eine tiefe Wirkung aus, die wir unter der Formel vom Eingedenken der
Natur im Subjekt zusammenfassen können. In ihrer jüngeren Version (Habermas) war sie ein in Latenz gehaltener Jakobinismus - eine sozialliberale Version der
Tugenddiktatur (in Verbindung mit journalistischem und akademischem Karrierismus). Beide Systeme, wenn sie mächtig werden,
stellen für normale Demokratien Gefährdungsfaktoren dar - das ältere in nur
geringem Maß, weil es aus inneren Gründen nie populär werden kann, das jüngere
jedoch umso mehr, weil es überaus häufige und populäre Affekte - das
Ressentiment und die Lust am Bessersein - organisiert. Für noch nicht normale
Demokratien sind sie hingegen genau das Richtige.
Hegel hatte das Wesen der terreur darin erkannt, dass in ihrem Dunstkreis
der Verdacht unmittelbar in die Verurteilung übergeht. In jedem Jakobinismus heißt anklagen auch schon liquidieren. Nie war
diese Diagnose aktueller als jetzt, da hocheffiziente Massenmedien
Aufputschungen in Realzeit bewirken können (selbst das NS-Regime war technisch
langsamer und wesentlich weniger durchsynchronisiert als die totale
Öffentlichkeit von heute, auf deren Klaviatur auch Sie, Herr Habermas, sich jetzt nicht ohne Wirkung betätigen).
Mithin: Dass Sie, dieser
große Kommunikator, dieser vom eigenen
Nicht-Faschismus durchdrungene Diskursethiker aus Deutschland (Ihr nachweislich
brüchiges Axiom lautet ja: Faschisten sind immer die anderen), die Medien so
zum Einsatz bringen, wie dieser Vorfall es bezeugt, gibt mir Gelegenheit zu
bemerken, wie im Konflikt Ihre liberale Maske zerfällt. Ihre diskursethischen
Vorwände rücken zunehmend zur Seite und lassen robustere Motive erkennen. Ich
brauche nur in dieser Woche die ZEIT
zu lesen und den Spiegel, um zu
wissen, woran ich mit Ihnen und Ihren ethischen Projekten bin. Sie haben
aufgehört, den zwanglosen Zwang des besseren Arguments zu bemühen.
Auch mich wundert diese
Entwicklung nicht wirklich, weil sie nur den ständig möglichen Übergang von liberal-jakobinischer Latenz in jakobinische
Explizitheit bezeugt. Das ist nicht neu. Immerhin
haben Sie dem Wort Emeritus einen neuen Sinn gegeben.
Ich bitte Sie, mir zu
glauben, dass ich Ihnen das alles weniger übel nehme, als Sie vielleicht
vermuten. Ich denke jetzt über die universalistischen Gehalte Ihres Verhaltens
nach. Sie sind ein Aufklärer wider Willen geworden, in dem Sinne, dass Sie
schließlich doch den Ausbruch wagen aus den kontrafaktischen
Konstruktionen, die Ihre Kommunikationstheorie als too good to be true
erscheinen ließen. Sie wollten endlich einmal offen legen, wie Ihr erweiterter
Begriff des kommunikativen Handelns aussieht. Darf man schon wirklich von Ihrer
Kehre sprechen?
Aliquid semper haeret, hieß es
in der römischen Antike, die bereits ein explizites Wissen über die Rolle der
Diffamierung im Konflikt der Ambitionen besaß. Der Satz besagt: Verleumde
allemal, weil auch bei völliger Widerlegung eine Rückkehr zum Zustand davor
nicht mehr gelingt. Etwas haftet immer. Ich entwickle allerdings soeben eine
neue Hypothese über jenes aliquid, das stets hängen bleibt. Jakobiner sind gewiss mit
dem römischen haeret-Prinzip
besser vertraut als ich, aber auch mir, dem Anti-Jakobiner, springt ins Auge,
dass der Satz unbestimmt lässt, an wem das aliquid haften bleiben soll.
Bleibt es am Denunzierten, bleibt es am Denunzianten?
Lassen wir es, dieses eine
Mal, auf den Versuch ankommen. (Die deutsche Nachkriegsdebattengeschichte zeigt
freilich bisher keine ermutigende Bilanz, weil der liberal-jakobinischen
Prozessform gemäß der Angegriffene der Verlierer ist. Skandalstatistisch
gesehen sind meine Aussichten nach dem Habermas-Assheuer-Mohr-Coup
miserabel - es sei denn, es entwickelte sich ein Metaskandal, an dem sich etwas
lernen lässt über die Geschäfte der Skandalisten in
diesem Land, über die deutsche Entrüstungsindustrie, die Dekadenz der Kritik
und die eingeschliffenen Allianzen zwischen Liberal-Jakobinismus
und Showsystem.)
Im Grunde ist die Situation
so geheimnisvoll nicht: Die Ära der hypermoralischen Söhne von
nationalsozialistischen Vätern läuft zeitbedingt aus. Eine etwas freiere
Generation rückt nach. Ihr bedeutet die überkommene Kultur des Verdachts und
der Bezichtigung nicht mehr sehr viel. Die traumabedingte
Retrospektivität der Nachkriegskinder kann ihre Sache nicht mehr sein
(ausgenommen diejenigen unter den Jüngeren, die die jakobinische
Neurose von den Älteren übernahmen - Söhne von Söhnen, ein Kapitel linker
Sozialpsychologie). Die meisten, soweit sie nicht entmutigt sind, denken dem
Neuen entgegen, mit einer Freiheit, von der die alten Problemträger nur wenig
wissen. Wäre die Sache nicht auch ein wenig tragisch, so wäre Gelächter die
einzige richtige Auflösung der Affäre.
Wen wundert es eigentlich,
dass in dieser Lage die alten Mentalitätsmachthaber sich vor ihrer Ablösung
noch einmal aufbäumen und ihre Schuld und ihre Unfreiheit mit letzter
Anstrengung auf die Nachkommen zu legen versuchen? Sie wollen der eigenen
Hypermoral ein riesiges Denkmal setzen, und sie wollen einmal noch, wie damals,
als kein toter Diktator vor unserem Widerstand sicher war, zur Faschistenjagd
aufbrechen.
Ach, lieber Habermas, würde ich am liebsten sagen, es ist vorbei. Die
Zeit der Söhne mit dem zu guten und dem zu schlechten Gewissen geht vorüber.
Was ist daran so traurig? Es gilt, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Was ich
philosophisch als Theoretiker des humanen Traums dazu beitragen wollte, zeigen
meine beiden letzten Bücher.
Die Kritische Theorie ist
an diesem 2. September gestorben. Sie war seit längerem bettlägerig, die
mürrische alte Dame, jetzt ist sie ganz dahingegangen. Wir werden uns
versammeln am Grab einer Epoche, um Bilanz zu ziehen, aber auch, um des Endes
einer Hypokrisie zu gedenken. Denken heißt Danken,
hatte Heidegger gesagt. Ich meine eher, Denken heißt Aufatmen.
Mit freundlichen Grüßen Ihr P. Sl.
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