Dr. Henning Schluß,

Humboldt-Universität zu Berlin,

Allgemeine Erziehungswissenschaft

 

Religiöse Bildung und öffentliches Interesse

- Sechs Thesen

1.          Vorüberlegungen

Es ist leicht einzusehen, dass die Kirchen ein vitales Interesse an konfessionellem Religionsunterricht als mehr oder weniger ordentlichem Schulfach im Rahmen des Fächerkanons der staatlichen Schule haben. Der Religionsunterricht ermöglicht den Kirchen im Rahmen der öffentlichen Schule mit jenen Schülerinnen und Schülern zu arbeiten, die kirchlich-gemeindliche Angebote kaum wahrnehmen oder überhaupt nicht für diese erreichbar scheinen. Das ist besonders bedeutsam für die Teile Deutschlands, in denen zumindest eine Entfernung von den institutionalisierten Formen von Religion (zugunsten einer vermeintlich individualisierten oder unsichtbaren Religion {Luckmann 1991})3, wohl aber auch von Religion überhaupt, zu konstatieren ist. Denn neben der religiösen Vielfalt besonders in den Ballungsgebieten gibt es eine immer weiter schwindende Bedeutung von Religion überhaupt. Religionssoziologisch ist dies ein Phänomen, das sich in fast allen deutschen Großstädten finden lässt und das mit einer Distanz der wachsenden Arbeiterschaft zur staatsnahen Kirche der Kaiserzeit seinen Anfang nahm. Bezeichnend ist für die Situation, dass auch Akteure wie die Freidenkerverbände, die aus dem „gottlosen“ Mainstream nach 1990 in Ostdeutschland hofften Funken schlagen zu können, kaum über den Promillebereich hinaus kommen. Dies mag vor allem darin begründet sein, dass dieser Mainstream sich längst nicht mehr als a-theistisch (also sich bewusst von Gott abwendend) versteht und deshalb auch nicht im Bekämpfen religiöser Opiate einen Lebenssinn zu entdecken vermag. Vielmehr ist die Frage nach Gott schon seit Generationen schlicht vergessen. Die Frage lautet auf diesem Hintergrund: Welches Interesse könnte die Öffentlichkeit auch angesichts knapper öffentlicher Kassen an schulischer religiöser Bildung und deren finanzieller, personeller und sächlicher Unterstützung haben, wo doch erstens eben diese Öffentlichkeit in ständig wachsender Zahl und im Osten Deutschlands in überwiegender Mehrheit schon lange nicht mehr religiös, ja nicht einmal mehr anti-religiös ist und zweitens sich selbst der Markt der Schulreligionen, die zu subventionieren sind, als unüberschaubar bunt darstellt? In manchen Umfragen und von manchem Professor der Erziehungswissenschaften und für manchen Wirtschaftsverband5 scheint diese Frage längst beantwortet. Religiöse Bildung an der Schule gehört als ein Relikt aus vergangenen Zeiten schleunigst abgeschafft, um sich den entscheidenden Nachteilen des deutschen Bildungswesens, die vor allem die PISA-Untersuchungen aufgedeckt haben, verstärkt zuwenden zu können. Dabei wird übersehen, dass selbst im dem PISA-Konzept zugrunde liegenden Literacy-Ansatz zwischen „kognitiver, moralisch-evaluativer, ästhetisch-expressiver und religiös-konstitutiver Rationalität“ (Baumert/Stanat/Demmrich 2001, S. 21) unterschieden wird, dass also die religiöse Bildung Teil der Grundbildung nach PISA ist. Zwar wird diese im Rahmen der PISA-Studien nicht erfragt, in einem DFG-Forschungsprojekt an der Humboldt-Universität in Berlin, gehen Dietrich Benner und ich von Seiten der Allgemeinen Pädagogik und Rolf Schieder und Joachim Willems von der Religionspädagogik diesen von PISA offen gelassenen Fragen nach (Benner/Schluß/Schieder/Willems 2005). Zugleich arbeitet eine Arbeitsgruppe des Comenius-Instituts an Standardanregungen für religiöse Bildung.

Sehr deutlich ist, dass religiöse Bildung nur dann als im öffentlichen Interesse liegend verstanden werden kann, wenn es sich dabei nicht nur um ein Partikularinteresse handelt, sondern wenn sie als Teil der Allgemeinbildung verstanden wird, die zu vermitteln Auftrag der öffentlichen Schule ist.[1] Im Folgenden sollen deshalb 6 Thesen aufgestellt und erläutert werden, die für ein öffentliches Interesse an Religion konstitutiv sind.

2.          Thesen

Das öffentliche Interesse an religiöser Bildung besteht:

2.1. In einer antifundamentalistischen Selbstaufklärung der jeweiligen Bezugsreligionen.

Dieses Interesse wird verständlich, ist doch ein großer Teil des Fundamentalismus der Unkenntnis dessen geschuldet, was für die eigene Religion gehalten wird. Gegenwärtig stehen vor allem Beispiele aus dem Islam vor Augen, wie die Frage der vermeintlichen Märtyrer, der Kopftuchfrage oder der so genannten Ehrenmorde. Jedoch ist keine Religion von sich aus immun gegen Fundamentalismus. Auch die Epoche der europäischen Aufklärung vermag die christliche Religion keineswegs für immer von fundamentalistischen Tendenzen zu bewahren, wie die Creationisten in den USA oder die extremen Varianten der so genannten „Lebensschutzbewegungen“ zeigen.

Der antifundamentalistische Effekt religiöser Bildung beginnt noch vor der Religionskritik. Selbst eine affirmative religiöse Bildung kann über manche gewalttätigen Missbräuche von Religion aufklären. So besteht ein weitgehender Konsens unter muslimischen Rechtsgelehrten darin, dass der Koran Selbstmord verbietet und keineswegs als probates Mittel zum Eingang ins Paradies anpreisen würde.

Eine religiöse Bildung im öffentlichen Interesse muss allerdings über solche Positionen aus der Binnensicht noch hinausgehen, indem sie auch Fragen der Religionskritik mit behandelt. Die Frage nach der Entstehung des Korans darf dabei sowenig tabuisiert werden, wie die Frage nach der Entstehung der Bibel. Fundamentalistische Antworten auf diese Fragen sollen nicht ausgeklammert werden, zumal sie im Alltag der Religionen immer präsent sind, sondern müssen in einen pluralen Diskurs von Antworten einbezogen werden. 

2.2. In der Einübung einer Verständigung zwischen verschiedenen Religionen.

Über mathematische Themen, über Probleme der Geographie und der Politik lernen die SchülerInnen miteinander zu sprechen, aber Probleme der Religion werden in Deutschland entweder in verschiedenen Fächern oder vielerorts (besonders im Osten Deutschlands) für die meisten SchülerInnen überhaupt nicht an der Schule thematisiert. So wird Religion als exklusives Moment etabliert. Es schließt im wahrsten Sinne des Wortes andere aus. Es ist jedoch eminent im öffentlichen Interesse, dass nicht ein religiöser Blick eingeübt wird, der den anderen vor allem als „nichtzugehörig“ wahrnimmt. Bislang liegt es im Gutdünken der Religionsgemeinschaften die Religionsunterricht anbieten, inwiefern sie über die anderen informieren. Die Perspektive des mit anderen kommt dagegen viel seltener in den Blick! Gerade dies ist jedoch für das multireligiöse Zusammenleben wichtig.

2.3. In der Erkenntnis und Reflexion von Gemeinsamkeiten und Differenzen der Religionen und Weltanschauungen.

Ziel einer solchen Verständigung zwischen Religionen und Weltanschauungen kann nicht ein harmonistisches Vereinheitlichen aller positiven Religionen sein. Mit einem Überdecken und kaschieren von Unterschieden ist so wenig gewonnen wie mit einer Variante der Toleranz, der alles egal ist. Religiöse Kompetenz besteht weder darin zu sagen, „ist mir doch egal was Du glaubst“ noch darin zu meinen, „im Prinzip glauben wir doch alle das gleiche“. Religiöse Kompetenz äußert sich viel mehr darin, Gemeinsamkeiten aber ebenso sehr auch Differenzen erkennen und anerkennen zu können (vgl. Dressler 2006).

Die Ausdifferenzierung der Welt wird weithin als ein Kennzeichen der modernen Welt betrachtet. Wilhelm von Humboldt, der in gewisser Weise noch am Anfang dieser Ausdifferenzierung stand, nahm sie gleichwohl sensibel wahr und sah, dass sie unumkehrbar sein würde (vgl. Heydorn 1980). Die rückwärts gewandte Sehnsucht nach einer „ganzheitlichen“ Welt konnte er nicht teilen. Allerdings sah er, dass die Ausdifferenzierung den Menschen vor Herausforderungen stellte, die ihn zu zerreißen drohen. Humboldts Antwort fand er im Konzept der Bildung. Sie würde den Menschen dazu befähigen, Differenzen anzuerkennen, sie nicht ignorieren oder negieren zu müssen, sondern sich vielmehr zu ihnen verhalten zu können. Religiöse Kompetenz im öffentlichen Interesse muss ein entsprechendes „sich verhalten können“ zu religiösen Differenzen zum Ziel haben. Differenzen treten bekanntlich keineswegs nur zwischen den Religionen sondern auch innerhalb der einzelnen Religionen und Weltanschauungen auf. Gerade die Thematisierung von solchen Differenzen innerhalb einer Religion, Konfession oder Weltanschauung wird zur Bildung der je individuellen religiösen Identität der Heranwachsenden besonders wichtig sein, da dies die Chance bietet, Religionen nicht nur als homogenen Block wahrzunehmen, sondern durch die Darstellung und Erlebbarmachung ihrer Binnendifferenzierungen zur individuellen Positionierung zu ermutigen.

2.4. Religiöse Identität muss als offen und sich bildend begriffen werden.

Gefragt werden muss weiterhin im öffentlichen Interesse nach Konzepten religiöser Grundbildung die gewährleisten, dass Schülerinnen und Schüler nicht das als religiöse Identität zugeschrieben wird, was die Religion der Eltern ist. Was in anderen Bereichen des Lebens zu einem Kennzeichen der Neuzeit geworden ist, dass nämlich weder Geburtstände den künftigen Stand noch Berufe der Eltern die künftigen Tätigkeiten der Heranwachsenden prädeterminieren, muss auch für die Bildung religiöser Identität gelten. Es wird ernst genommen, dass für die Entwicklung der religiösen Identität wie der Identität schlechthin das Individuum selbst verantwortlich ist und diese eben nicht mehr durch Herkunft vorgegeben ist. Schon die EKD-Denkschrift „Identität und Verständigung“ plädierte für ein solches Verständnis von Identität (vgl. EKD 2000). Fraglich ist jedoch, wie sich dieses Identitätskonzept einer prinzipiell offenen sich entwickelnden und vernetzenden Identität in einem weiterhin einer Konfession verpflichteten Unterricht wird umgesetzt werden können. Insofern bedarf es Formen des Unterrichts, die auch strukturell diese Einsicht abbilden können.

2.5. Der Vermittlung von religiösen Kompetenzen für alle

So multireligiös sich die Gesellschaft in den Großstädten zuweilen auch zeigt, eine immer größer werdende Zahl und im Osten der Republik gar die absolute Mehrheit ihrer Bürger ist jedoch in keiner Religionsgemeinschaft eingeschrieben, geschweige denn aktiv. Die meisten von ihnen im Osten sind nicht einmal selbst aus der Kirche ausgetreten, sondern das haben schon ihre Eltern und Großeltern getan. Religion als Dimension des Menschlichen kommt in diesen Familien nicht mehr vor (vgl. Pollack, Detlef 1993, 1994, 1996). Insofern kann auch nicht mehr darauf vertraut werden, dass die religiöse Sozialisation im Elternhaus und den Kirchgemeinden stattfindet, weil die Elternhäuser areligiös sind und die Kirchengemeinden kaum noch ihre eigenen Mitglieder erreichen, geschweige denn Außenstehende. Das Wissen über Religion wird nicht mehr über diese Institutionen vermittelt. Wer aber nichts mehr von Religion weiß, wird auch Geschichte, bildende Kunst, Musik, Literatur aber auch Politik oder manche aktuellen Kinofilme und gar Werbespots nicht verstehen können. Gerade der Verlust der Religiosität zeigt, in welchem Maße unsere gesamte Kultur auf religiösen Fundamenten ruht. Wenn Schule den Auftrag hat, Schülerinnen und Schülern allgemeine Bildung so zugänglich zu machen, dass diese zu mündigen Teilhabern der Gesellschaft werden können, dann kommt sie gerade in religionslosen Zeiten ohne eine religiös bildende Funktion nicht aus. Gerade weil andere Institutionen der Gesellschaft dies nicht mehr leisten, ist es Aufgabe der Schule diese Lücke zu schließen um dem Auftrag der Allgemeinbildung gerecht werden zu können.

2.6.  Erfahrungen auf religiösem Gebiet müssen „pädagogisch“ vermittelt werden.

Dabei zeigt sich freilich, dass der Erwerb religiöser Kompetenz ohne religiöse Erfahrung ebenso schlecht möglich ist, wie der Erwerb von Fremdsprachenkompetenz ohne das Sprechen der Fremdsprache. Eine bloß informative Religionskunde greift so zu kurz, wie ein Glaubensunterricht zu weit geht. Vielmehr muss der Erwerb religiöser Kompetenz darin bestehen, religiöse Erfahrungen reflektieren zu können. Dies ist allerdings in einem Umfeld problematisch, in dem immer mehr Schülerinnen und Schüler überhaupt Erfahrungen mit Religionen gemacht haben und noch nie in ihrem Leben ein Gotteshaus von innen gesehen haben (vgl. Domsgen 2005). Wenn die Erfahrungen jedoch nicht mehr in der Umwelt der Heranwachsenden gemacht werden, fehlen Ihnen die Gegenstände der Reflexion. Die Reflexion bliebe leer. Das alte Dogma, dass der Religionsunterricht keine religiösen Erfahrungen zu vermitteln habe, sondern diese nur reflektieren solle, kann in einer Welt nicht mehr gelten, in der Heranwachsende eben diese Erfahrungen nicht mehr in den Unterricht mitbringen und insofern der Gegenstand der Reflexion fehlt. Wenn es also auch Aufgabe einer religiösen Bildung im öffentlichen Interesse sein muss, über religiöse Erfahrungen zu reflektieren, dann müssen die Heranwachsenden auch Gelegenheit bekommen, eine Synagoge, eine Moschee, einen buddhistischen Tempel zu besuchen, an einem Gebet teilzunehmen, einen Psalm zu lesen, an einer diakonischen Einrichtung zu erleben, was tätige Nächstenliebe bedeuten kann (vgl. Dressler 2003).

Die Alternative, in anderen Bereichen des Lebens (z.B. im Fußball oder Rockkonzerten) die religiöse Dimension zu erschließen, ist zwar ein viel versprechender Ansatz, kann die ganze Breite und vor allem den Kern religiösen Er-Lebens wohl kaum erschließen. Das staatliche Neutralitätsgebot wird so nicht überschritten, sondern die Grundlagen zur Reflexion über Religion werden in arrangierten „pädagogisch vermittelten Erfahrungen“ gelegt, weil die unmittelbar lebensweltlichen Erfahrungen aus dem eigenen Kindergottesdienst, aus dem selbst erlebten Martinsumzug, aus der eigenen Konfirmation fehlen![2]

Ein mögliches Missverständnis ist dabei auszuschließen. „Pädagogisch vermittelte Erfahrung“ kann nicht bedeuten, dass Lehrpersonen so tun, als seien sie in bestimmter Weise religiös, es aber tatsächlich nicht sind. Vielmehr ist es ein breiter Konsens der Religionspädagogik, dass die Begegnung mit authentisch gelebtem Glauben für die Erfahrung eben dieses Glaubens unabdingbar ist. An Begegnungen, Erfahrungen und Auseinandersetzung mit in konkreten Gläubigen werden deshalb Konzepte religiöser Bildung im öffentlichen Interesse nicht herumkommen, weil sich nur hier authentische Erfahrungen gewinnen lassen. Das „pädagogisch“ bezieht sich deshalb nicht auf eine künstliche Religiosität, sondern lediglich auf das unterrichtliche Arrangement der Begegnung mit ebendieser gelebten Religiosität. Die Erfahrung gelebten Glaubens ergibt sich eben nicht mehr selbstverständlich im alltäglichen Leben, im Hineinwachsen in Gemeinde, Kirche und fromme Familie, sondern sie muss in Konzepten religiöser Bildung im öffentlichen Interesse ermöglicht werden, eben damit eine Reflexion dieser Erfahrungen überhaupt unterrichtlich stattfinden wird können.

3.          Konsequenzen

Derzeit stehen vor allem drei Konzepte religiöser Bildung an der Schule zur Diskussion. Neben Modellen des konfessionellen Religionsunterrichts wie er im Grundgesetz verbürgt ist und gegenwärtig mancherorts in Richtung auf eine Fächergruppe „Ethik-Religion“ erweitert wird, stehen Konzepte eines „Religionsunterrichts für alle“ und eines Konzepts religionskundlicher Bildung in staatlicher Verantwortung, wie dies am Beispiel von LER viel diskutiert wurde. Schon eine knappe Prüfung nach den sechs Kriterien zeigt jedoch, dass keines der drei Konzepte die soeben beschriebenen Anforderungen an eine religiöse Bildung im öffentlichen Interesse wird erfüllen können. Nur einige neuralgische Punkte seien hier benannt.[3] Der konfessionelle Religionsunterricht hat im Hinblick auf die Kriterien seine größte Stärke darin, dass er authentische Begegnungen und Erfahrungen mit Religion ermöglicht. Allerdings ist es nur eine Religion oder gar Konfession, der die SchülerInnen und Schüler authentisch begegnen können, andere Religionen kommen bestenfalls in der Perspektive des „Unterrichtens über“ in den Blick. Hinzu kommt jedoch, dass Austausch und Auseinandersetzug der Schülerinnen und Schüler nur innerhalb des Zirkels ermöglicht wird, der den Religionsunterricht besucht.[4] Religion wird so als exklusives und trennendes Moment wahrgenommen. Eine Einübung der Verständigung zwischen verschiedenen Religionen kann so nicht gelingen. Auch die vermeintliche Stärke, eine Festigung der „eigenen“ Religiosität, die dann später eine Auseinandersetzung mit dem Fremden ermöglichen würde, muss aus zwei Gründen kritisch hinterfragt werden. Zum einen steht eben in der Moderne auch auf religiösem Gebiet nicht mehr fest, was das Eigene ist. Das Eigene kann nur als ein sich entwickelndes verstanden werden. Dazu bedarf es vielfältiger Bezugnahmen und auch Abgrenzungen, um so ein Identitätsgewebe selbst zu flechten. Das zweite Argument ist in gewisser Weise schon in dem ersten enthalten, das Eigene wird häufig nur dann als eigenes sichtbar, wenn es dem anderen auch dem Fremden, begegnet und sich ihm aussetzt (vgl. schon Buber 1932). Erst in dieser Begegnung entstehen Möglichkeiten der Reflexion, die das Eigene allererst als eigenes erkennen und wertschätzen oder verwerfen lehren.

Hier geht das Hamburger Modell eines „Religionsunterrichtes für alle“ einen deutlichen Schritt weiter. Einerseits wird hier bewusst an einer religiösen Positionalität der Unterrichtenden festgehalten, andererseits wird hier ein Modell verfolgt, dass die Beschränkung auf nur eine Konfession und Religion hinter sich lässt und unterschiedliche Religionen in das Konzept integrieren will. Auch wenn dies noch nicht einmal für die drei großen monotheistischen Religionen gelungen ist (vgl. Doedens 2001), zeigt sich hier jedoch eine interessante Perspektive.  Allerdings bleibt auch in diesem Modell das Recht zur Abmeldung vom RU unangetastet, so dass sich wieder nur diejenigen einer Beschäftigung mit Religion aussetzen, die oder deren Eltern ein Interesse daran haben. Anderen werden religiöse Kompetenzen nicht vermittelt und auch der Dialog mit diesen Areligiösen entfällt. Hinzu kommt, dass verschiedene Religionsgemeinschaften (z.B. die jüdische Gemeinde) auf das Recht eines eigenen RU in Hamburg nicht verzichten möchten und auch insofern die integrative Perspektive Lückenhaft bleibt.

Mit dem Projekt Lebensgestaltung – Ethik – Religion(skunde) (LER) in Brandenburg wollte man an dieser Stelle ansetzen. In der ursprünglichen Projektphase sollte eine Kombination aus Integrations- und Differenzeierungsphasen in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche ein Modell verwirklichen, das einerseits sowohl verbindlich alle erreicht, andererseits auf religiöse Positionalität nicht verzichten muss. Der (Rechts-)Streit zwischen Kirchen und Land hat dazu geführt, dass in LER nun nur noch religionskundliche Elemente enthalten sind, authentische Begegnungen kaum noch vorkommen und man sich spiegelbildlich zur grundgesetzlichen Regelung für den Religionsunterricht in Brandenburg von LER abmelden kann (vgl. Leschinsky/Gruehn 2002; Schluß 2002, 2003, 2004). Pädagogisch arrangierte religiöse Erfahrungen sind in einem solchen Unterrichtsfach kaum möglich. Bestenfalls die Reflexion von Erfahrungen, die aber eben an die Grenze stößt, dass ein Großteil der Schülerinnen und Schüler (und auch Lehrerinnen und Lehrer) überhaupt keine expliziten Erfahrungen mit Religionen gemacht haben, die sie reflektieren könnten. Auch die interreligiöse Begegnung innerhalb der Klasse wird durch die Abmeldemöglichkeit unwahrscheinlich gemacht. Religion erscheint auch in diesem Fall als exklusives Moment, auch wenn hier nun nicht die Mehrheit der religiösen die unreligiösen ausschließt, sondern umgekehrt.

Auch wenn es in allen gegenwärtig diskutierten und praktizierten Modellen Öffnungen für die Anforderungen einer religiösen Kompetenzentwicklung gibt, wie z.B. das Modell der Fächergruppe für den konfessionellen RU, das auch fächerübergreifende Unterrichtseinheiten vorsieht (vgl. Nipkow 2000), so werden alle drei Modelle aus den genannten Gründen, bei je unterschiedlichen Vorzügen, den Anforderungen an religiöse Bildung aus der Perspektive eines öffentlichen Interesses nicht gerecht. Es bedarf mindestens ergänzender Konzepte, die die jeweils fehlenden Elemente einer religiösen Grundbildung auszugleichen vermögen, so dass eine mündige Wahrnahme der Religionsfreiheit für alle, die eine öffentliche Schule besucht haben, möglich wird.

Die Religionsphilosophischen Schulprojektwochen vermögen aufgrund ihrer sehr spezifischen Struktur 1. die Positionalität der Lehrenden in 2. unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen so zur Geltung zu bringen, dass die 3. Erfahrungen mit Religion, die an authentischen Orten und in authentischen Begegnungen[5] gewonnen wurden, 4. kritisch reflektiert werden und 5. gemeinsam ausgetauscht und bearbeitet werden können. 6. Werden Differenzen dabei keineswegs nur zwischen den Religionen und Philosophien, sondern auch innerhalb derselben sicht- und erlebbar, so dass 7. die Weiterentwicklung der je individuellen Identität der Heranwachsenden in der Auseinandersetzung mit diesen differenten Positionen geschehen kann (vgl. Schluß/Götz-Guerlin 2003). Aufgrund dieser Eigenschaften können sie sowohl Modelle eines religionskundlichen Unterrichts, wie er exemplarisch am Brandenburgischen Beispiel diskutiert wurde, als auch Modelle konfessionellen und überkonfessionellen Religionsunterrichts mit je spezifischem Gewinn ergänzen.

Ob die Religionsphilosophischen Schulprojektwochen darüber hinaus die herkömmlichen Formen der Vermittlung religiöser Bildung künftig abzulösen vermögen, sei an dieser stelle nicht prognostiziert. Verschwiegen sei nicht, dass ein solches Projekt-Konzept auch Nachteile gegenüber einem kontinuierlichen Religionsunterricht hat, der fest in den schulischen Ablauf integriert ist und eine dauernde Kontaktperson als Ansprechpartner in religiösen Fragen bereitstellt. Möglicherweise finden sich hier jedoch noch Entwicklungsmöglichkeiten, die darauf hinauslaufen könnten, die RPSW nicht zu einer einmaligen Angelegenheit, sondern zu einem kontinuierlichen Projekt zu machen, das in unterschiedlichen Jahrgangsstufen immer wiederkehrt.

4.          Literatur

-          Bellmann, Johannes (2006): Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach. Begründungen religiöser Bildung an öffentlichen Schulen. In: Ruhloff, Jörg/Bellmann, Johannes et al. (Hrsg.): Perspektiven Allgemeiner Pädagogik. Dietrich Benner zum 65. Geburtstag. Beltz, Weinheim.

-          Benner, Dietrich (2004): Erziehung und Tradierung. Grundprobleme einer innovatorischen Theorie und Praxis der Überlieferung. In Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 80, S. 163-181.

-          Benner, Dietrich/Schluß, Henning/Schieder, Rolf/Willlems, Joachim (2005): Qualitätssicherung und Bildungsstandards für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, am Beispiel des Evangelischen Religionsunterrichts (RuBiQua). DFG-Antrag.

-          Buber, Martin (1932): Zwiesprache. Schocken-Verlag, Berlin.

-          Dressler, Bernhard: Darstellung und Mitteilung. Religionsdidaktik nach dem Traditionsabbruch. In: Klie, Thomas/Leonhard, Silke (Hg.): Schauplatz Religion. Grundzüge einer Performativen Religionsdidaktik. Leipzig 2003, S.152-165.

-          Dressler, Bernhard (2006): Unterscheidungen. Religion und Bildung. Reihe: Forum ThLZ, EVA, Leipzig.

-          Doedens, Folkert (2001): Gemeinsame Grundsätze der Religionsgemeinschaften für einen interreligiösen Religionsunterricht? Der Hamburger Weg: Religionsunterricht für alle In: http://lbs.hh.schule.de/relphil/pti/downloads/rufalle.doc (Zugriff am 7.4.2006).

-          Domsgen, Michael (2005): Religionsunterricht und Familie in Ostdeutschland – Überlegungen zu einem vernachlässigbaren Verhältnis. In: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie. 1/Jg. 57.

-          EKD: Identität und Verständigung. Gütersloh 2000.

-          Hanisch, Helmut/Kinder, Jochen (2003): Religions- und Ethikunterricht im Freistaat Sachsen aus statistischer Sicht. In: Domsgen, Michael; u. a. (Hrsg.): Religions- und Ethikunterricht in der Schule mit Zukunft. Bad Heilbrunn/Obb: Verlag Julius Klinkhardt, S. 191-214.

-          Hanisch, H./Pollack, D. (1997): Religion – ein neues Schulfach. Eine empirische Untersuchung zum religiösen Umfeld und zur Akzeptanz des Religionsunterrichts in den neuen Bundesländern. Stuttgart.

-          Heydorn, Heinz-Joachim (1980): Ungleichheit für alle. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs. Bildungstheoretische Schriften Band 3, Frankfurt/M., S. 7 - 62.

-          Bildungstheoretische Schriften Band 3, das Kapitel: Zum Verhältnis von Bildung und Politik

-          Lenzen, Dieter (2003): Bildung neu denken! München.

-          Leschinsky, Achim/Gruehn, Sabine (2002): Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde – ein notwendiger Reformversuch unterwegs. In: Auer, K. H. (Hrsg.): Ethikunterricht. Standortbestimmung und Perspektiven. Innsbruck, Wien: Tyrolia, S. 145-165.

-          Luckmann, Thomas (1991): Die unsichtbare Religion, Frankfurt/Main.

-          Nipkow, Karl Ernst: Religiöse Bildung im Pluralismus. In Neue Sammlung 2/2000, S. 281-293.

-          Pollack, Detlef (1993): Zur religiös-kirchlichen Lage in Deutschland nach der Wiedervereinigung - Eine religionssoziologische Analyse. In: ZThK Jg. 93 4/96 S. 586-615.

-          Pollack, Detlef (1994): Die Kirche in der Organisationsgesellschaft, Stuttgart.

-          Pollack, Detlef (1996): Individualisierung statt Säkularisierung? – Zur Diskussion eines neueren Paradigmas in der Religionssoziologie. In: Gabriel, Karl (Hg.); Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung, Gütersloh.

-          Schluß, Henning (2002): Von Zauberlehrlingen und Hexenmeistern. Ein Kommentar zur deutschen Schulwirklichkeit im Allgemeinen und zum Streit um LER im Besonderen. In: E & U 4/2002.

-          Schluß, Henning (2003): Lehrplanentwicklung in den neuen Ländern - Nachholende Modernisierung oder reflexive Transformation? Wochenschauverlag, Schwalbach/Ts.

-          Schluß, Henning (2004): Das Recht des moralisch-evaluativen Unterrichts. Zur pädagogischen Bedeutung der juristischen Auseinandersetzung um den Religionsunterricht, LER und Ethik. In: Gruehn, Sabine/Kluchert, Gerhard/Koinzer, Thomas (Hrsg.): Was Schule macht. Schule, Unterricht und Werteerziehung: theoretisch, historisch, empirisch. Weinheim: Beltz Verlag, S. 257-272.

-          Schluß, Henning/Götz-Guerlin Marcus: Was hat Religion mit Erfahrung zu tun? Die Religionsphilosophische Schulwoche als religiöse Kommunikation In: Pastoraltheologie 7/2003, S. 274-286.



[1] Damit sei der Wert von Partikularinteressen im Zusammenspiel einer öffentlichen Meinungsbildung nicht verkannt. Gleichwohl ließe sich aus dem Partikularinteresse in der demokratischen Gesellschaft jedoch lediglich eine Forderung nach religiöser Bildung eben für die Angehörigen jener „Partei“ ableiten. Im hier vorliegenden Kontext sollen Argumente untersucht werden, deren Geltungshorizont über diese einzelnen „Parteien“ hinausreicht.

[2] Mit dem Begriff der „pädagogischen Erfahrung“ lehne ich mich an einen Begriff Dietrich Benners (Benner 2004) an, der einen ähnlichen Zusammenhang im Begriff der „künstlichen Tradierung“ beschreibt. Die Kritik Johannes Bellmanns (vgl. Bellmann 2006) an diesem Begriff, nach der jede Tradierung künstlich sei, führt mich jedoch zur Formulierung der „pädagogisch vermittelten Erfahrung“.

[3] Anderes, wie die Frage nach der antifundamentalistischen Selbstaufklärung (These 1) bedürfte empirischer Untersuchungen.

[4] Konkrete Zahlen z.B. für Sachsen in: Hanisch/Kinder 2003 und Hanisch/Pollack 1997.

[5] Zumindest in der Fußnote sei noch kurz auf die Problematik der Authentizität eingegangen. Freilich ist es so, dass Authentizität allein kein hinreichendes Kriterium ist, sondern dass sie begleitet werden muss von anderen Kriterien verantwortlichen Lehrens. Der Einwand, dass die Erfahrung authentischer Teufelsanbeter und authentischer Scientologen an sich schon als pädagogische wertvoll eingeschätzt wird, eben weil es sich um authentische Begegnungen handelt, läuft dann ins Leere, wenn Pädagogen sich der möglichen Problematik eben solcher authentischer Begegnungen bewusst sind. Hier gilt wie in anderen Lehr-Lernprozessen auch, dass das Grundgesetzes und der Beutelsbacher Konsense der politischen Bildung zumindest eine Richtschnur unterrichtlichen Handelns weist. Hier kann sogar die Begegnung mit okkulten Gruppen und Jugendreligionen ihren Sinn haben, sofern sie pädagogisch verantwortlich aufgefangen und reflektiert (das bedeutet gleichwohl nicht neutralisiert) wird.