Dieser
Vortrag wurde gehalten beim internationalen Symposion „
©
Peter Sloterdijk / Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999
Dieser
Text darf, auch nicht auszugsweise, ohne schriftliche Genehmigung des Verlags
reproduziert werden.
Peter
Sloterdijk
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Regeln
für den Menschenpark
Ein
Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus
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Bücher,
so hat der Dichter
Zieht
man die epochalen Folgen der griechisch-römischen Post in Betracht, so wird
evident, daß es mit dem Schreiben, Schicken und Empfangen von philosophischen
Schriftsachen eine besondere Bewandtnis hat. Offensichtlich schickt der Absender
dieser Gattung von Freundschaftsbriefen seine Schriften in die Welt, ohne die
Empfänger zu kennen - oder falls er sie kennt, ist er sich doch dessen bewußt,
daß die Briefsendung über diese hinausweist und eine unbestimmte Vielzahl von
Befreundungschancen mit namenlosen, oft noch ungeborenen Lesern zu provozieren
vermag. In erotologischer Sicht stellt die hypothetische Freundschaft des
Bücher-und Briefeschreibers mit den Empfängern seiner Sendungen einen Fall von
Fernstenliebe dar - und dies durchaus im Sinne Nietzsches, der wußte, daß die
Schrift die Macht ist, die Liebe zum Nächsten und Nächstbesten zu verwandeln in
die zum unbekannten, fernen, kommenden Leben; die Schrift bewirkt nicht nur
einen telekommunikativen Brückenschlag zwischen erwiesenen Freunden, die zur
Zeit der Briefsendung in räumlicher Entfernung voneinander leben, sondern sie
setzt eine Operation im Unerwiesenen in Gang, sie lanciert eine Verführung in
die Ferne, in der Sprache alteuropäischer Magie gesprochen eine actio in
distans, mit dem Ziel, den unbekannten Freund als solchen bloßzustellen und ihn
zum Beitritt in den Freundeskreis zu bewegen. Tatsächlich kann der Leser, der
dem dickeren Brief sich aussetzt, das Buch wie eine Einladungskarte verstehen,
und läßt er sich von der Lektüre erwärmen, so meldet er sich im Kreis der
Angesprochenen, um sich dort zum Empfang der Sendung zu bekennen.
Man
könnte somit das allen Humanismen zugrundeliegende kommunitarische Phantasma
auf das Modell einer literarischen Gesellschaft zurückführen, in der die
Beteiligten durch kanonische Lektüren ihre gemeinsame Liebe zu inspirierenden
Absendern entdecken. Im Kern des so verstandenen Humanismus entdecken wir eine
Sekten- oder Club-Phantasie - den Traum von der schicksalhaften Solidarität
derer, die dazu auserwählt sind, lesen zu können. Für die Alte Welt, ja bis zum
Vorabend des neuzeitlichen Nationalstaats bedeutete das Lesevermögen
tatsächlich so etwas wie die Mitgliedschaft in einer geheim-nisumwitterten
Elite - grammatische Kenntnisse galten einst vielerorts als Inbegriff der
Zauberei: tatsächlich wird schon im mittelalterlichen Englisch aus dem Wort
grammar der glamour entwickelt: Wer schreiben kann, dem werden auch andere
Unmöglichkeiten leicht fallen. Die Humanisierten sind zunächst nicht mehr als die
Sekte der Alphabetisierten, und wie in vielen anderen Sekten treten auch in
dieser expansionistische und universalistische Projekte an den Tag. Wo der
Alphabetismus phantastisch und unbescheiden wurde, dort entstand die
grammatische oder litterale Mystik, die Kabbala, die davon schwärmt, Einsicht
in die Schreibweisen des Weltverfassers zu nehmen (1). Wo hingegen der
Humanismus pragmatisch und programmatisch wurde, wie in den Gymnasialideologien
der bürgerlichen Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert, dort weitete sich
das Muster der literarischen Gesellschaft zur Norm der politischen Gesellschaft
aus. Von da an organisierten sich die Völker als durchalphabetisierte
Zwangsfreundschaftsverbände, die auf einen jeweils im Nationalraum
verbindlichen Lektürekanon eingeschworen wurden. Neben den gemeineuropäischen
antiken Autoren werden darum nun auch die nationalen und neuzeitlichen
Klassiker mobilisiert, - deren Briefe ans Publikum werden durch den Büchermarkt
und die höheren Schulen zu wirksamen Motiven der Nationenschöpfung überhöht.
Was sind die neuzeitlichen Nationen anderes als die wirkungsvollen Fiktionen
von lesenden Öffentlichkeiten, die durch dieselben Schriften zu einem
gleichgestimmten Bund von Freunden würden? Die allgemeine Wehrpflicht für die männliche
Jugend und die allgemeine Klassiker-Lesepflicht für Jugendliche beider
Geschlechter charakterisieren die klassische Bürgerzeit, sprich jenes Zeitalter
der bewaffneten und belesenen Humanität, auf welche die neuen und alten
Konservativen von heute zurückblicken, nostalgisch und hilflos zugleich und
völlig unfähig, sich über den Sinn eines Lektüre-Kanons medientheoretisch
Rechenschaft zu geben - wer hiervon einen aktuellen Eindruck gewinnen will, mag
nachlesen, wie kläglich die Ergebnisse einer in Deutschland jüngst versuchten
nationalen Debatte über die vermeintliche Notwendigkeit eines neuen
literarischen Kanons ausgefallen sind.
Tatsächlich,von
1789 bis 1945 hatten die lesefreudigen Nationalhumanismen ihre hohe Zeit; in
ihrer Mitte residierte, machtbewußt und selbstzufrieden, die Kaste der Alt- und
Neuphilologen, die sich mit der Aufgabe betraut wußten, die Nachkommen in den
Kreis der Empfänger der maßgeblichen dickeren Briefe zu initiieren. Die Macht
der Lehrer in dieser Zeit und die Schlüsselrolle der Philologen hatten ihren
Grund in ihrer privilegierten Kenntnis der Autoren, die als Absender von
gemeinschaftsstiftenden Schriften in Frage kamen. Seiner Substanz nach war der
bürgerliche Humanismus nichts anderes als die Vollmacht, der Jugend die Klassiker
aufzuzwingen und die universale Geltung nationaler Lektüren (2) zu behaupten.
Somit wären die bürgerlichen Nationen selbst bis zu einem gewissen Grade
literarische und postalische Produkte - Fiktionen einer schicksalhaften
Freundschaft mit fernen Landsleuten und sympathetisch verbundenen Lesern von
schlechthin begeisternden gemeinsam-eigenen Autoren.
Wenn
diese Epoche heute unwiderruflich abgelaufen scheint, so nicht, weil die
Menschen aus einer dekadenten Laune ihr nationales literarisches Pensum nicht
mehr zu erfüllen bereit wären; die Epoche des nationalbürgerlichen Humanismus
ist an ein Ende gelangt, weil die Kunst, Liebe inspirierende Briefe an eine
Nation von Freunden zu schreiben, auch wenn sie noch so professionell geübt
würde, nicht mehr ausreichen könnte, das telekommunikative Band zwischen den
Bewohnern einer modernen Massengesellschaft zu knüpfen. Durch die mediale
Etablierung der Massenkultur in der Ersten Welt 1918 (Rundfunk) und nach 1945
(Fernsehen) und mehr noch durch die aktuellen Vernetzungsrevolutionen ist die
Koexistenz der Menschen in den aktuellen Gesellschaften auf neue Grundlagen
gestellt worden. Diese sind, wie sich ohne Aufwand zeigen läßt, entschieden
post-literarisch, post-epistolographisch und folglich post-humanistisch. Wer
die Vorsilbe post in diesen Formulierungen für zu dramatisch hält, könnte sie
durch das Adverb marginal ersetzen - sodaß unsere These lautet: moderne
Großgesellschaften können ihre politische und kulturelle Synthesis nur noch
marginal über literarische, briefliche, humanistische Medien produzieren.
Keineswegs ist deswegen die Literatur am Ende, aber sie hat sich zu einer
Subkultur sui generis ausdifferenziert und die Tage ihrer Überschätzung als
Träger der Nationalgeister sind vorüber. Die soziale Synthesis ist nicht mehr -
auch nicht mehr scheinbar - hauptsächlich eine Buch- und Briefsache. Es sind
inzwischen neue Medien der politisch-kulturellen Telekommunikation in Führung
gegangen, die das Schema der schriftgeborenen Freundschaften auf ein bescheidenes
Maß zurückgedrängt haben. Die Ära des neuzeitlichen Humanismus als Schul- und
Bildungsmodell ist abgelaufen, weil die Illusion nicht länger sich halten läßt,
politische und ökonomische Großstrukturen könnten nach dem amiablen Modell der
literarischen Gesellschaft organisiert werden.
Diese
Desillusionierung, die spätestens seit dem Ersten Weltkrieg zur Kenntnisnahme
durch die noch humanistisch Gebildeten ansteht, hat eine eigentümlich
zerdehnte, von Kehrtwendungen und Verdrehungen markierte Geschichte. Denn
ausgerechnet am grellen Ende der nationalhumanistischen Ära, in den beispiellos
verdüsterten Jahren nach 1945, sollte das humanistische Modell noch einmal eine
Nachblüte erleben; es handelte sich dabei um eine veranstaltete und reflexhafte
Renaissance, die das Muster für alle seitherigen kleinen Reanimationen des
Humanismus liefert. Wäre der Hintergrund nicht so dunkel, man müßte von einem
Schwärmen und einem Sichtäuschen um die Wette reden. In den
fundamentalistischen Stimmungen der Jahre nach 1945 war es für viele Menschen
aus begreiflichen Gründen nicht genug, aus den Kriegsgreueln zurückzukehren in
eine Gesellschaft, die sich wieder als pazifiziertes Publikum von Lese-Freunden
präsentierte - als könnte eine Goethe-Jugend die Hitler-Jugend vergessen
machen. Damals schien es vielen umgänglich, neben den neu aufgelegten
Römerlektüren auch die zweite, die biblische Basislektüre der Europäer wieder
aufzuschlagen und die Grundlagen des nun wieder so genannten Abendlandes im
christlichen Humanismus zu beschwören. Dieser verzweifelt über Weimar nach Rom
blickende Neohumanismus war ein Traum von der Rettung der europäischen Seele
durch eine radikalisierte Bibliophilie - eine schwermütig-hoffnungsvolle
Schwärmerei von der zivilisierenden, der vermenschlichenden Macht der
Klassikerlektüre - wenn wir uns für einen Augenblick die Freiheit nehmen,
Cicero und Christus nebeneinander als Klassiker aufzufassen.
In
diesen Nachkriegshumanismen, mögen sie noch so illusionsgeboren gewesen sein,
verrät sich immerhin ein Motiv, ohne das sich die humanistische Tendenz im
ganzen niemals verständlich machen läßt - weder in den Tagen der Römer noch in
der Ära der neuzeitlich bürgerlichen Nationalstaaten: Humanismus als Wort und
Sache hat immer ein Wogegen, denn er ist das Engagement für die Zurückholung
des Menschen aus der Barbarei. Es versteht sich leicht, daß gerade jene
Zeitalter, die mit dem barbarischen Potential, das in gewalthaften
Interaktionen zwischen Menschen freigesetzt wird, ihre besonderen Erfahrungen
gemacht haben, zugleich die Zeiten sind, in denen der Ruf nach Humanismus
lauter und fordernder zu werden pflegt. Wer heute nach der Zukunft von
Humanität und Humanisierungsmedien fragt, will im Grunde wissen, ob Hoffnung
besteht, der aktuellen Verwilderungstendenzen beim Menschen Herr zu werden.
Dabei fällt beunruhigend ins Gewicht, daß Verwilderungen, heute wie immer,
gerade bei hoher Machtentfaltung aufzubrechen pflegen, sei es als unmittelbare
kriegerische und imperiale Roheit, sei es als alltägliche Bestialisierung der
Menschen in den Medien enthemmender Unterhaltung. Für beides haben die Römer
die europaprägenden Modelle geliefert - zum einen mit ihrem
allesdurchdringenden Militarismus, zum anderen durch ihre zukunftweisende
Unterhaltungsindustrie der blutigen Spiele. Das latente Thema des Humanismus
ist also die Entwilderung des Menschen, und seine latente These lautet:
Richtige Lektüre macht zahm.
Das
Phänomen Humanismus verdient Aufmerksamkeit heute vor allem, weil es - wie auch
immer verschleiert und befangen - daran erinnert, daß Menschen in der
Hochkultur ständig von zwei Bildungsmächten zugleich in Anspruch genommen
werden - wir wollen sie hier der Vereinfachung zuliebe schlicht die hemmenden
und die enthemmenden Einflüsse nennen. Zum Credo des Humanismus gehört die
Überzeugung, daß Menschen "Tiere unter Einfluß" sind und daß es
deswegen unerläßlich sei, ihnen die richtige Art von Beeinflussungen zukommen
zu lassen. Das Etikett Humanismus erinnert - in falscher Harmlosigkeit - an die
fortwährende Schlacht um den Menschen, die sich als Ringen zwischen
bestialisierenden und zähmenden Tendenzen vollzieht.
Für
die Epoche Ciceros sind die beiden Einflußmächte noch leicht zu identifizieren,
denn jede von beiden besitzt ihr eigenes charakteristisches Medium. Was die
bestialisierenden Einflüsse angeht, so hatten die Römer mit ihren
Amphitheatern, ihren Tierhetzen, ihren Kampfspielen bis zum Tode und ihren
Hinrichtungsspekakeln das erfolgreichste massenmediale Netz der alten Welt
installiert. In den tobenden Stadien rund ums Mittelmer kam der enthemmte homo
inhumanus wie kaum je zuvor und selten danach auf seine Kosten (3). Während der
Kaiserzeit war die Versorgung der römischen Massen mit bestialisierenden
Faszinationen zu einer unentbehrlichen, routiniert ausgebauten Herrschaftstechnik
geworden, die sich dank der juvenalischen Brot-und-Spiele-Formel bis heute in
Erinnerung gehalten hat. Man kann den antiken Humanismus nur verstehen, wenn
man ihn auch als Parteinahme in einem Medienkonflikt begreift - das heißt als
Widerstand des Buches gegen das Amphitheater und als Opposition der
vermenschlichenden, geduldigmachenden, besinnungstiftenden philosophischen
Lektüre gegen den entmenschenden, ungeduldig aufbrausenden Sensations- und
Berauschungssog in den Stadien. Was die gebildeten Römer humanitas nannten,
wäre undenkbar ohne die Forderung nach Abstinenz von der Massenkultur in den
Theatern der Grausamkeit. Sollte der Humanist selbst sich einmal in die
brüllende Menge verirren, so nur, um festzustellen, daß auch er ein Mensch ist
und daher von der Bestialisierung infiziert werden kann. Er kehrt aus dem
Theater nach Hause, beschämt über seine unwillkürliche Anteilnahme an den
infektiösen Sensationen und ist nun geneigt zuzugeben, daß nichts Menschliches
ihm fremd sei. Aber damit ist gesagt, daß Menschlichkeit darin besteht, zur
Entwicklung der eigenen Natur die zähmenden Medien zu wählen und auf die
enthemmenden zu verzichten. Der Sinn dieser Medienwahl liegt darin, sich der
eigenen möglichen Bestialität zu entwöhnen und Abstand zu legen zwischen sich
und die entmenschenden Eskalationen der theatralischen Brüllmeute.
Diese
Andeutungen machen deutlich: Mit der Humanismus-Frage ist mehr gemeint als die
bukolische Vermutung, daß lesen bildet. Es geht in ihr um nicht weniger als um
eine Anthropodizee - das heißt eine Bestimmung des Menschen angesichts seiner
biologischen Offenheit und seiner moralischen Ambivalenz. Vor allem aber ist
die Frage, wie der Mensch zu einem wahren oder wirklichen Menschen werden
könne, von hier an unausweichlich als eine Medienfrage gestellt, wenn wir unter
Medien die kommunionalen und kommunikativen Mittel verstehen, durch deren
Gebrauch sich die Menschen selbst bilden zu dem, was sie sein können und sein
werden.
*
Im
Herbst 1946 - im elendesten Tal der europäischen Nachkriegs-Krise - schrieb der
Philosoph Martin Heidegger seinen berühmt gewordenen Aufsatz über den
Humanismus - einen Text, der sich beim ersten Hinsehen auch als ein dickerer
Brief an Freunde verstehen ließe. Aber das Befreundungsverfahren, das dieser
Brief zu seinen Gunsten bemühte, war nicht mehr einfach das der bürgerlichen
schöngeistigen Kommunikation, und der Begriff von Freundschaft, der durch
dieses denkwürdige philosophische Sendschreiben in Anspruch genommen wurde, war
keineswegs mehr jener der Kommunion zwischen einem Nationalpublikum und seinem
Klassiker. Heidegger wußte, als er diesen Brief formulierte, daß er mit
brüchiger Stimme sprechen oder mit zögernder Hand würde schreiben müssen, und
daß die prästabilisierte Harmonie zwischen dem Autor und seinen Lesern in
keiner Hinsicht mehr für gegeben gehalten werden durfte. Es stand für ihn zu
jener Zeit nicht einmal fest, ob er überhaupt noch Freunde habe, und sollten
Freunde sich noch finden lassen, so müßte die Grundlage dieser Freundschaften
neu bestimmt werden, jenseits von allem, was bis dahin in Europa und in den
Nationen als Grund für Freundschaft zwischen Gebildeten gegolten hatte. Eines
zumindest ist offenkundig: Was der Philosoph in jenem Herbst des Jahres 1946 zu
Papier brachte, war keine Rede an die eigene Nation und auch keine Rede an ein
künftiges Europa; es war ein mehrdeutiger, zugleich vorsichtiger und kühner
Versuch des Autors, sich überhaupt noch einen geneigten Empfänger seiner
Botschaft vorzustellen - und es entstand dabei, seltsam genug bei einem Mann
von Heideggers regionalistischem Naturell - ein Brief an einen Ausländer -
einen potentiellen Freund in der Ferne, einen jungen Denker, der sich die
Freiheit genommen hatte, während der Besatzung Frankreichs durch die Deutschen
sich von einem deutschen Denker begeistern zu lassen.
Also
eine neue Befreundungstechnik? Eine neue Post? Eine andere Art, Einverstandene
und Mitnachdenkliche um ein ins Weite gesandtes Schriftstück zu versammeln? Ein
anderer Humanisierungsversuch? Ein anderer Gesellschaftsvertrag zwischen
Trägern einer unbehausten, nicht mehr nationalhumanistischen Nachdenklichkeit?
Heideggers Gegner haben natürlich nicht versäumt, darauf hinzuweisen, daß der
schlaue kleine Mann aus Meßkirch hier instinktsicher die erste Chance ergriffen
habe, die sich ihm nach dem Kriege bot, an seiner Rehabilitation zu arbeiten:
so habe er das Entgegenkommen eines seiner französischen Bewunderer listig
ausgenutzt, um sich aus der politischen Zweideutigkeit ins Hochland mystischer
Besinnlichkeit abzusetzen. Diese Verdächtigungen mögen suggestiv und triftig
klingen, sie verfehlen doch das denkerische und kommunikationsstrategische
Ereignis, das der zunächst an
Heidegger
nimmt aus einem Schreiben
"Diese Frage kommt aus der
Absicht, das Wort 'Humanismus' festzuhalten. Ich frage mich, ob das nötig ist.
Oder ist das Unheil, das alle Titel dieser Art anrichten, nicht schon
offenkundig genug?" "Ihre Frage setzt nicht nur voraus, daß sie das
Wort 'Humanismus' festhalten wollen, sondern sie enthält auch das Zugeständnis,
daß dieses Wort seinen Sinn verloren hat."(Über den Humanismus, 1949,
1981, S.7 und 35)
Damit
wird schon ein Teil von Heideggers Strategie manifest: Das Wort Humanismus muß
aufgegeben werden, wenn die wirkliche Denkaufgabe, die in der humanistischen
oder metaphysischen Tradition bereits als gelöste erscheinen wollte, in ihrer
anfänglichen Einfachheit und Unausweichlichkeit wiedererfahren werden soll.
Zuspitzend gesprochen: Wozu erneut den Menschen und seine maßgebliche
philosophische Selbstdarstellung im Humanismus als die Lösung anpreisen, wenn
sich gerade in der Katastrophe der Gegenwart gezeigt hat, daß der Mensch selbst
mitsamt seinen Systemen metaphysischer Selbstüberhöhung und Selbsterklärung das
Problem ist? Diese Zurechtrückung der Frage Beaufrets geschieht nicht ohne
meisterliche Bosheit, denn sie hält, in sokratischer Manier, dem Schüler die in
der Frage enthaltene falsche Antwort vor. Sie geschieht zugleich mit
denkerischem Ernst, denn es werden die drei kuranten Hauptheilmittel in der
europäischen Krise von 1945: Christentum, Marxismus und Existentialismus Seite
an Seite als Spielarten des Humanismus charakterisiert, die sich nur in der
Oberflächenstruktur voneinander unterscheiden - schärfer gesagt: als drei Arten
und Weisen, der letzten Radikalität der Frage nach dem Wesen des Menschen
auszuweichen.
Heidegger
bietet sich an, der unermeßlichen Unterlassung des europäischen Denkens -
nämlich der Nicht-Stellung der Frage nach dem Wesen des Menschen in der einzig
angemessenen, er meint: existential-ontologischen Weise ein Ende zu bereiten;
zumindest aber deutet der Autor seine Bereitschaft an, in wie auch immer
vorläufigen Wendungen der Heraufkunft der endlich sich richtig stellenden Frage
zu dienen. Mit diesen scheinbar bescheidenen Wendungen legt Heidegger
bestürzende Konsequenzen offen: Dem Humanismus - in seiner antiken, in seiner
christlichen wie in seiner aufklärerischen Gestalt - wird bescheinigt, der
Agent eines zweitausendjährigen Nichtdenkens zu sein; es wird ihm vorgehalten,
mit seinen schnell gegebenen, scheinbar evidenten und unabweislichen Deutungen
des Menschenwesens die Heraufkunft der eigentlichen Menschenwesensfrage
versperrt zu haben. Heidegger erklärt, es werde in seinem Werk von 'Sein und
Zeit an gegen den Humanismus gedacht, nicht weil dieser die Humanitas überschätzt
habe, sondern weil er sie nicht hoch genug ansetze (Ü.d.H., S. 21). Aber was
heißt das Wesen des Menschen hoch genug ansetzen? Es bedeutet fürs erste, auf
eine habituelle falsche Herabsetzung zu verzichten. Die Menschenwesensfrage
komme nicht eher auf die richtige Bahn, als bis man Abstand nehme von der
ältesten, hartnäckigsten und verderblichsten Übung der europäischen Metaphysik:
den Menschen als animal rationale zu definieren. In dieser Deutung des
Menschenwesens bleibt der Mensch verstanden von einer durch geistige Zusätze
erweiterten Animalitas her. Hiergegen revoltiert Heideggers
existentialontologische Analyse, denn für ihn kann das Wesen des Menschen
niemals in zoologischer oder biologischer Perspektive ausgesagt werden, auch
wenn zu dieser regelmäßig ein geistiger oder transzendenter Faktor
hinzugerechnet wird.
In
diesem Punkt ist Heidegger unerbittlich, ja er tritt wie ein zorniger Engel mit
gekreuzten Schwertern zwischen das Tier und den Menschen, um jede ontologische
Gemeinschaft zwischen beiden zu verwehren. Er läßt sich in seinem
anti-vitalistischen und anti-biologistischen Affekt zu nahezu hysterischen
Äußerungen hinreißen, etwa wenn er erklärt, es scheine, "als sei das Wesen
des Göttlichen uns näher als das Befremdende der Lebe-Wesen" (Ü.d.H., S.
17). Im Kern dieses anti-vitalistischen Pathos wirkt die Erkenntnis, daß der
Mensch zum Tier in ontologischer, nicht in spezifischer oder generischer
Differenz steht, weswegen er unter keinen Umständen als Tier mit einem
kulturellen oder metaphysischen Plus aufgefaßt werden darf. Vielmehr ist die
Seinsart des Menschlichen selbst von der aller übrigen vegetabilischen und
animalischen Wesen essentiell und dem ontologischen Grundzug nach verschieden;
denn der Mensch hat Welt und ist in der Welt, während Gewächs und Getier nur in
ihre jeweiligen Umwelten verspannt sind.
Wenn
philosophisch Grund gegeben ist für eine Rede von der Würde des Menschen, dann
deswegen, weil eben der Mensch der vom Sein selbst Angesprochene und, wie
Heidegger als Pastoralphilosoph zu sagen beliebt, zu seiner Hütung Bestellte
ist. Deswegen haben Menschen die Sprache - aber sie besitzen diese, nach
Heidegger, nicht in erster Linie nur, um sich untereinander zu verständigen und
sich in diesen Verständigungen gegenseitig zu zähmen.
"Vielmehr ist die Sprache das Haus
des Seins, darin wohnend der Mensch ek-sistiert, indem er der Wahrheit des
Seins, sie hütend, gehört.
So kommt es bei der Bestimmung der
Menschlichkeit des Menschen als der Ek-sistenz darauf an, daß nicht der Mensch
das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der
Ek-sistenz." (Ü.d.H. 24)
Im
Hinhorchen auf diese zunächst hermetischen Formulierungen
kommt
eine Ahnung auf, wieso Heideggers Humanismuskritik sich so sicher wähnt, nicht
in einen Inhumanismus zu münden. Denn indem er die Ansprüche des Humanismus,
das Menschenwesen schon zureichend ausgelegt zu haben, zurückweist und seine
eigene Onto-Anthropologie dagegensetzt, so hält er doch an der wichtigsten
Funktion des klassischen Humanismus, nämlich der Befreundung des Menschen mit
dem Wort des Anderen, auf indirekte Weise fest - ja er radikalisiert dieses
Befreundungsmotiv und versetzt es aus dem pädagogischen Feld ins Zentrum der
ontologischen Besinnnung.
Das
ist der Sinn der oft zitierten und viel verlachten Redeweise vom Menschen als
dem Hirten des Seins. Unter Verwendung von Bildern aus dem Motivkreis der
Pastorale und der Idylle spricht Heidegger von der Aufgabe des Menschen, die
sein Wesen ist, und von dem Menschenwesen, aus dem seine Aufgabe entspringt:
nämlich das Sein zu hüten und dem Sein zu entsprechen. Gewiß, der Mensch hütet
nicht das Sein wie der Kranke das Bett, eher wie ein Hirt seine Herde auf der
Lichtung, mit dem gewichtigen Unterschied, daß hier statt einer Herde Viehs die
Welt als offener Umstand gelassen zu gewahren ist - und weiter noch, daß dieses
Hüten keine frei gewählte Bewachungsaufgabe im eigenen Interesse darstellt,
sondern daß die Menschen vom Sein selbst als Hüter angestellt werden. Der Ort,
an dem diese Anstellung gilt, ist die Lichtung oder die Stelle, wo Sein aufgeht
als das, was da ist.
Was
Heidegger die Gewißheit gibt, mit diesen Wendungen den Humanismus überdacht und
überboten zu haben, ist der Umstand, daß er den Menschen, als Lichtung des
Seins begriffen, in eine Zähmung und eine Befreundung einbezieht, die tiefer
gehen als jede humanistische Entbestialisierung und jede gebildete Liebe zu dem
Text, der von Liebe spricht, jemals reichen könnten. Indem er den Menschen als
Hirten und Nachbarn des Seins bestimmt und die Sprache als Haus des Seins
bezeichnet, bindet er den Menschen in eine Entsprechung zum Sein, die ihm eine
radikale Verhaltenheit auferlegt und ihn - den Hirten - in die Nähe oder den
Umgriff des Hauses bannt; er exponiert ihn einer Besinnung, die mehr
Stillhalten und Stille-Hörigkeit in Anspruch nimmt als die umfassendste Bildung
es je vermöchte. Der Mensch wird einer ekstatischen Verhaltenheit unterworfen,
die weiter reicht als das zivilisierte Innehalten des textfrommen Lesers vor dem
klassischen Wort. Das heideggersche an sich haltende Wohnen im Haus der Sprache
ist bestimmt als ein abwartendes Lauschen auf das, was vom Sein selbst her zu
sagen aufgegeben werden wird. Es beschwört ein In-die-Nähe-Horchen, bei dem der
Mensch stiller und gezähmter werden muß als der Humanist beim Lesen der
Klassiker. Heidegger will einen Menschen, der höriger wäre als ein bloßer guter
Leser. Er möchte einen Befreundungsprozeß stiften, in welchem auch er selbst
nicht mehr nur als Klassiker oder als Autor unter anderen rezipiert würde; am
besten wäre es fürs erste wohl, wenn das Publikum, das naturgemäß nur aus
ahnungsvollen Wenigen bestehen kann, zur Kenntnis nähme, daß das Sein selbst
durch ihn, den Mentor der Seinsfrage, von neuem zu reden begonnen hat.
Damit
erhebt Heidegger das Sein zum alleinigen Autor aller wesentlichen Briefe und
setzt sich selbst als dessen aktuellen Schriftführer ein. Wer in solcher
Position redet, darf auch Stammeln aufzeichnen und Schweigen publizieren. Das
Sein also schickt die entscheidenden Briefe, genauer gesagt, es gibt Winke an
geistesgegenwärtige Freunde, an empfängliche Nachbarn, an gesammelt stille
Hirten, doch soweit wir sehen, lassen sich aus dem Kreis dieser Mithirten und
Freunde des Seins keine Nationen, ja nicht einmal alternative Schulen bilden, -
nicht zuletzt deswegen, weil es keinen öffentlichen Kanon der Seins-Winke geben
kann - es sei denn, man ließe Heideggers opera omnia bis auf weiteres als
Maßstab und Stimme des namenlosen Über-Autors gelten.
Es
bleibt angesichts dieser dunklen Kommunionen bis auf weiteres völlig unklar,
wie eine Gesellschaft aus Nachbarn des Seins verfaßt sein könnte - sie muß
wohl, bevor sich Deutlicheres zeigt, als eine unsichtbare Kirche von
verstreuten Einzelnen aufgefaßt werden, von denen jeder auf seine Weise ins
Ungeheure lauscht und die Worte erwartet, in denen laut wird, was dem Sprecher
von der Sprache selbst zu sagen gegeben wird (5). Es ist müßig, hier näher auf
den kryptokatholischen Charakter der heideggerschen Meditationsfiguren
einzugehen. Entscheidend ist jetzt nur, daß durch Heideggers Humanismuskritik
hindurch ein Haltungswandel sich propagiert, der den Menschen auf eine über
alle humanistischen Erziehungsziele weit hinausweisende besinnliche Askese
hinweist. Nur kraft dieser Askese würde eine Gesellschaft der Besinnlichen
jenseits der humanistischen literarischen Sozietät sich formieren können; es
wäre dies eine Gesellschaft aus Menschen, die den Menschen aus der Mitte
rückten, weil sie begriffen hätten, daß sie nur als ìNachbarn des Seinsî
existieren - und nicht als eigensinnige Hausbesitzer oder als möblierte Herren
in unkündbarer Hauptmiete. Zu dieser Askese kann der Humanismus nichts
beitragen, solange er am Leitbild des starken Menschen orientiert bleibt.
Die
humanistischen Freunde der menschlichen Autoren verfehlen die begnadete
Schwäche, in der das Sein sich den Angerührten, Angesprochenen zeigt. Für
Heidegger führt vom Humanismus kein Weg zu dieser verschärften ontologischen
Demutsübung; er meint in ihm vielmehr selbst einen Beitrag zur
Aufrüstungsgeschichte der Subjektivität zu sehen. Tatsächlich deutet Heidegger
die geschichtliche Welt Europas als das Theater der militanten Humanismen; sie
ist das Feld, auf dem die menschliche Subjektivität ihre Machtergreifung über
alles Seiende mit schicksalhafter Folgerichtigkeit ausagiert. Unter dieser
Perspektive muß sich der Humanismus als natürlicher Komplize aller nur
möglichen Greuel anbieten, die im Namen des menschlichen Wohls begangen werden
können. Auch in der tragischen Titanomachie der Jahrhundertmitte zwischen
Bolschewismus, Faschismus und Amerikanismus standen sich - aus Heideggers Sicht
- lediglich drei Varianten derselben anthropozentrischen Gewalt (6) und drei
Kandidaturen für eine humanitär verbrämte Weltherrschaft gegenüber - wobei der
Faschismus aus der Reihe tanzte, indem er seine Verachtung für hemmende
Friedens- und Bildungswerte offener als seine Konkurrenten zur Schau stellte.
Tatsächlich ist Faschismus die Metaphysik der Enthemmung - vielleicht auch eine
Enthemmungsgestalt der Metaphysik. Aus Heideggers Sicht war der Faschismus die
Synthese aus dem Humanismus und dem Bestialismus - das heißt die paradoxe
Koinzidenz von Hemmung und Enthemmung.
Angesichts
solcher ungeheuerlicher Verwerfungen und Verkehrungen lag es nahe, die Frage
nach dem Grund der Menschenzähmung und Menschenbildung neu zu stellen, und wenn
Heideggers ontologische Hirtenspiele - die schon in ihrer Zeit seltsam und
anstößig klangen - heute vollends anachronistisch zu sein scheinen, so behalten
sie doch das Verdienst, daß sie unbeschadet ihrer Peinlichkeit und ihrer
linkischen Außerordentlichkeit die Epochenfrage artikuliert haben: Was zähmt
noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Men-schenzähmung
scheitert? Was zähmt den Menschen, wenn seine bisherigen Anstrengungen der
Selbstzähmung in der Hauptsache doch nur zu seiner Machtergreifung über alles
Seiende geführt haben? Was zähmt den Menschen, wenn nach allen bisherigen
Experimenten mit der Erziehung des Menschen-geschlechts unklar geblieben ist,
wer oder was die Erzieher wozu erzieht? Oder läßt sich die Frage nach der
Hegung und Formung des Menschen im Rahmen bloßer Zähmungs- und
Erziehungstheorien gar nicht mehr auf kompetente Weise stellen?
Wir
werden im folgenden von Heideggers Anweisungen zum Stehenbleiben in Endfiguren
des besinnlichen Denkens abweichen, indem wir den Versuch unternehmen, die
ekstatische Lichtung, in der sich der Mensch vom Sein ansprechen läßt,
historisch genauer zu charaktierisieren. Es wird sich zeigen, daß der
menschliche Aufenthalt in der Lichtung - heideggerisch geredet das Hineinstehen
oder Hineingehaltensein des Menschen in die Lichtung des Seins - keineswegs ein
ontologisches Urverhältnis ist, das keiner weiteren Befragung zugänglich wäre.
Es gibt eine von Heidegger resolut ignorierte Geschichte des Heraustretens des
Menschen in die Lichtung - eine Sozialgeschichte der Berührbarkeit des Menschen
durch die Seinsfrage und eine historische Bewegtheit im Aufklaffen der
ontologischen Differenz.
Es
ist hier zum einen von einer Naturgeschichte der Gelassenheit zu sprechen,
kraft derer der Mensch das welt-offene, weltfähige Tier zu werden vermochte,
zum anderen von einer Sozialgeschichte der Zähmungen, durch die die Menschen
sich ursprünglich als die Wesen erfahren, die sich zusammennehmen (7), um dem
Ganzen zu entsprechen. Die Realgeschichte der Lichtung - von der eine über den
Humanismus hinaus vertiefte Besinnung über den Menschen ihren Ausgang nehmen
muß - setzt sich also aus zwei größeren Erzählungen zusammen, die in einer
gemeinsamen Perspektive konvergieren, nämlich in der Darlegung, wie aus dem
Sapiens-Tier der Sapiens-Mensch wurde. Die erste dieser beiden Erzählungen gibt
Rechenschaft von dem Abenteuer der Hominisation. Sie berichtet davon, wie in den
langen Perioden vormenschlich-menschlicher Urgeschichte aus dem
lebendgebärenden Säugetier Mensch eine Gattung von früh-geburtlichen Wesen
wurde, die - wenn man so paradox reden dürfte - mit einem wachsenden Überschuß
an animalischer Unfertigkeit in ihre Umwelten heraustraten. Hier vollzieht sich
die anthropogenetische Revolution - die Aufsprengung der biologischen Geburt
zum Akt des Zur-Welt-Kommens. Von dieser Explosion hat Heidegger in seiner
störrischen Reserve gegen alle Anthropologie und in seinem Eifer, den
Ausgangspunkt beim Dasein und In-der-Welt-Sein des Menschen ontologisch rein zu
bewahren, bei weitem nicht genug Notiz genommen. Denn daß der Mensch das Wesen,
das in der Welt ist, werden konnte, hat gattungsgeschichtliche Wurzeln, die
sich andeuten lassen durch die abgründigen Begriffe der Frühgeburtlichkeit, der
Neotenie und der chronischen animalischen Unreife des Menschen. Man könnte so
weit gehen, den Menschen zu bezeichnen als das Wesen, das in seinem Tiersein
und Tierbleiben gescheitert ist. Durch sein Scheitern als Tier stürzt das
unbestimmte Wesen aus der Umwelt und erwirbt so die Welt im ontologischen Sinn.
Dieses ekstatische Zur-Welt-Kommen und diese "Übereignung" an das
Sein ist dem Menschen aus gattungsgeschichtlichem Erbe in die Wiege gelegt.
Wenn der Mensch in-der-Welt ist, dann weil er einer Bewegung gehört, die ihn
zur Welt bringt und ihn der Welt aussetzt. Er ist das Produkt einer
Hyper-Geburt, die aus dem Säugling einen Weltling macht.
Dieser
Exodus würde nur psychotische Tiere erzeugen, wenn nicht mit dem Hervorgang in
die Welt zugleich ein Einzug vonstatten ginge in das, was Heidegger das Haus
des Seins nannte. Die traditionellen Sprachen des Menschengeschlechts haben die
Ekstase des In-der-Welt-Seins lebbar gemacht, indem sie den Menschen zeigten,
wie ihr Sein bei der Welt zugleich als Bei-sich-selbst-Sein erfahren werden
kann. Insofern ist die Lichtung ein Ereignis an der Grenze von Natur-und
Kulturgeschichte, und das menschliche Zur-Welt-Kommen nimmt von früh auf die
Züge eines Zur-Sprache-Kommens an (8). -
Aber
die Geschichte der Lichtung kann nicht nur als Erzählung vom Einzug der
Menschen in die Häuser der Sprachen entwickelt werden. Denn sobald die
sprechenden Menschen in größeren Gruppen zusammenleben und sich nicht nur an
Sprachhäuser, sondern auch an gebaute Häuser binden, geraten sie ins Kraftfeld
der seßhaften Seinsweisen. Sie lassen sich nunmehr nicht mehr nur von ihren
Sprachen bergen, sondern auch von ihren Behausungen zähmen. Auf der Lichtung
erheben sich ñ als deren auffälligste Markierungen - die Häuser der Menschen
(mitsamt den Tempeln ihrer Götter und den Palästen ihrer Herren).
Kulturhistoriker haben klargemacht, daß mit der Seßhaftwerdung zugleich das
Verhältnis zwischen Mensch und Tier insgesamt unter neue Vorzeichen geriet. Mit
der Zähmung des Menschen durch das Haus beginnt zugleich das Epos von den
Haustieren. Deren Bindung an die Häuser der Menschen jedoch ist nicht bloß eine
Sache von Zähmungen, sondern auch eine von Abrichtungen und von Züchtungen.
Der
Mensch und die Haustiere - die Geschichte dieser ungeheuerlichen Kohabitation
ist noch nicht auf angemessene Weise zur Darstellung gebracht worden , und erst
recht haben die Philosophen bis heute nicht wahrhaben wollen, was sie selbst
inmitten dieser Geschichte zu suchen haben (9). Nur an wenigen Stellen ist der
Schleier des Philosophenschweigens über das Haus, den Menschen und das Tier als
biopolitischen Komplex gerissen, und was dann zu hören war, waren
schwindelerregende Hinweise auf Probleme, die für Menschen bis auf weiteres zu
schwer sind. Hiervon ist noch das geringste der innige Zusammenhang zwischen
Häuslichkeit und Theoriebildung - denn man könnte durchaus so weit gehen, die
Theorie als eine Spielart von Hausarbeit zu bestimmen, oder vielmehr als eine
Art von Hausmuße; denn was die Theorie nach ihren antiken Definitionen war,
gleicht einem serenen Blick aus dem Fenster - sie ist in erster Linie eine
Sache der Kontemplation, während sie in der Neuzeit - seit Wissen Macht sein
soll - eindeutig Arbeitscharakter angenommen hat. In diesem Sinne wären die
Fenster die Lichtungen der Mauern, hinter denen die Menschen zu theoriefähigen
Wesen wurden. Auch Spaziergänge, bei denen Bewegung und Besinnung verschmelzen,
sind Derivate der Häuslichkeit. Noch Heideggers berüchtigte Denkwanderungen
über Feld- und Holzwege sind typische Bewegungen von einem, der ein Haus im
Rücken hat.
Doch
diese Herleitung der Lichtung aus der gesicherten Häuslichkeit trifft nur den
harmloseren Aspekt der Menschwerdung in Häusern. Die Lichtung ist zugleich ein
Kampfplatz und ein Ort der Entscheidung und der Selektion. In bezug hierauf ist
mit Wendungen einer philosophischen Pastorale nichts zu mehr auszumachen. Wo
Häuser stehen, dort muß entschieden werden, was aus den Menschen, die sie
bewohnen, werden soll; es wird in der Tat und durch die Tat entschieden, welche
Arten von Häuserbauern zur Vorherrschaft kommen. In der Lichtung erweist sich,
um welche Einsätze die Menschen kämpfen, sobald sie als städtebauende und
reiche-errichtende Wesen hervortreten. Worum es hier im Ernst zu tun ist, das
hat der Meister des gefährlichen Denkens, Nietzsche, im dritten Teil von 'Also
sprach Zarathustra' unter der Überschrift: 'Von der verkleinernden Tugend' in
beklemmenden Andeutungen umschrieben:
"Denn er (Zarathustra) wollte
in Erfahrung bringen, was sich inzwischen m i t d e m M e n s c h e n
zugetragen habe: ob er grösser oder kleiner geworden sei. Und einmal sah er
eine Reihe neuer Häuser; da wunderte er sich und sagte:
Was bedeuten diese Häuser? Wahrlich,
keine große Seele stellte sie hin, sich zum Gleichnisse!
...diese Stuben und Kammern: können
M ä n n e r da aus- und eingehen?
-
Und Zarathustra blieb stehen und
dachte nach. Endlich sagte er betrübt: 'Es ist A l l e s kleiner geworden!'
Überall sehe ich niedrigere Thore: wer me i n
e r Art ist, geht da wohl noch hindurch, aber - er muß sich bücken!
... Ich gehe durch diess Volk und
halte die Augen offen: sie sind k l e i n e r geworden und werden immer
kleiner: - d a s a b e r m a c h t i h r e L e h r e v o n G l ü c k u n d T u
g e n d.
...Einige von ihnen wollen, aber die Meisten
werden nur gewollt...
...Rund, rechtlich und gütig sind
sie miteinander, wie Sandkörnchen rund, rechtlich und gütig mit Sandkörnchen
sind.
Bescheiden ein kleines Glück umarmen
- das heissen sie 'Ergebung'!...
Sie wollen im Grunde einfältiglich
Eins am meisten: dass ihnen Niemand wehe thue...
Tugend ist ihnen das, was bescheiden
und zahm macht: damit machten sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu
des Menschen bestem Hausthiere."
(KSA 4, S.211-214)
Ohne
Zweifel verbirgt sich in dieser rhapsodischen Spruchfolge ein theoretischer
Diskurs über den Menschen als eine zähmende und züchtende Gewalt. Aus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines:
erfolgreiche Züchter, die es vermocht haben, aus dem wilden Menschen den
letzten Menschen zu machen. Es versteht sich von selbst, daß dergleichen nicht
nur mit humanistischen, zähmend-abrichtend-erzieherischen Mitteln geschehen konnte.
Mit der These vom Menschen als Züchter des Menschen wird der humanistische
Horizont gesprengt, sofern der Humanismus niemals weiter denken kann und darf
als bis zur Zähmungs- und Erziehungsfrage: Der Humanist läßt sich den Menschen
vorgeben und wendet dann auf ihn seine zähmenden, dressierenden, bildenden
Mittel an - überzeugt, wie er ist, vom notwendigen Zusammenhang zwischen Lesen,
Sitzen und Besänftigen.
Nietzsche
hingegen - der Darwin und Paulus gleich aufmerksam gelesen hat - meint, hinter
dem heiteren Horizont der schulischen Menschenzähmung einen zweiten, dunkleren
Horizont wahrzunehmen. Er wittert einen Raum, in dem unvermeidliche Kämpfe über
Richtungen der Menschenzüchtung beginnen werden - und dieser Raum ist es, in
dem sich das andere, das verhüllte Gesicht der Lichtung zeigt. Wenn Zarathustra
durch die Stadt geht, in der alles kleiner geworden ist, nimmt er das Ergebnis
einer bislang erfolgreichen und unumstrittenen Züchtungspolitik wahr: Die
Menschen haben es - so scheint es ihm - mit Hilfe einer geschickten Verbindung
von Ethik und Genetik fertiggebracht, sich selber kleinzuzüchten. Sie haben
sich selbst der Domestikation unterworfen und eine Zuchtwahl in Richtung auf
haustierliche Umgänglichkeit bei sich selbst auf den Weg gebracht. Aus dieser
Einsicht entspringt Zarathustras eigentümliche Humanismus-Kritik als
Zurückweisung der falschen Harmlosigkeit, mit der sich der neuzeitliche gute
Mensch umgibt. Tatsächlich, es wäre nicht harmlos, wenn Menschen Menschen in
Richtung auf Harmlosigkeit züchteten. Nietzsches Verdacht gegen alle
humanistische Kultur dringt darauf, das Domestikationsgeheimnis der Menschheit
zu lüften. Er will die bisherigen Inhaber der Züchtungsmonopole - die Priester
und Lehrer, die sich als Menschenfreunde präsentierten - beim Namen und ihrer
verschwiegene Funktion nennen und einen weltgeschichtlich neuartigen Streit
zwischen verschiedenen Züchtern und verschiedenen Züchtungsprogrammen
lancieren.
Dies
ist der von Nietzsche postulierte Grundkonflikt aller Zukunft: der Kampf
zwischen den Kleinzüchtern und den Großzüchtern des Menschen - man könnte auch
sagen zwischen Humanisten und Superhumanisten, Menschenfreunden und
Übermenschenfreunden. Das Emblem Übermensch steht in Nietzsches Überlegungen
nicht für den Traum von einer schnellen Enthemmung oder einer Evasion ins
Bestialische - wie die gestiefelten schlechten Nietzsche-Leser der 30er Jahre
wähnten. Der Ausdruck steht auch nicht für die Idee einer Rückzüchtigung des
Menschen zum status vor der Haustier- und Kirchentierzeit. Wenn Nietzsche vom
Übermenschen spricht, so denkt er ein Weltalter tief über die Gegenwart hinaus
(10). Er nimmt Maß an den zurückliegenden tausendjährigen Prozessen, in denen
bisher dank intimer Verschränkungen von Züchtung, Zähmung und Erziehung Menschenproduktion
betrieben wurde - in einem Betrieb freilich, der sich weitgehend unsichtbar zu
machen wußte und der unter der Maske der Schule das Projekt Domestikation zum
Gegenstand hatte.
Mit
diesen Andeutungen - und mehr als Andeutendes ist auf diesem Feld weder möglich
noch statthaft - steckt Nietzsche ein riesenhaftes Gelände ab, auf dem sich die
Bestimmung des Menschen der Zukunft wird vollziehen müssen, gleichgültig ob
dabei Rückgriffe auf das Übermensch-Konzept eine Rolle spielen oder nicht. Es mag
wohl sein, daß Zarathustra die Sprechmaske einer philosophierenden Hysterie
war, deren infektiöse Wirkungen heute und vielleicht für immer verflogen sind.
Aber der Diskurs über die Differenz und Verschränkung von Zähmung und Züchtung,
ja überhaupt der Hinweis auf die Dämmerung eines Bewußtseins von
Menschenproduktionen und allgemeiner gesprochen: von Anthropotechniken - dies
sind Vorgaben, von denen das heutige Denken den Blick nicht abwenden kann, es
sei denn, es wollte sich von neuem der Verharmlosung widmen. Wahrscheinlich
hatte Nietzsche den Bogen überspannt, als er die Suggestion verbreitete, daß
die Verhaustierung des Menschen das vorbedachte Werk eines pastoralen
Züchterverbandes gewesen sei, das heißt ein Projekt des klerikalen, des
paulinischen Instinkts, der alles wittert, was am Menschen eigenwillig und
selbstherrlich geraten könnte und gegen dergleichen sofort seine
Ausmerzungs-und Verstümmelungsmittel einsetzt. Dies war gewiß ein hybrider
Gedanke, zum einen, weil er den potentiellen Züchtungsprozeß viel zu
kurzfristig konzipiert - als reichten einige Generationen Priesterherrschaft
aus, um aus Wölfen Hunde und aus Urmenschen Basler Professoren zu machen (11);
er ist hybrid aber mehr noch, weil er einen planenden Täter unterstellt, wo
eher mit einer Zucht ohne Züchter, also einer subjektlosen biokulturellen Drift
zu rechnen wäre. Doch auch nach Abzug der überspannten und
argwöhnisch-antiklerikalen Momente bleibt von Nietzsches Idee ein hinreichend
harter Kern zurück, um ein späteres Nachdenken über die Humanität jenseits der
humanistischen Harmlosigkeit zu provozieren.
Daß
die Domestikation des Menschen das große Ungedachte ist, vor dem der Humanismus
von der Antike bis in die Gegenwart die Augen abwandte - dies einzusehen
genügt, um in tiefes Wasser zu geraten. Wo wir nicht mehr stehen können, dort
steigt uns die Evidenz über den Kopf, daß es mit der erzieherischen Zähmung und
Befreundung des Menschen mit den Buchstaben allein zu keiner Zeit getan sein
konnte. Gewiß war das Lesen eine menschenbildende Großmacht - und sie ist es,
in bescheideneren Dimensionen, noch immer; das Auslesen jedoch - wie auch immer
es sich vollzogen haben mag - war stets als die Macht hinter der Macht im
Spiel. Lektionen und Selektionen haben miteinander mehr zu tun als irgendein
Kulturhistoriker zu bedenken willens und fähg war, und wenn es uns bis auf
weiteres auch unmöglich scheint, den Zusammenhang zwischen Lesen und Auslesen
hinreichend präzise zu rekonstruieren, so ist es doch mehr als eine
unverbindliche Ahnung, daß dieser Zusammenhang als solcher seine Realität
besitzt.
Die
Schriftkultur selbst hat bis zu der kürzlich durchgesetzten allgemeinen
Alphabetisierung scharf selektive Wirkungen gezeitigt; sie hat ihre
Wirtsgesellschaften tief zerklüftet und zwischen den literaten und den
illiteraten Menschen einen Graben aufgeworfen, dessen Unüberbrückbarkeit nahezu
die Härte einer Spezies-Differenz erreichte.Wollte man, Heideggers Abmahnungen
zum Trotz, noch einmal anthropologisch reden, so ließen sich die Menschen historischer
Zeiten definieren als die Tiere, von denen die einen lesen und schreiben können
und die anderen nicht. Von hier aus ist es nur ein Schritt, wenn auch ein
anspruchsvoller, zu der These, daß Menschen Tiere sind, von denen die einen
ihresgleichen züchten, während die anderen die Gezüchteten sind - ein Gedanke,
der seit Platos Erziehungs- und Staatsreflexionen zur pastoralen Folklore der
Europäer gehört. Etwas hiervon klingt auf in Nietzsches oben zitiertem Satz,
daß von den Menschen in den kleinen Häusern wenige wollen, die meisten aber nur
gewollt sind. Nur gewollt sein heißt, bloß als Objekt, nicht als Subjekt von
Auslese existieren.
Es
ist die Signatur des technischen und anthropotechnischen Zeitalters, daß
Menschen mehr und mehr auf die aktive oder subjektive Seite der Selektion
geraten, auch ohne daß sie sich willentlich in die Rolle des Selektors gedrängt
haben müßten. Man darf zudem feststellen: Es gibt ein Unbehagen in der Macht
der Wahl, und es wird bald eine Option für Unschuld sein, wenn Menschen sich
explizit weigern, die Selektionsmacht auszuüben, die sie faktisch errungen
haben (12). Aber sobald in einem Feld Wissensmächte positiv entwickelt sind,
machen Menschen eine schlechte Figur, wenn sie - wie in den Zeiten eines
früheren Unvermögens - eine höhere Gewalt, sei es den Gott oder den Zufall oder
die Anderen, an ihrer Stelle handeln lassen wollen. Da bloße Weigerungen oder
Demissionen an ihrer Sterilität zu scheitern pflegen, wird es in Zukunft wohl
darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der
Anthropotechniken zu formulieren. Ein solcher Codex würde rückwirkend auch die
Bedeutung des klassischen Humanismus verändern - denn mit ihm würde offengelegt
und aufgeschrieben, daß Humanitas nicht nur die Freundschaft des Menschen mit
dem Menschen beinhaltet; sie impliziert auch immer - und mit wachsender
Explizitheit -, daß der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstellt.
Etwas
hiervon war Nietzsche gegenwärtig, als er es wagte, sich selbst im Ausblick auf
seine Fernwirkungen als eine force
majeure zu bezeichnen. Man kann das Ärgernis, das durch diese Äußerung in
die Welt gesetzt wurde, auf sich beruhen lassen, da es zur Beurteilung solcher
Prätentionen um viele Jahrhunderte, wenn nicht um Jahrtausende zu früh ist. Wer
hat Atem genug, sich eine Weltzeit vorzustellen, in der Nietzsche so historisch
sein wird wie Plato es für Nietzsche war? Es genügt, sich klar zu machen, daß
die nächsten langen Zeitspannen für die Menschheit Perioden der
gattungspolitischen Entscheidung sein werden. In ihnen wird sich zeigen, ob es
der Menschheit oder ihren kulturellen Hauptfraktionen gelingt, zumindest
wirkungsvolle Verfahren der Selbstzähmung auf den Weg zu bringen. Auch in der
Gegenwartskultur vollzieht sich der Titanenkampf zwischen den zähmenden und den
bestialisierenden Impulsen und ihren jeweiligen Medien. Schon größere
Zähmungserfolge wären Überraschungen angesichts eines Zivilisationsprozesses,
in dem eine beispiellose Enthemmungswelle anscheinend unaufhaltsam rollt (13).
Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der
Gattungseigenschaften führen wird - ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu
einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit eine
Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen
Selektion wird vollziehen können - dies sind Fragen, in denen sich, wie auch
immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu
lichten beginnt.
Es
gehört zur Signatur der Humanitas, daß Menschen vor Probleme gestellt werden,
die für Menschen zu schwer sind, ohne daß sie sich vornehmen könnten, sie ihrer
Schwere wegen unangefaßt zu lassen. Diese Provokation des Menschenwesens durch
das Unumgängliche, das zugleich das Nichtbewältigbare ist, hat schon am Anfang
der europäischen Philosophie eine unvergeßliche Spur hinterlassen - ja
vielleicht ist die Philosophie selbst diese Spur im weitesten Sinn. Nach dem
Gesagten ist es nicht mehr allzu überraschend, daß diese Spur im besonderen
sich als ein Diskurs über Menschenhütung und Menschenzucht erweist. Plato hat
in seinem Dialog Politikos - man übersetzt gern: Der Staatsmann - die Magna
Charta einer europäischen Pastoralpolitologie vorgelegt. Diese Schrift ist
nicht nur von Bedeutung, weil sich in ihr klarer als irgendwo sonst zeigt, was
die Antike wirklich unter Denken verstanden hat - die Gewinnung der Wahrheit
durch sorgfältige Einteilung oder Zerschneidung von Begriffs- und Sachmengen;
ihre inkommensurable Stellung in der Geschichte des Denkens über den Menschen
liegt vor allem darin, daß sie gleichsam wie ein Arbeitsgespräch unter Züchtern
geführt wird - nicht zufällig unter Teilnahme eines für Plato untypischen
Personals - eines Fremden und eines jüngeren Sokrates, als dürften gewöhnliche
Athener zu Gesprächen dieser Art fürs erste nicht zugelassen werden - wie denn
auch, wenn es darum geht, einen Staatsmann zu selegieren, wie er in Athen nicht
vorkommt, und ein Staatsvolk zu züchten, wie es noch in keiner empirischen
Stadt zu finden war. Dieser Fremde also und sein Gegenüber, Sokrates junior,
widmen sich dem verfänglichen Versuch, die künftige Politik oder
Stadt-Hirtenkunst unter durchsichtige rationale Regeln zu stellen.
Mit
diesem Projekt bezeugt Plato eine intellektuelle Unruhe im Menschenpark, die
nie mehr ganz beschwichtigt werden konnte. Seit dem Politikos und seit der
Politeia sind Reden in der Welt, die von der Menschengemeinschaft sprechen wie
von einem zoologischen Park, der zugleich ein Themen-Park ist; die
Menschenhaltung in Parks oder Städten erscheint von jetzt an als eine
zoo-politische Aufgabe. Was sich als Nachdenken über Politik präsentiert, ist
in Wahrheit eine Grundlagenreflexion über Regeln für den Betrieb von
Menschenparks. Wenn es eine Würde des Menschen gibt, die es verdient, in
philosophischer Besinnung zur Sprache gebracht zu werden, dann vor allem
deswegen, weil Menschen in den politischen Themenparks nicht nur gehalten
werden, sondern sich selbst darin halten. Menschen sind selbsthegende,
selbsthütende Wesen, die - wo auch immer sie leben - einen Parkraum um sich
erzeugen. In Stadtparks, Nationalparks, Kantonalparks, Ökoparks - überall
müssen Menschen sich eine Meinung darüber bilden, wie ihre Selbsthaltung zu
regeln sei.
Was
nun den platonischen Zoo und seine Neu-Einrichtung anbelangt, so geht es bei
ihm um alles in der Welt darum, zu erfahren, ob zwischen der Population und der
Direktion eine nur graduelle oder eine spezifische Differenz besteht. Unter der
ersten Annahme wäre nämlich der Abstand zwischen den Menschenhütern und ihren
Schützlingen nur ein zufälliger und pragmatischer - man könnte in diesem Fall
der Herde die Fähigkeit zusprechen, ihre Hirten turnusmäßig neu zu wählen.
Herrscht aber zwischen Zooleitern und Zoobewohnern eine spezifische Differenz,
dann wären sie voneinander so grundsätzlich unterschieden, daß eine
Wahldirektion nicht ratsam wäre, sondern nur eine Direktion aus Einsicht.
Allein die falschen Zoodirektoren, die Pseudostaatsmänner und politischen
Sophisten würden dann für sich werben mit dem Argument, sie seien doch von
gleicher Art wie die Herde, während der wahre Züchter auf Differenz setzte und
diskret zu verstehen gäbe, daß er, weil er aus Einsicht handelt, den Göttern
näher steht als den konfusen Lebewesen, die er betreut.
Platos
gefährlicher Sinn für gefährliche Themen trifft den blinden Fleck aller
hochkulturellen Pädagogiken und Politiken - die aktuelle Ungleichheit der
Menschen vor dem Wissen, das Macht gibt. Unter der logischen Form einer
grotesken Definitionsübung entwickelt der Dialog vom Politiker die Präambeln
einer politischen Anthropotechnik; in dieser geht es nicht nur um die zähmende
Lenkung der von sich aus schon zahmen Herden, sondern um eine systematische
Neu-Züchtung von urbildnäheren Menschenexemplaren. Die Übung beginnt so
komisch, daß noch das nicht ganz so komische Ende leicht im Gelächter
untergehen könnte. Was ist grotesker als die Definition der Staatkunst als
einer Disziplin, die es zu tun hat mit den Fußgehern unter den in Herden
lebenden Wesen? - denn Menschenführer üben weiß Gott nicht Schwimmtierzucht,
sondern Landgängerzucht. Unter den Landgängern muß man die geflügelten von den
ungeflügelt zu Fuß gehenden abtrennen, wenn man auf den Menschenpopulationen
hinauswill, denen es bekanntlich an Federn und Flügeln fehlt. Der Fremde in
Platos Dialog fügt nun hinzu, daß eben dieses Fußvolk unter den Zahmen von
Natur aus wiederum in zwei deutlich geteilte Teilmengen gegliedert sei -
nämlich "daß einige ihrer Art nach ungehörnt sind, Andere
hörnertragend." Das läßt sich ein gelehriger Gesprächspartner nicht
zweimal sagen. Den beiden Mengen entsprechen wieder zwei Arten von Hirtenkunst,
nämlich Hirten für gehörnte Herden und Hirten für Nichtgehörnte - es dürfte auf
der Hand liegen, daß man die wahren Führer der Menschengruppe nur findet, wenn
man die Hirten fürs Gehörnte ausscheidet. Denn wollte man Hornviehhirten
Menschen hüten lassen - was dürfte man anderes erwarten als Übergriffe durch
die Ungeeigneten und Scheingeeigneten. Die guten Könige oder basileioi so sagt
der Fremde, weiden mithin eine abgestutzte Herde ohne Hörner - (265d). Doch das
ist nicht alles; sie haben es des weiteren mit der Aufgabe zu tun,
unvermischtbegattete Lebewesen zu hüten - das heißt Geschöpfe, die nicht
außerspezifisch untereinander kopulieren wie etwa Pferde und Esel es zu tun
pflegen - sie müssen also über die Endogamie wachen und Bastardisierungen zu
verhindern suchen. Wird zu diesen Ungeflügelten, Hornlosen, nur mit
Ihresgleichen sich Paarenden zuletzt auch noch das Merkmal Zweifüßigkeit - moderner
gesprochen - aufrechter Gang - hinzugefügt, so wäre die Hüte-Kunst, die sich
auf ungeflügelte, ungehörnte, unvermischtbegattete Bipeden bezieht, schon recht
gut als die wahre Kunst ausgewählt und gegen alle Scheinzuständigkeiten
abgesetzt. Diese vorsorgende Hütekunst muß nun ihrerseits noch einmal
eingeteilt werden in gewaltsam-tyrannische oder in freiwillige. Wird die
tyrannische Form wiederum als unwahre, trugbildhafte ausgeschieden, so bleibt
die eigentliche Staatskunst zurück: Sie wird bestimmt als die "die
freiwillige Herdenwartung ...über freiwillige lebendige Wesen" (276e)
(14).
Bis
an diesen Punkt hat Plato es verstanden, seine Lehre von der Kunst des
Staatsmanns ganz in Hirten- und Herdenbildern unterzubringen - und er hat aus
Dutzenden von Trugbildern dieser Kunst das einzige wahre Bild, die gültige Idee
der in Frage stehenden Sache ausgewählt. Nun aber, da die Definition vollendet
scheint, springt mit einem Mal der Dialog in eine andere Metaphorik über - dies
geschieht jedoch, wie wir sehen werden, nicht, um das Erreichte preiszugeben,
sondern um das schwierigste Stück der Menschenhüte-Kunst, die züchterische
Steuerung der Reproduktion, aus einem verschobenen Blickwinkel um so
energischer aufzugreifen. Hier hat das berühmte Weber-Gleichnis vom Staatsmann
seinen Platz. Der wirkliche und wahre Grund der königlichen Kunst läßt sich
nach Plato nämlich nicht im Votum der Mitbürger finden, die dem Politiker nach
Belieben ihr Vertrauen zuwenden oder entziehen; er liegt auch nicht in ererbten
Privilegien oder neuen Anmaßungen. Der platonische Herr findet die Raison
seines Herrseins allein in einem züchterischen Königswissen, also einem
Expertenwissen der seltensten und besonnensten Art. Hier taucht das Phantom
eines Expertenkönigtums auf, dessen Rechtsgrund die Einsicht ist, wie Menschen
- ohne je ihrer Freiwilligkeit Schaden anzutun - am besten zu sortieren und zu
verbinden wären. Die königliche Anthropotechnik verlangt nämlich von dem
Staatsmann, daß er die für das Gemeinwesen günstigsten Eigenschaften freiwillig
lenkbarer Menschen auf die wirkungsvollste Weise ineinanderzuflechten versteht,
sodaß unter seiner Hand der Menschenpark zur optimalen Homoöstase gelangt. Dies
geschieht, wenn die beiden relativen Optima der Menschenartung, die kriegerische
Tapferkeit einerseits, die philosophisch-humane Besonnenheit andererseits
gleichkräftig in das Gewebe des Gemeinwesens eingeschlagen werden.
Weil
aber beide Tugenden in ihrer Vereinseitigung spezifische Entartungen
hervorbringen können - die erste die militaristische Kriegslust mitsamt ihren
verheerenden Folgen für die Vaterländer, die zweite den Privatismus der
geistreichen Stillen im Lande, die so lau und staatsfern werden können, daß sie
in die Knechtschaft gerieten, ohne es zu merken - , darum muß der Staatsmann
die ungeeigneten Naturen auskämmen, bevor er daran geht, mit den geeigneten den
Staat zu weben. Mit den zurückbleibenden edlen und freiwilligen Naturen allein
wird der gute Staat erzeugt - wobei die Tapferen für die gröberen Kettfäden
dienen, die Besonnenen für das "fettere, weichere, einschlagartige
Gespinst" - wie es in Schleiermachers Worten heißt,- man dürfte etwas
anachronistisch sagen, daß die Besonnenen in den Kulturbetrieb kommen.
"Dies also wollen wir sagen sei
die Vollendung des Gewebes der ausübenden Staatskunde, daß in einander
eingeschossen und verflochten werde der tapferen und der besonnenen Menschen
Gemütsart, wenn die königliche Kunst durch Übereinstimmung und Freundschaft
beider Leben zu einem gemeinschaftlichen vereinigend, das herrlichste und
trefflichste aller Gewebe bildend, alle übrigen Freien und Knechte in den
Staaten umfassend unter diesem Geflechte zusammenhält ..."(311 b,c)
Für
den modernen Leser - der zurückblickt auf die humanistischen Gymnasien der
Bürgerzeit und auf die faschistische Eugenik, zugleich auch schon vorauschaut
ins biotechnologische Zeitalter - ist die Explosivität dieser Überlegungen
unmöglich zu verkennen. Was Plato durch den Mund seines Fremden vortragen läßt,
ist das Programm einer humanistischen Gesellschaft, die sich in einem einzigen
Voll-Humanisten, dem Herrn der königlichen Hirtenkunst, verkörpert. Die Aufgabe
dieses Über-Humanisten wäre keine andere als die Eigenschaftsplanung bei einer
Elite, die eigens um des Ganzen willen gezüchtet werden muß.
Eine
Komplikation bleibt zu bedenken: Der platonische Hirt ist aber ein wahrer Hirt
nur, weil er das irdische Abbild des einzigen und ursprünglichen wahren Hirten
verkörpert - des Gottes, der in der Vorzeit, unter der Herrschaft der Kronos,
die Menschen unmittelbar gehütet hatte. Man darf nicht vergessen, daß auch bei
Plato allein der Gott als ursprünglicher Hüter und Züchter der Menschen infrage
kommt.
Zweieinhalb
tausend Jahre nach Platos Wirken scheint es nun, als hätten sich nicht nur die
Götter, sondern auch die Weisen zurückgezogen, und uns mit unserer Unweisheit
und unseren halben Kenntnissen in allem allein gelassen. Was uns an Stelle der
Weisen blieb, sind ihre Schriften in ihrem rauhen Glanz und ihrer wachsenden
Dunkelheit; noch immer liegen sie in mehr oder weniger zugänglichen Editionen
vor, noch immer könnten sie gelesen werden, wenn man nur wüßte, warum man sie
noch lesen sollte. Es ist ihr Schicksal, in stillen Regalen zu stehen, wie
postlagernde Briefe, die nicht mehr abgeholt werden - Abbilder oder Trugbilder
einer Weisheit, an die zu glauben den Zeitgenossen nicht mehr gelingt -
abgeschickt von Autoren, von denen wir nicht mehr wissen, ob sie noch unsere
Freunde sein können.
Briefsachen,
die nicht mehr zugestellt werden, hören auf, Sendungen an mögliche Freunde zu
sein - sie verwandeln sich in archivierte Objekte. Auch dies, daß die
maßgeblichen Bücher von einst mehr und mehr aufgehört haben, Briefe an Freunde
zu sein und daß sie nicht mehr auf den Tag- und Nachttischen ihrer Leser
liegen, sondern in der Zeitlosigkeit der Archive versunken sind - auch dies hat
der humanistischen Bewegung das meiste von ihrem einstigen Schwung genommen.
Immer seltener steigen die Archivare zu den Textaltertümern hinab, um frühere
Äußerungen zu modernen Stichworten nachzuschlagen. Vielleicht geschieht es hin
und wieder, daß bei solchen Recherchen in den toten Kellern der Kultur die
lange nicht gelesenen Papiere anfangen zu flimmern, als zuckten ferne Blitze
über sie. Kann auch der Archivkeller zur Lichtung werden? Alles deutet darauf
hin, daß Archivare und Archivisten die Nachfolge der Humanisten angetreten
haben. Für die Wenigen, die sich noch in den Archiven umsehen, drängt sich die
Ansicht auf, unser Leben sei die verworrene Antwort auf Fragen, von denen wir
vergessen haben, wo sie gestellt wurden.
(1)
Daß das Geheimnis des Lebens mit dem Phänomen der Schrift eng
zusammenhimg,
ist die große Intuition des Golem-Legende. Vgl.
Moshe
Idel, Le Golem, Paris 1992; im Vorwort zu diesem Buch
Weist
Henri Atlan auf den Bericht einer vom US-Präsidenten
Eingesetzten
Kommission unter dem Titel: Splicing life.The
Social and Ethical issue of Genetic
Ingeneering with Human
Beings,1982
hin, dessen Verfasser auf Golem Legende Bezug nehmen.
(2)
Natürlich auch die nationale Geltung universaler Lektüren.
(3)
Erst mit dem Genre der Chain Saw Massacre Movies ist der An
schluß
der modernen Massenkultur an des Niveau des antiken
Bestialitskonsums
vollzogen. Vgl. Marc Edmundson, Nigthmare on
Mainstreet. Angels, Sadomasochism an
dte Culture of the American
Gothic,
Camebridge, MA. 1997
(4)
Diese Geste wird von denen verfehlt, die in Heideggers Onto-
Anthropologie
etwas wie einen "Antihumanismus" sehen möchte,
eine
törichte Formulierung, die metaphysische Form der Misanthropie suggeriert.
(5)
Aben ebenso unklar wäre im übrigen, wie eine Gsellschaft aus
lauter
Dekonstruktivisten aussehen könnte, oder eine Gesellschaft aus
lauter
leidenden Anderen, die jeweils im Stil von Levinas den
Vorrang
des Anderen zugeständen.
(6)
Vgl. Silvio Vietta, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und der Technik,
Tübingen 1989
(7)
Zum Motiv der "Sammlung" vgl. Michael Schneider, Kollekten des
Geistes, Neue Rundschau ...
(8)
Ich werde andernorts, inwiefern auch und mehr noch mit einem Ins-Bild-Kommen
des Menschen zu rechnen ist: P. Sl. Sphären I, Blasen; Sphären II, Globen,
Frankfurt 1998,1999
(9)
Eine der wenigen Ausnahmen macht die Philosophin Elisabeth de Fontenay mit
ihrem Buch, Le silence des bêtes, La philosophie face à l'épreuve de
l'animalité.
(10)
Die faschistischen Nietzscheleser verkannten hartnäckig, daß es
in
Bezug auf sie und die Gegenwart im allgemeinen um die Differenz
Allzumenschliuchen
vom Menschlichen ging, und in keiner Weise um übermenschliche
Leistungssteigerungen.
(11)
FN über die Genese des Hundes, Neotenie u.ä. vgl. Dany Robert Dufour, xxx,
Calman-Levy 1999
(12)
VGl. P.Sloterdijk, Eurotaoismus, Zur Kritik der politischen
Kinetik
(Ausführungen über Ethiken des Unterlassungshandelns und "Bremsen"
als progressive Funktion.
(13)
(Verweise auf die Gewaltwelle, die z.Z. in der ganzen in die Schulen einbricht,
insbesondere in den USA, Lehrer bauen Schutzsysteme
Schüler
auf u.ä. D.H. So wie in der Antike das Buch den Kampf
Gegen
die Theater verlor, so könnte heute die Schule den Kampf
Die
indirekten Bildungsgewalten, TV etc. verlieren, wenn nicht eine
neue
Kultivierungsstruktur entsteht.
(14)
Plato-Intertreten wie Popper überlesen gern dieses zweimalige
"freiwillig"
©
Peter Sloterdijk / Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999
Dieser
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