Henning Schluß

Erziehung zur Freiheit?

Zur vermeintlich paradoxen Beziehung von Erziehungszielen und Erziehungsverhältnissen[1]

Erschienen in: Die Deutsche Schule, 99. Jg. 2007, H. 1, S. 37-49.

 

Die Erziehung soll Menschen zur Mündigkeit führen, ist aber selbst eine Zwangsinstitution. Wie kann denn einen solchen Zwang der Erziehung überhaupt Freiheit erreicht werden? Schließt sich beides nicht kategorisch aus? Dieser alten und aktuellen Frage der Pädagogik, die schon Immanuel Kant formulierte: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (Kant, 711), soll im Folgenden nachgegangen werden.[2]

Zuerst soll dieses Problem in seiner aporetisch scheinenden Form entfaltet werden, sodann soll eine Reformulierung des Problems in einem anderen theoretischen Rahmen (dem der systemischen Kommunikationstheorie) unternommen werden, um mögliche Lösungsansätze aufzuzeigen. In einem dritten Schritt schließlich werden die Folgerungen aus der durch diese Neuformulierung gewonnenen Möglichkeit diskutiert, die sowohl pädagogischer als auch politischer Art sind.

1. Das Problem

An diesem Problem schien den Pädagogen mindestens seit Kant vor allem folgendes fatal: Einerseits hat die Erziehung des Menschen das Ziel, den Menschen in die Selbständigkeit zu führen. Diese Selbständigkeit wird in der pädagogischen Fachsprache als „Mündigkeit“ bezeichnet. Die Mündigkeit ist demnach das Ziel der Erziehung. Erziehung wird deshalb – ganz im Gegensatz etwa zur Bürokratie – als eine Praxis beschrieben, die ihr eigenes Ende zum Ziel habe (vgl. Benner 2001, S. 80-92, bes. 91). Erziehung möchte sich selbst überflüssig machen, indem sie das zu erziehende Individuum aus der Erziehung entlässt, dass es mündig und also frei wird. Dieses Ziel sucht die Erziehung allerdings zu erreichen, indem sie Zwang ausübt. Und nun entsteht ein logisches Paradox: Wie soll die Ausübung von Zwang dazu führen, dass dieser verschwindet? Ist es nicht vielmehr wahrscheinlich, dass durch die Ausübung von Zwang in der Erziehung dieser auf Dauer gestellt wird? Wenn man einmal daran gewöhnt ist, wird man ihn nicht mehr missen wollen. Man wird sogar unfähig werden, diesen Zwang zu entbehren. Er macht insofern abhängig, als der zu Erziehende geradezu entwöhnt wird, selbstverantwortliche Entscheidungen zu treffen, weil die Erziehung diese Entscheidungen für ihn trifft.

Darum argumentieren psychoanalytisch geschulte Pädagogen, es ginge keinesfalls um die Abschaffung des Zwanges, sondern dieser Zwang werde im Erziehungsprozess lediglich von außen nach innen verlagert. Sei der Zwang jedoch erst einmal internalisiert, dann sei er gar nicht mehr als Zwang wahrnehmbar und insofern könne es scheinen, als sei der Mensch frei, was einer genaueren Betrachtung allerdings nicht standhalte.

Wenn die Erziehung auf Freiheit zielt, sich aber des Mittels des Zwanges bedienen muss, wenn zugleich der geübte Zwang allerdings eine Gewöhnung an den Zwang zur Folge haben kann und Freiheit somit unmöglich wird, weshalb lässt man es dann nicht einfach sein mit dem Erziehen? Wenn die Erziehung ihr Ziel nicht nur nicht erreicht, sondern sein Erreichen sogar verunmöglicht, ist dann Erziehung nicht völlig kontraproduktiv und also abzuschaffen? Weshalb wird dann also seit Menschengedenken an der Erziehung festgehalten?

Die Antwort, die Immanuel Kant darauf gibt ist eine, die er nicht erst erfinden musste, vielmehr ist es eine alte Antwort. Aber sie steht in Kants pädagogischer Vorlesung an sehr prominenter Stelle, nämlich am Anfang. Kant leitet seine Vorlesung zur Pädagogik mit der Feststellung ein: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss“ (A1/697). Wenn der Mensch also das einzige Geschöpf ist, das erzogen werden muss, so ist im Umkehrschluss die Erziehung zumindest ein exklusives Kennzeichen des Menschen. Es macht den Menschen also zumindest auch zum Menschen, es unterscheidet ihn von anderen Lebewesen, dass er erzogen werden muss.

Zwei Abgrenzungen sind denkbar: Die eine Abgrenzung zu Wesen, die so perfekt sind, dass sie nicht mehr erzogen werden müssen. Die andere zu Wesen, die hinreichend durch ihre Instinkte gesteuert sind und keinerlei zusätzlicher Erziehung bedürfen. Gewöhnlich wird eine solche Abgrenzung nach „unten“ zu Tieren und „nach oben“ zu Göttern vorgenommen. Eine Testfrage die sich aus dem Kantischen Satz ergibt ist dann eine mögliche Umkehrung: Kann man den Satz so umkehren, dass man sagt, jedes Wesen, das erzogen werden muss, ist demnach ein Mensch?

Neben unserem Haus parkt des Öfteren ein Auto auf dem steht: „Mobile Hundeschule, wir erziehen ihren Hund für sie“. Heißt das, dass Hunde auch erzogen werden können? Sind nach dieser Definition also Hunde auch Menschen? Oder ist es so, dass die Betonung auf dem „muss“ liegt, „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss“? Müssen muss nur der Mensch erzogen werden, können können es auch andere? Wenn also der Mensch nicht erzogen wird, dann ist er kein Mensch? Wenn also Hunde auch erzogen werden können, werden sie dann zu Menschen, in dem Fall, dass sie erzogen wurden? Oder anders herum, verlieren Menschen ihr Menschsein, wenn sie nicht erzogen wurden? Denn auch dies könnte ja der Satz bedeuten, „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss“. Was ist also mit solchen Menschen, die nicht erzogen wurden? Schnell befindet man sich hier in der Gefahr, sich im Gestrüpp möglicher Fragen heillos zu verfangen. Die Spur zu einer Antwort könnte in dem Versuch liegen, die Aussage, der Mensch sei das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss, nicht als eine Aussage über ein Einzelindividuum, sondern über die Gattung Mensch zu verstehen. Der Mensch als Gattung ist demnach das Geschöpf, das erzogen werden muss. Das hindert nicht, dass einige einzelne Menschen möglicherweise nicht erzogen wurden, und für die Pädagogik der Romantik waren gerade solche so genannten „Wolfskinder“ ein beliebtes Thema. D.h., auch diese nicht erzogenen Exemplare der Gattung Mensch bleiben Menschen, weil sie der Gattung angehören. Andererseits bedeutet es eben auch, dass Hunde nicht schon dadurch zu Menschen werden, dass einige Exemplare dieser Gattung von Menschen „erzogen“ worden sind. Auch diese erzogenen Hunde bleiben Hunde, weil sie der Gattung Hund angehören. Diese Interpretation der Definition hat allerdings zur Folge, dass, sollte die Menschheit einmal auf Geschöpfe treffen, die zu ihrem Selbsterhalt als Gattung der Erziehung bedürfen und diese praktizieren, Kants Definition entweder so nicht mehr gilt, oder diese Wesen ebenfalls als Menschen bezeichnet werden müssten.

Offen blieb bislang, was unter „Erziehung“ eigentlich zu verstehen ist. Kant vereint unter dem Begriff der Erziehung drei Handlungen. Erziehung sei: „die Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Disziplin (Zucht) und Unterweisung nebst Bildung. Demzufolge ist der Mensch Säugling, Zögling und Lehrling“ (A1/697).

Es gibt freilich andere Bestimmungen dessen, was Erziehung ist. Wichtig an dieser Definition ist, dass Erziehung nicht als eine einfache Tätigkeit erscheint, sondern vielmehr ein komplexes Geschehen ist. Keines von diesen drei Elementen reicht aus, um allein Erziehung zu sein. Während auch andere Geschöpfe verpflegt und unterhalten werden müssen, müssen sie nicht Unterwiesen und gebildet werden. Für den Menschen sind alle drei jedoch unerlässlich, damit sich die Gattung erhalten kann.

Einer der bedeutendsten und vielleicht grundsätzlichsten Kritiker der Erziehung, Siegfried Bernfeld, stimmt mit Kant in diesem Punkt noch im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts überein. Bernfeld, der auf dem psychoanalytischen Hintergrund Siegmund Freuds und beeinflusst von der Kapitalismuskritik durch Karl Marx die Erziehung analysiert, sieht, dass das menschliche „Kulturplus“, das also was das Menschsein im Unterschied zu den ebenfalls sozial lebenden hominiden Gorillas, die eine „natürliche Methode“ der Aneignung haben, auszeichnen würde, nur durch kulturelle Weitergabe –  eben durch Erziehung – weitergegeben werden kann. Für die Weitergabe von bloßen Verhaltensweisen reiche es aus, diese durch Identifikation weiterzugeben. Kenntnisse und Bewusstseinsinhalte jedoch erforderten einen bewussten Unterricht (Bernfeld, 78). Bernfeld schlägt vor, „diese Reaktionen [auf die Entwicklungstatsache - H.S.] einer Gesellschaft in ihrer Gänze Erziehung zu nennen“ (Bernfeld 51). Erziehung ist dann nicht mehr nur noch das, was im engeren Sinne unter Erziehung verstanden wird, sondern jegliche gesellschaftliche Reaktion auf die ontologische Tatsache, dass der Mensch sich entwickelt, dass er wächst, dass er am Beginn seines Lebens stark von anderen abhängt um überhaupt überleben zu können. Insofern gehört die Kindermode genauso zur Erziehung wie die Schule, die Nichtschwimmerbecken in den Freibädern wie die elterliche Züchtigung.

Der Erziehungswissenschaftler Klaus Prange dagegen versucht auf eine weitere Art Erziehung zu beschreiben. Alle Erziehung, meint Prange, ließe sich letztlich auf zwei Urphänomene zurückführen.

·      Zum Ersten gebe es die Lernfähigkeit des Menschen, ohne die alles Erziehen zwecklos sei.

·      Zum Zweiten gäbe es das Erziehen. Alles Erziehen wiederum ließe sich letztlich auf ein Grundphänomen – das Zeigen – zurückführen.[3]

Erziehung ist demnach ein Zusammenspiel aus der einzigartigen Lernfähigkeit des Menschen und der ebenso einzigartigen Fähigkeit einem Anderen etwas zu zeigen, bzw. dies Gezeigte als Gezeigtes zu verstehen. Pranges Beispiel ist ein Hund, der, wenn man ihm etwas zeigen wolle, mitnichten auf das Gezeigte schaue, sondern auf die Hand, die zeigt. So unterschiedlich demnach Erziehung verstanden oder begründet werden kann, sei es nun durch Kant im 18. Jh., durch Bernfeld im 20. oder durch Prange im 21., sie alle halten Erziehung für einen Grundbaustein des Menschseins. Dabei ist die hier vorgeführte Auswahl an Positionen rein willkürlich. Genauso hätten die Definitionen von Platon, Schleiermacher, Ellen Key und Dewey genannt werden können, die Erziehung zwar wieder anders verstehen, ihre Bedeutung fürs Menschsein allerdings ähnlich hoch einschätzen.

Die Aufzählung von noch so vielen Definitionen von Erziehung kann jedoch gleichwohl nicht davon überzeugen, dass die Erziehung notwendig sei, denn aus wissenschaftstheoretischer Perspektive ist deutlich, dass eine Theorie nicht eigentlich bewiesen, sondern nur widerlegt werden kann. Karl Popper paraphrasierend: Wenn belegt werden soll, dass die Aussage wahr ist, dass alle Schwäne weiß sind, dann ist es nicht hilfreich, möglichst alle (erwachsenen) weißen Schwäne zusammenzutragen, sondern es empfiehlt sich, nach einem erwachsenen Schwan Ausschau zu halten, der eine andere Farbe als weiß hat. Wenn also wissenschaftlich der Frage nachgegangen werden soll, ob Erziehung wirklich nötig sei, oder ob nicht viel besser auf sie verzichtet werden sollte, so ist es nicht zielführend, nach noch so vielen Autoren Ausschau zu halten, die meinen, Erziehung sei unverzichtbar, sondern es müssen solche gesucht werden die behaupten, dass man sehr wohl auf Erziehung verzichten könne. Solche Positionen gibt es nun sehr wohl. Eckehard von Braunmühl und seine Freunde von der Antipädagogik sind in den 70er Jahren des vergangnen Jahrhunderts der Meinung gewesen, dass man nicht nur die Erziehung abschaffen könne, sondern auch, dass man sie abschaffen müsse, wenn man die Freiheit herstellen wolle (vgl. Braunmühl 1975/1991). Sie hatten das Paradox genau so gesehen, wie es hier eingangs beschrieben wurde. Freiheit kann bei dem Zwang der Erziehung überhaupt nicht kultiviert werden. Ihre Konsequenz lautete darum: ‚Schafft die Erziehung ab, und ihr werdet Freiheit haben’. Dies Projekt litt von Anfang an jedoch an verschiedenen Problemen. Zwar ließen sich in den Texten der Antipädagogik bestimmte Erziehungsstile kritisieren, aber damit war noch keineswegs die Erziehung abgeschafft. In gewisser Weise war die Antipädagogik auf das gleiche Verfahren angewiesen, wie der große pädagogische Schriftsteller Rousseau, der sich eine Welt erfinden musste, in der ein Zögling nach seinen Vorstellungen erzogen wurde, weil es eine solche Welt „in der Wirklichkeit“ nicht gab (Rousseau 1762/1995). In der Wirklichkeit der 70er Jahre gab es auch kein Kind, das nicht erzogen worden wäre. Für die antipädagogischen Autoren war das allerdings gar nicht unbequem, denn so konnten sie behaupten, alle Missstände beruhten darauf, dass diese Kinder eben erzogen worden seien. Wirklich nicht erzogene Kinder würden ganz anders und wahrhaft frei sein. Die kritischen Einwände der Erwachsenen konnten mit einem ähnlichen Argument beantwortet werden. Auch sie könnten sich die Abschaffung der Erziehung nur deshalb nicht vorstellen, weil sie erzogen worden seien und sich demnach gar nicht ausmalen könnten, was alles ohne diese zwangsweise Beschneidung ihrer Freiheit möglich sei. In dem Maße jedoch, in dem die Antipädagogik ihren Umgang mit Kindern nicht nur in der (in vielem berechtigten) Kritik an bestehenden Erziehungsstilen, sondern positiv formulieren sollte, in dem sie also beschreiben sollte, welcher Umgang mit Kindern denn die Erziehung ablösen sollte, ob sie etwa gleich in die volle Rechtsmündigkeit, Geschäftsmündigkeit, Strafmündigkeit eintreten sollten, zeigte sich, dass dies die Antipädagogik auch nicht gemeint hatte. Vielmehr strebte sie sehr wohl eine „besondere gesellschaftliche Reaktion auf die Entwicklungstatsache“ an und plädierte insofern ebenfalls für das, was Bernfeld unter „Erziehung“ verstand. Die späteren Vorworte der „Antipädagogik“ schlagen denn auch insofern andere Töne an, als von Braunmühl meint, die etablierte Pädagogik habe viel von ihm übernommen und der Gegensatz sei nun nicht mehr so groß.

Andere vertreten den Anspruch eines Endes der Erziehung noch bis heute. Unter diesem Label sammeln sich dabei sehr unterschiedliche Interessen. Während manche für ein Wahlrecht auch für Kinder streiten – mit dem nicht von der Hand zu weisenden Argument, dass ja auch alte und verwirrte Menschen ihr Wahlrecht nicht aberkannt bekommen -, setzen sich manche eher dafür ein, dass der sexuelle Verkehr mit Kindern nicht mehr unter Strafe gestellt wird. Es lohnt sich deshalb, hier genauer hinzugucken, was die Motive der Forderungen nach Abschaffung der Erziehung im Einzelnen sind.

Wenn demnach Erziehung nicht wirklich abgeschafft werden kann, ist dann das Paradox, dass Erziehung im Prozess immer auch Zwang bedeutet, dass aber das Ziel der Erziehung die Freiheit ist, jedoch durch Zwang kaum je Freiheit wird erreicht werden können, unaufhebbar?

2. Perspektivenwechsel

Wenn man sich in einer Fragestellung gründlich verrannt hat, dann hilft es zuweilen, die Perspektive zu wechseln. Mitunter finden sich ganz unerwartete Lösungen, wenn man versucht, ein Problem in einer anderen Terminologie zu reformulieren. Im Folgenden soll deshalb versucht werden, das skizzierte Problem in Begriffen der systemischen Kommunikationstheorie wie sie u. a. von Paul Watzlawick begründet worden ist, zu beschreiben. Die Grundlagen dieser Theorie sind weithin bekannt und viel mehr als die Grundlagen werden hier nicht benötigt.

Wenn das Problem das eingangs als „Zwang“ bezeichnet wurde, kommunikationstheoretisch umformuliert werden soll, muss erst noch einmal deutlich werden, worauf dieser Zwang beruht. Es handelt sich nicht schlechthin um willkürlichen unmotivierten Zwang, der aus einer Laune heraus entsteht, andere zu zwingen. Der Zwang von dem die
Rede war beruhte auf der Abhängigkeit der Zöglinge. Sie sind noch nicht in der Lage, für sich selbst so zu sorgen, dass sie sich in sozialen, beruflichen, politischen oder ökonomischen Hinsichten selbst erhalten könnten. Genau diese Selbsterhaltung ist jedoch das Ziel pädagogischer Bemühungen. Dieses Ziel wurde eingangs mit „Freiheit“ oder „Mündigkeit“ beschrieben. Wenn nun ein kommunikationstheoretisches Äquivalent zu dieser Mündigkeit gesucht werden soll, so ließe sich formulieren, das Ziel erzieherischer Bemühungen ist es, zu einer symmetrischen Kommunikation zu befähigen. In der symmetrischen Kommunikation ist ein Zustand erreicht, in dem die Kommunikationspartner sich als gleichberechtigt anerkennen und auf einer Ebene kommunizieren. Der Weg zu diesem Ziel freilich geht von unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen aus. Während der eine Kommunikationspartner in der Erziehung bei nahezu Null anfängt, hat der andere das Ziel, Mündigkeit, schon erreicht. Nun kommt es demnach darauf an, dem Einen durch Kommunikation die Schritte auf dem Weg zu ermöglichen, die ihn auch auf dieses Niveau anheben. Der Kommunikation kommt dabei ein Vorteil zugute, der bei anderen Formen des Austausches nicht gegeben ist. Bei der Warenbeziehung z.B. verhält es sich so, dass wenn, ausgehend von einer ungleichen Situation (Einer hat vier Äpfel, der Andere keine) ein Ausgleich hergestellt werden soll (der Eine gibt zwei der vier Äpfel ab) zwar eine Symmetrie erreicht wird, jedoch auf einem erheblich niedrigeren Niveau als das der Ausgangsposition dessen, der die Waren weitergegeben hat (beide nennen nun zwei Äpfel ihr Eigen). Dies ist bei der Kommunikation, die auf Informationsaustausch beruht, nicht der Fall. Hier ist es vielmehr so, dass wenn eine Information an jemand anderen – einen „Empfänger“ – weitergegeben wird, der „Sender“ sie dennoch behält. Im Unterschied zum Modell des Warentausches lässt sich also mit dem Kommunikationsmodell beschreiben, wie es geschehen kann, dass schon Mündige noch Unmündige durch Informationsweitergabe erziehen, diese dabei in bestimmten Dingen mündiger werden, ohne dass die Sender etwas von ihrer Mündigkeit verlieren würden. Wenn Erziehung als rein kognitiver Wissenserwerb vorgestellt würde, dann ließe sich so beschreiben, wie aus einer anfänglich asymmetrischen Kommunikationssituation (Zwang) durch kontinuierliche Informationsweitergabe asymptotisch eine symmetrische Kommunikationssituation entstehen würde.

Nun ist es zwar so, dass alle Modelle vereinfachen müssen, täten sie das nicht, dann wären sie die Wirklichkeit und insofern keine Verstehenshilfe, weil die Leistung der Modelle eben gerade darin besteht, die Wirklichkeit auf wesentliche Züge hin zu simplifizieren, also muss auch ein kommunikationstheoretisches Modell vereinfachen, aber wenn ein Modell zu sehr vereinfacht, dann verdunkelt es das Verstehen mitunter mehr, als das es erhellt. In diesem Fall läge die Verdunklung in der Annahme, dass es sich bei Erziehung um rein kognitiven Wissenserwerb handeln würde. Dies ist jedoch mitnichten der Fall. Der Wissenserwerb erhält zwar in der Erziehung noch immer die meiste Aufmerksamkeit, angemessen beschrieben werden kann die Erziehung so jedoch nicht. Auch das oben beschriebene Paradox liegt nicht so sehr auf kognitiver Ebene. Viel mehr ist es von der Vermutung getragen, dass wenn die Erziehung den Menschen an asymmetrische Kommunikationssituationen gewöhnt, sie nichts anderes kennen lernen als asymmetrische Kommunikationssituationen und diese so erzogenen Menschen auch dann nicht aus diesem Kommunikationsmuster werden herauskommen können, wenn sie der Sache nach genauso viele Informationen wie der „Sender“ gesammelt haben. Sie sind einfach keine andere Form der Kommunikation gewöhnt, als eben diese asymmetrische. Gleichzeitig aber kann auf die Asymmetrie in Kommunikationssituationen, die wir als Erziehung bezeichnen, nicht verzichtet werden, denn die Idee von Erziehung enthält eben diese Asymmetrie in sich. Denn wenn überhaupt von Erziehung geredet wird, so ist damit mindestens die Rede von einem Erzieher/einer Erziehrein und einem/einer zu Erziehenden. Das Verhältnis beider Positionen ist klar asymmetrisch. Somit wäre das Paradox ungefähr kommunikationstheoretisch nachgezeichnet, eine Lösung jedoch noch ebenso weit entfernt wie vor der Umformulierung.

Indem Watzlawicks Differenzierungen zu unterschiedlichen Ebenen der Kommunikation mit in Betracht genommen werden, kann das Modell jedoch produktiv erweitert werden. Grundsätzlich kennt Watzlawick zwei kommunikative Ebenen, indem er zwischen „Inhalts- und Beziehungsaspekten einer Kommunikation“ unterscheidet (vgl. Watzlawick 1969/1990, 53-56). Folgendes, dem Alltag entnommene, Beispiel kann die Differenz schnell verdeutlichen: Ein Vater steht mit seinem Sohn, der soeben die Fahrschule absolviert hat, an einer Ampel. Der Sohn darf den Wagen des Vaters fahren. Die Ampel schaltet auf grün. Der Sohn fährt nicht sofort los. Der Vater sagt: „Es ist grün!“ Auf der Sachebene ist die Information eindeutig. Hier wurde die Information über das Umschalten der Ampel auf grün weitergegeben. Diese Begebenheit würde allerdings völlig missverstanden, wenn es nur auf der Sachebene verstanden würde. Mindestens soviel sagt diese Mitteilung darüber aus, in welcher Beziehung diese beiden in dem Moment zueinander stehen. Der Vater teilt eine gewisse Unzufriedenheit mit dem zögerlichen Fahrstil des Sohnes mit. Der Sohn wird aufgefordert, doch nun endlich loszufahren. Darüber hinaus wird auch das Verhältnis der beiden so klargestellt, dass der Vater implizit behauptet der versiertere Autofahrer zu sein, der dem Sohn noch Ratschläge ereilen muss.[4]

Untersucht man erzieherische Kommunikationen auf diese beiden Ebenen hin, die Sach- und die Beziehungsebene, so ergibt sich ein interessantes Phänomen. Das Beispiel der beiden an der Ampel zeigte eine Kommunikationssituation, die auf beiden Ebenen asymmetrisch verlief. Der Vater gibt dem Sohn auf der Sachebene eine Information, die dieser anscheinend noch nicht hat. Ein asymmetrisches Gefälle. Zugleich aber teilt er ihm auch mit: „Du bist der schlechtere Autofahrer als ich.“ Ebenfalls ein asymmetrisches Gefälle auf der Beziehungsebene. Im Beispiel verlaufen beide Ebenen parallel. Darüber hinaus sind jedoch auch Situationen denkbar, in denen die Ebenen nicht parallel verlaufen. Also Situationen, die entweder symmetrisch auf der Sachebene und asymmetrisch auf der Beziehungsebene kommunizieren. Hier wäre zwar ein gleiches sachliches Niveau gegeben, aber dennoch würde der eine Kommunikationspartner den anderen behandeln „wie ein kleines Kind“. Solche Situationen sind besonders unerfreulich. Als ideale Erziehungssituation ist sie kaum vorstellbar, weil der eigentliche Grund für die Asymmetrie, ein sachliches Gefälle, gar nicht gegeben ist und dennoch so getan wird, als könne der Eine den Anderen erziehen.

Andersherum sind jedoch auch Situationen denkbar, in denen zwar diese sachliche Asymmetrie gegeben ist, also durchaus ein sachlicher Informationsfluss stattfindet, zugleich jedoch eine Symmetrie der Kommunikation auf der Beziehungsebene angestrebt wird. In den Begriffen Klaus Pranges hieße das, wenn Einer einem Anderen etwas zeigt, und ihn dabei als gleichberechtigten Partner versteht und behandelt. Eine solche Form der Erziehung ist, zumindest der Tendenz nach, auch mit Kindern möglich. Kinder können gleichberechtigte Partner sein, denen Erwachsene dennoch etwas erklären. Alle Erfahrung zeigt sogar, dass Kinder eher geneigt sind etwas zu lernen, wenn Sie sich dabei als gleich wichtige Personen ernst genommen fühlen.

Mit dem Paradox vom Anfang ist nun etwas Seltsames passiert; das Paradox ist kein Paradox mehr. Denn auch wenn Erziehung dem Begriffe nach immer auch Asymmetrie bedeutet, bedeutet das nicht, dass alle kommunikativen Ebenen zugleich asymmetrisch sein müssen.[5] Asymmetrisch muss vor allem die Sachebene sein. „Vor allem“ sage ich, weil es freilich auch Situationen gibt, in denen eine Asymmetrie auf der Beziehungsebene erforderlich ist. Ein Kind das im Spiel auf die befahrene Straße rennt, werden Erziehungsberechtigte zurückreißen und insofern keineswegs eine symmetrische Beziehungsebenenkommunikation praktizieren. Das kann sich auch beim Zähneputzen zeigen. Aber dennoch ist auch das Gegenteil vorstellbar. Eltern erklären ihrem Kind mit Begriffen, die das Kind verstehen kann, weshalb es wichtig ist, die Zähne nach dem Essen und vor dem Schlafengehen zu putzen und überlassen es dem Kind zu entscheiden, ob es nun noch eine Apfelschorle trinken will und danach noch einmal Zähne putzt, oder ob es doch lieber nur Wasser trinkt.

Spannend an solchen Erziehungssituationen ist, dass sie Erziehungssituationen bleiben, denn sie bleiben asymmetrisch, sind zugleich aber auf der Beziehungsebene symmetrisch. Was als Ziel der Erziehung angestrebt wird, eine symmetrische Kommunikation, kann demnach auch immer schon in ihrer Praxis präsent sein. Sie muss es jedoch nicht. Sie muss es allerdings dann, wenn die Erziehung je ihr Ziel, nämlich symmetrische Kommunikation / Mündigkeit / Freiheit erreichen soll. Wenn diese nie erfahren wurde, weder auf der Sach- noch auf der Beziehungsebene, woher soll dann das Wissen um und die Einübung in eine solche Kommunikationsform kommen?

Hier sei daran erinnert, dass Kinder sich nicht nur in Erziehungssituationen befinden. Die Rolle der Gleichaltrigengruppe etwa besteht zum großen Teil darin, dass Kinder hier lernen können und müssen, symmetrisch zu kommunizieren, da sie sonst schnell zu Außenseitern werden (vgl. schon Piaget 1983). Erziehung muss demnach nicht alles leisten, aber wenn die Erziehung die Mündigkeit/Freiheit befördern will, dann sollte sie auf möglichst symmetrische Kommunikationsbeziehungen auf der Beziehungsebene achten.

Es gibt folglich Erziehungssituationen, die diesen Namen verdienen, die mit einem gewissen asymmetrischen Gefälle in der Kommunikation arbeiten, also mit „Zwang“ und sei es auch nur der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ und die zugleich symmetrische Teile in sich bergen. Die Symmetrie, die Mündigkeit, die Freiheit, die das Ziel und Ende des Erziehungsprozesses sein soll, kommt demnach nicht einfach aus dem Nichts, sondern wird im Erziehungsprozess selbst schon immer erfahren. Die Freiheit, selbst entscheiden zu können, wird dem Zögling nicht erst am Ende der Erziehung, oder mit Erreichen von juristischen Mündigkeitsdaten, wie ein Ritterschlag zugesprochen, sondern er kann sie im Erziehungsprozess selbst immer schon praktizieren, nicht nur einüben.

Das anfängliche Paradox hat durch diese Umformulierung eine merkwürdige Wandlung erfahren. Es beschreibt nicht mehr eine Unmöglichkeit, sondern es drückt nun vielmehr eine Wie-Frage aus. Wie erreicht man Freiheit, die doch das proklamierte Ziel der Erziehung ist, wenn doch die Erziehung selbst immer Momente des Zwangs beinhaltet? Während man auf ein Paradox eigentlich nur bedauernd die Schultern zucken kann, kann man auf eine Wie-Frage unterschiedliche Antworten geben.[6] Man kann die Qualität und Güte dieser Antworten auf die Frage, wie und durch welche Art der Erziehung erreicht man am besten die Freiheit der zu Erziehenden, sogar mit empirischen Verfahren evaluieren. Unterschiedliche Erziehungsmethoden können hier miteinander verglichen werden, die antiautoritäre mit einer der liebenden Strenge, die von Montessori mit der von Fröbel oder Rousseau und Makarenko. Darüber hinaus ist es auch möglich, noch hinter diese Methoden zurück zu fragen, welche Verhaltensformen es eigentlich sind, die in der Erziehung Freiheit ermöglichen und sie als Ziel wahrscheinlich machen?

3. Wie ist Freiheit zu erreichen?

An dieser Stelle lohnt es, noch sich noch einmal dem Anfang des Aufsatzes zuzuwenden. Ein genauerer Blick auf die Frage, die mit Kant eingangs gestellt wurde, zeigt, dass er genau diese Frage nach dem Wie gestellt hat. Kant wollte in seiner Pädagogik-Vorlesung mitnichten auf ein unlösbares Paradox hinaus, sondern stellte die Frage: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange“ (Kant, 711).

Kant leitet diese griffige Formulierung mit folgenden zwei Sätzen ein: „Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedien, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig!“ (711/A32). Es ist also auch für Kant ein „Problem“ – eine vor ihn geworfene Aufgabe – kein unlösbares Paradox. Auch wenn Kant noch viele Zwänge in der Erziehung für „nötig“ hielt, die wir heute mitnichten mehr für „nötig“ – in vielem gar eher für schädlich –  halten, so gibt er doch drei Handlungsrichtschnüre für dieses „Wie“ an, deren Maximen heute noch immer weit tragen können:

„Hier muss man folgendes beobachten:

(1.)  dass man das Kind, von der ersten Kindheit an, in allen Stücken frei sein lasse (ausgenommen in den Dingen, wo es sich selbst schadet, z.E. wenn es nach einem blanken Messer greift), [–  bis hierhin wird man zustimmen können, bei den folgenden Beispielen werden wir wohl schon die Stirne runzeln – H. S.] wenn es nur nicht auf die Art geschieht, dass es anderer Freiheit im Wege ist, z.E. wenn es schreiet, oder auf eine allzu laute Art lustig ist, so beschwert es andere schon.

(2.)  Muss man ihm zeigen, dass es seine Zwecke nicht anders erreichen könne, als nur dadurch, dass es andere ihre Zwecke auch erreichen lasse, z.E. dass man ihm kein Vergnügen mache, wenn es nicht tut, was man will, dass es lernen soll, etc.

(3.)  Muss man ihm beweisen, dass man ihm einen Zwang auflegt, der es zum Gebrauche seiner eigenen Freiheit führt, dass man es kultiviere, damit es einst frei sein könne, d.h. nicht von der Vorsorge anderer abhängen dürfe“ (711/A33).

So strittig manche der Beispiele auch sein mögen, so liegt in den drei Punkten doch Bedeutsames. Die dritte Bemerkung, „muss man ihm beweisen“, kann so gelesen werden, als ginge es darum, dem Kind das einzubläuen: ‚Es geschieht ja nur zu deinem Besten, dass ich dich zwinge’. Berücksichtigt man jedoch, wie sorgsam Kant formuliert, dann ist folgende Deutung viel wahrscheinlicher: Man muss dem Kind beweisen können, dass man ihm einen Zwang auflegt, der es zum Gebrauche seiner eigenen Freiheit führt. Wenn man das nicht beweisen kann, dann handelt es sich nicht um einen Zwang im Sinne der Erziehung. Dann ist es kein Zwang, der auf Freiheit geht und insofern auch keiner, der dadurch zu legitimieren wäre, dass es sich angeblich um Erziehung handele. Also bedeutet der Satz, nur solche Zwänge sind in der Erziehung erlaubt, die die zu Erziehenden zum Gebrauch ihrer eigenen Freiheit befähigen! Kant definiert bei dieser Gelegenheit zusätzlich, was er unter Freiheit versteht. Es geht ihm nicht um eine absolute Willkürfreiheit. Seine Freiheit bleibt gebunden an vielerlei Abhängigkeiten, an Rücksichten, gegenüber anderen, die auch ihre Freiheit gebrauchen können sollen. Freiheit bedeutet jedoch, in all diesen Abhängigkeiten, in denen Menschen sich immer befinden werden, dass Menschen sich in diesem Abhängigkeiten selbst bestimmen können, dass sie weder von der Vorsorge anderer, noch von bloßen eigenen Begierden abhängen mögen.

Dieser Zusammenhang scheint mir für die Pädagogik ein viel entscheidenderer Punkt zu sein, als es das vermeintliche Paradox von Freiheit und Zwang in der Erziehung war. Dieser Punkt ist die Einsicht, dass die Möglichkeit der Betätigung von Freiheit an Bedingungen gebunden ist. Freiheit kann nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern sie ist bestenfalls das Ergebnis eines Prozesses – und für die Pädagogik ist entscheidend – eines Erziehungsprozesses. Von der anderen Seite betrachtet bedeutet dies: Die Pädagogik hat die Aufgabe, Menschen zu befähigen, ihre eigene Freiheit betätigen zu können. Dazu gehört, dass sie Dinge aufspürt, die einer Entwicklung und der Betätigung dieser Freiheit im Wege stehen. Die existentialphilosophische Einsicht, dass jeder Mensch immer frei sei, da es ihm zumindest immer frei stehe, seinem Leben auch ein Ende zu setzen und er insofern durch nichts gezwungen werden kann, mag existentialphilosophisch als Erkenntnis einige Funken schlagen. Wenn ein solches Argument jedoch in pädagogischen Zusammenhängen auftaucht, dann gilt es aufmerksam darauf zu achten, welche Positionen durch solche Argumentation begründet werden sollen. Denn wenn die Freiheit als unverlierbares Existential des Menschen, auch unter widerlichsten Bedingungen der Sklaverei, eingeführt und dargestellt wird, kann man eben diese Bedingungen der Sklaverei und Unterdrückung nicht mehr als unfrei machend kritisieren, denn unfrei kann der Mensch ja per Definition nicht sein. In pädagogischen Zusammenhängen jedenfalls geht es um solchen existentialphilosophischen Freiheitsbegriff nicht, der sich von der Möglichkeit des selbstbestimmten Todes her ableitet, sondern es geht um die Möglichkeit, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Ein solcher Freiheitsbegriff ist auch ein anderer als einer der „Einsicht in die Notwendigkeit“[7], der nahe legt, es gäbe nur eine mögliche Wahl und insofern keine Wahl, aber da sie eingesehen wird, ist diese Möglichkeit als die einzig mögliche Variante anzusehen und ist insofern auch kognitiv nachzuvollziehen und nicht nur vegetativ zu leben. Freiheit – wie sie hier dagegen mit Kant verstanden wird – ist eine Freiheit, die die Freiheit der Gestaltung in Strukturen menschlicher Beziehungen, Bedürfnisse und auch materiellen Abhängigkeiten meint. Aber eben diese Gestaltungsfreiheit des eigenen Lebens in Rücksicht auf die Bedingungen, gilt es durch Erziehung anzustreben.

Pädagogisch bedeutet dies, dass wir der Frage nach dem „Wie“ erheblichen Raum einräumen müssen. Wie erreichen wir dieses Ziel am besten,  dass Menschen eine möglichst große Gestaltungsfreiheit für ihr Leben gewinnen. Vermutlich werden die Antworten nicht nur nach pädagogischen Modellen, sondern auch nach Zielgruppen pädagogischer Interventionen variieren. In der Geistigbehindertenpädagogik werden sich andere Lösungen auf diese Frage anbieten als im Gymnasium. In der Arbeit mit Straßenkindern werden sich andere Methoden empfehlen als in der Schweizer Internatsschule. Und dennoch, überall da wo professionell erzogen wird, müssen sich und ihren Zöglingen Pädagogen Rechenschaft ablegen können, inwiefern die Erziehungshandlungen dazu führen, dass die zu Erziehenden „einst frei sein können“.

Die Folgerungen aus einer solchen Aufgabenbeschreibung der Erziehung gehen aber noch weiter. Wenn Freiheit sich nicht einfach von selbst versteht, sondern wenn Freiheit an Bedingungen geknüpft ist und diese Bedingungen besser und schlechter oder gar nicht vorhanden sein können, dann ist es die Aufgabe des Pädagogen, sich dafür einzusetzen, dass diese Bedingungen verbessert werden. Ein Beispiel aus der Behindertenpädagogik in Anlehnung an die Auswertung eines Forschungsprojekts durch Heinz-Elmar Tenorth mag dies erhellen (vgl. Tenorth 2006). Noch bis ins 18. Jh. hinein galten die Blinden und Gehörlosen als unfähig für ihr eigenes Leben Vorsorge zu treffen. Dementsprechend wurden sie auch behandelt. Sie wurden nicht beschult, sondern blieben Objekte der mildtätigen Fürsorge der Kommune, der Kirche oder von Privatleuten. Erst eine pädagogische Idee – nämlich die, dass jeder Mensch bildsam sei – änderte etwas an diesen Zuständen, indem diese Idee auch auf Kreise ausgedehnt wurde, die bislang von (schul-)pädagogischen Bemühungen völlig unbehelligt geblieben waren. Die Erfindung von Blindenschriften von Kommunikationsformen für schwer Hörgeschädigte, sei es nun die Gebärdensprache oder die Lautsprache, führten dazu, dass Menschen durch Bildung dazu befähigt wurden, nicht mehr von der Vorsorge anderer abhängig und insofern frei zu sein. Die Pädagogik machte hier Personenkreise ausfindig, die von der Freiheit bislang systematisch ausgeschlossen waren. Sie musste sodann Verfahren erfinden, die es diesen Personenkreisen ermöglichten, in einem bis dahin ungeahnten Maß von der Vorsorge anderer unabhängig und also frei zu sein.

Das historische Beispiel mag uns als Pädagogen erfreuen, aber zugleich wäre zu fragen, welche Personenkreise werden heute mehr oder weniger systematisch von der Freiheit, als der Möglichkeit, für das eigene Leben sorgen zu können, ausgeschlossen? Wie verhält sich das mit Kindern von Arbeitslosen in der dritten Generation, die kein anderes Lebensmodell als das der Arbeitslosigkeit kennen lernen? Wie ist das mit den Arbeitslosen selbst, die seit zehn Jahren stempeln gehen und bestenfalls einen Ein-Euro-Job bekommen? Wie ist das mit Kindern, die im Elternhaus nicht deutsch sprechen, und die auch deshalb in der Schule nicht einmal Bahnhof verstehen? Wie ist das mit den Bildungschancen für Mädchen in Afrika oder in einer Familie aus bildungsfernen Schichten in Deutschland? Und was ist mit Hauptschülern, die systematisch vom Lehrstellenmarkt ausgeschlossen zu sein scheinen? Auch diese politischen Fragen der Bedingung von Freiheit sind mitnichten unpädagogisch. Im Gegenteil drängt das pädagogische Interesse an der Ermöglichung von Freiheit dazu, auch politische Rahmenbedingungen zu verändern. Wir werden uns nicht darauf zurückziehen können zu sagen, das hat die Politik nun aber einmal so beschlossen, wenn zugleich deutlich wird, dass durch politische Beschlüsse die pädagogische Aufgabe, die Freiheit der Zöglinge anzustreben, verunmöglicht oder zumindest beschwert wird, wo sie doch auch erleichtert werden könnte. Damit jeder Mensch seine Freiheit betätigen kann, muss er zumindest über eine Grundbildung verfügen, die ihn nicht nur in der Gesellschaft zurechtkommen lässt, sondern die ihm auch Anschlüsse an unterschiedlichste Wissens-, Lebens-, Kultur-, Wirtschafts- und Religionsgebiete ermöglicht.[8] Er muss sie dann nicht betätigen, aber betätigen können – eben dies zu ermöglichen, darin besteht – sogar nach PISA – die pädagogische Aufgabe. Von diesem können darf keiner prinzipiell ausgeschlossen werden.

Eine Politik, die dazu aufruft, „mehr Freiheit zu wagen“, ohne im gleichen Atemzug die Bedingungen dieser Freiheit mit zu thematisieren und darauf zu drängen, dass alle die Möglichkeit erhalten müssen, diese Freiheit auch zu betätigen, muss pädagogisch kritisiert werden. Hier ist genau zu beobachten, welche Funktion soll die Berufung auf die Freiheit erfüllen. Geht es darum, Unterschiede zu legitimieren? Die einen nutzen eben ihre Freiheit die anderen nicht? Wichtig ist, was unternimmt eine solche Politik, damit allen die Möglichkeiten zur Betätigung ihrer Freiheit eingeräumt werden und nicht nur diejenigen, die ohnehin schon alle Freiheiten haben, noch freizügiger damit umgehen können.

Aus der Rekonstruktion eines vermeintlichen pädagogischen Paradoxes, das einen dazu verleiten könnte, in der Betrachtung seiner Unauflösbarkeit für immer zu verharren, ist im Verlauf des Textes – wie ich hoffe –  eine recht eindeutige pädagogische Zielbeschreibung geworden. Alles was Erziehung heißen will, muss eben die Freiheit des Zöglings zum Ziel haben. Um das Wie gibt es berechtigte und spannende Diskussionen und Experimente. Die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit setzen jedoch schon vor dem eigentlichen Geschäft der Erziehung an. Insofern ist es auch eine pädagogische Aufgabe, Bedingungen zu kritisieren – und wenn möglich dazu beizutragen sie zu verbessern – die die Freiheit von Zöglingen systematisch verhindern oder beschweren. Hier ragt die Pädagogik in die Politik oder die Wirtschaft oder die Religion hinein und kann sich nicht darauf zurückziehen, dass sie dies alles gar nichts anginge. Im Gegenteil, wo es um die Ermöglichung der Betätigung der Freiheit durch die künftige Generation geht, da hat Pädagogik ihren Ort.

Literatur

Benner, Dietrich 2001: Allgemeine Pädagogik. Weinheim: Juventa, 4. Aufl.

Benner, Dietrich 2005: Schulische Allgemeinbildung versus allgemeine Menschenbildung? Von der doppelten Gefahr einer wechselseitigen Beschädigung beider. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 8. Jg/2005, H. 4, S. 563-575

Bernfeld, Siegfried 1973: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt: Suhrkamp

Braunmühl, Ekkehard von 1975/1991: Antipädagogik – Studien zur Abschaffung der Erziehung. Weinheim: Beltz

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1810/2000: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Werke in 20 Bänden und Register, Bd.7. 9. Aufl. Herausgegeben von Eva Moldenhauer. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Kant, Immanuel 1803: Über Pädagogik. In: Ders.: Werke in 10 Bänden. Hrsg. Von Wilhelm Weischedel, Band 10, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 691-764

Piaget, Jean 1983: Das moralische Urteil beim Kinde. Stuttgart: Klett-Cotta

Prange, Klaus 2005: Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der Operativen Pädagogik. Paderborn: Schöningh

Rousseau, Jean-Jacques 1762/1995: Emil oder Über die Erziehung. 12. Aufl. besogt von Ludwig Schmidts, Paderborn – München – Wien – Züich: Ferdinand Schöningh

Schlömerkemper, Jörg 2006: Wie kultiviere ich die Bildung bei dem Standard? Zur Organisation kompetenz- und prozessintensiven Lernens. In: Die Deutsche Schule, 98, 2006, S. 264-269

Schulz von Thun, Friedemann 1981/1993: Miteinander Reden 1 – Störungen und Klärungen. Hamburg: rororo

Tenorth, Heinz-Elmar 2006: Bildsamkeit und Behinderung – Anspruch, Wirksamkeit und Selbstreduktion einer Idee. In: Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit – Exempel einer Geistesgeschichte. München: Oldenbourg, S. 503-526

Watzlawick, Paul u. a. 1969/1990: Menschliche Kommunikation. Bern: Huber

 

Henning Schluß, geb. 1968, Dr. phil., Wissenschaftlicher Assistent, Schwerpunkte: Allgemeine Erziehungswissenschaft, Religionspädagogik, Pädagogik und Politik, Geschichte der DDR-Pädagogik, Medienpädagogik

Anschrift: Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin;

Email: henning.schluss@rz.hu-berlin.de

Website: www.henning.schluss.de.vu

 

Inhaltsverzeichnis: 
Henning Schluß     
Erziehung zur Freiheit?        
Zur vermeintlich paradoxen Beziehung von Erziehungszielen und Erziehungsverhältnissen     

Erziehung soll Menschen zur Mündigkeit führen, sie ist aber selbst eine Zwangsinstitution. Wie kann Zwang zu Freiheit führen? Eine Lösung kann aufscheinen, wenn man das Problem im Rahmen der systemischen Kommunikationstheorie deutet. Daraus können Folgerungen sowohl pädagogischer als auch politischer Art abgeleitet werden.         
Schlüsselwörter: Freiheit, Zwang, Erziehung, Macht, symmetrische und asymmetrische Kommunikation         
        
Henning J. Schluß  
Education for Freedom?        
To the paradox relationship between the aims of education and settings and conditions of education        

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Keywords: freedom, enforcement, education, power, symmetric and asymmetric communication

 

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[1]    Überarbeitete Fassung eines Vortrags auf der Seminar-Tagung: „Wie lehren wir Freiheit?“ der Humboldt-Universität zu Berlin und der Evangelischen Akademie Berlin am 21.1.2006.

[2]    Kant selbst schreibt vor diesem Satz: „Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne“ (ebd.).

[3]    Problematisch daran ist, dass Prange zuweilen behauptet, diese beiden seien in Wirklichkeit eins, nämlich das pädagogische Zeigen vgl. Prange 2005.

[4]   Hier wären auch noch weitere Ebenen der Kommunikation auffindbar. Friedemann Schulz von Thun etwa unterscheidet vier Ebenen, die in allen Kommunikationen eine Rolle spielen würden (vgl.: Schulz von Thun 1981/1993). Für diesen Zusammenhang soll es bei diesen zweien belassen werden.

[5]   Freilich gibt es auch ganz symmetrische Umgangsformen mit Kindern – diese sind dann aber eben keine Erziehung. Wenn ein Gast gefragt wird, ob er satt sei oder noch ein wenig Nudeln mit Tomatensoße möchte, so ist dies im Allgemeinen ganz gleichgültig, ob der Gast ein Kind oder ein Erwachsener ist, es handelt sich demnach nicht um Erziehung, nicht mal im Sinne von Bernfeld, weil es eben keine spezifische gesellschaftliche Reaktion auf die Entwicklungstatsache ist, sondern bestenfalls eine gesellschaftliche Reaktion auf die Tatsache der Bedürftigkeit an Nahrungsmitteln.

[6]   Dies illustriert auch Schlömerkemper (2006), wenn er zeigt, dass die beiden Pole der gegenwärtigen Diskussion um eine Output-Orientierung im Bildungssystem – „Standards“ und „Bildung“ – nicht als sich gegenseitig ausschließend wahrgenommen werden müssen, sondern sich durchaus gegenseitig befruchten können, wenn die Frage erörtert wird, wie beide Interessen sinnvoll aufeinander bezogen werden können.

[7]   Diese Begriffsdeutung macht bei Marx und Engels Karriere, findet sich jedoch schon bei Hegel: "Die Freiheit des Menschen von natürlichen Trieben besteht nicht darin, daß er keine hätte und also seiner Natur nicht zu entfliehen strebt, sondern daß er sie überhaupt als ein Notwendiges und damit Vernünftiges anerkennt und sie demgemäß mit seinem Willen vollbringt" (Hegel 1810/2000).

[8]   Hier lassen sich Argumentationsformen für eine Grundbildung und für eine (höhere) Allgemeinbildung durchaus miteinander zusammenbringen (vgl. Benner 2005).