J. Henning Schluss

Der Diakonische Friedensdienst – Ein Experiment am Ende der DDR

Zeitzeugenbericht eines Dienstleistenden

 

Vorgeschichte

Überlegungen zu einem zivilen Ersatzdienst für den Militärdienst gab es in der DDR zugleich mit der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht 1961. Die DDR-Führung zeigte sich immerhin insofern kompromissbereit, als sie 1964 den so genannten „Bausoldatendienst“ einführte. Da dies jedoch lediglich ein direkt waffenloser Dienst im Rahmen und in der Uniform der NVA war, löste er für diejenigen Wehrpflichtigen, die jeglichen militärischen Dienst in der NVA ablehnten, das Problem nicht. So gab es immer Totalverweigerer, die bis in die 80er Jahre hinein zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. In der Mitte der 80er Jahre wurden die Totalverweigerer nicht mehr einberufen und so sparte sich die DDR die prestigeschädigende Verurteilung von Wehrdienstverweigerern.

 

Geschichte

Am Ende der 80er Jahre nahmen die Überlegungen zu einem zivilen Ersatzdienst innerhalb der Evangelischen Kirche konkretere Formen an. Die im Netzwerk von Totalverweigerern beobachtete Tendenz, Totalverweigerer nicht mehr einzuberufen, mag ein Auslöser für diesen konkreten Schritt gewesen sein, der dem Staat, ganz im Sinne einer konstruktiven „Kirche im Sozialismus“ (Heino Falcke) ein Angebot für diese Menschen unterbreiten sollte, die somit einen Dienst für diese Gesellschaft leisten konnten. Diese Überlegungen nahmen im Jungmännerwerk Sachsen-Anhalt konkrete Formen an. In Sondierungen mit der Diakonie, den Landeskirchen Anhalts und der Kirchenprovinz Sachsen wurde überlegt, ob man selbst nicht einen solchen Dienst quasi auf Probe einführen könnte. Den staatlichen Stellen sollte so gezeigt werden, dass die Totalverweigerer in Wirklichkeit auch ihren Dienst für die Gesellschaft leisten wollen. Auch unter ökonomischen Gesichtspunkten wäre es doch sinnvoll, wenn dieses Potential an jungen Menschen nicht verschenkt würde, sondern als billige Arbeitskräfte beispielsweise in chronisch unterbesetzten pflegerischen Hilfsdiensten genutzt würde. Damit ein solch’ verführerisches Angebot nicht nur ein Lippenbekenntnis blieb, sollten inoffiziell schon einmal Probeläufe mit diesem Modell gefahren werden, bevor man dem Staat in offiziellen Verhandlungen dieses Modell unterbreiten wollte. Man brauchte also einen Totalverweigerer, der sich auf solch einen inoffiziellen Zivildienst einließ. Das schien nicht leicht, schließlich brachte der ihm keinerlei Vorteile und schon gar keine Rechtssicherheit. Noch nicht einmal ein versuchsweiser Rechtsschutz seitens der Kirche wurde garantiert, dafür aber eine Hilfsarbeitertätigkeit zwanzig Monate zum Soldatensold. Die Dienstzeit war um zwei Monate länger als der Wehr- und Bausoldatendienst und sollte dokumentieren, dass die jungen Menschen diesen Dienst nicht aus Drückebergerei dem Wehrdienst vorzogen. Das ist schließlich eine Argumentation, die bis Juni diesen Jahres zur längeren Dauer des Zivildienstes auch in der Bundesrepublik bemüht wurde.

Relativ bald war ich an den Vorbereitungen für diesen Dienst beteiligt, die Rainer Sauerbier vom Jungmännerwerk in Magdeburg in die Wege leitete und koordinierte. Da ich in einem entsprechenden Alter war und den Wehrdienst verweigert hatte und selbst an der Etablierung eines zivilen Friedensdienstes interessiert war, wurde ich der erste – und schließlich auch letzte – Dienstleistende. Den Vertrag hatte ich selbst mit ausgearbeitet und später dann unterschrieben. Wenn man ihn heute mit etwas Abstand liest, ist es schon seltsam, wie ein solcher Vertrag, der dem Dienstleistenden keinerlei Rechte zusichert, nicht einmal die Zusage von Unterstützung in – wahrlich nicht unwahrscheinlichen – Konfliktfällen mit staatlichen Behörden, im Gegenzug aber einiges an Selbstverpflichtung enthält, überhaupt erstellt und auch noch unterschrieben werden konnte. Erklären lässt sich dies nur mit der ohnehin prekären Lage dieses ganzen Konstruktes. Da das ganze Vertragswerk auf der nach DDR-Recht illegalen Verweigerung des Dienstleistenden ruhte, gab es keine juristischen Mittel, die die Kirche zur Unterstützung des Dienstleistenden hätte einsetzen können. Andererseits gab es freilich immer Kanäle zwischen Kirche und Staat, die mehr oder weniger dunkel waren und die sicher auch hätten bemüht werden können, aber dies konnte man kaum als Vertragsgegenstand paraphieren.

Ein nicht uninteressantes Detail ist, dass an der juristischen Ausarbeitung und Prüfung des Vertrages der Magdeburger Oberkirchenrat Detlef Hammer beteiligt war, der nach der Wende und kurz nach seinem bis heute von Gerüchten umrankten Tod als Offizier im besonderen Einsatz enttarnt worden ist. Man darf also davon ausgehen, dass die Stasi über jedes Detail dieses inoffiziellen Vorhabens, über das auch ich nicht zuviel ausplaudern sollte, genauestens im Bilde war. Dennoch findet sich bei meinen Stasi-Akten kein Bezug zu diesem Dienst, nicht einmal ein Hinweis auf die Totalverweigerung.

Den Dienst selbst nahm ich in den Neinstedter Anstalten, einer großen Behinderteneinrichtung der Diakonie im Vorharz, auf. Ich lebte in einem Bauernhaus gemeinsam mit 17 geistig behinderten Männern. Aufgrund der akuten Personalnot war über lange Zeit neben mir nur noch die provisorische „Hausmutter“ im Betreuungsdienst. Das bedeutete, wenn einer von uns mal ein Wochenende frei haben wollte, musste der Andere notwendigerweise 48 Stunden arbeiten. Dies war keine Besonderheit, sondern war in anderen Einrichtungen der Diakonie nicht anders. Neben dem objektiven Arbeitskräftemangel gab es eben auch noch das diakonische Ethos: „Mein Lohn ist, dass ich dienen darf.“ Das wurde nicht nur stillschweigend vorausgesetzt, sondern war auch von vielen Mitarbeitern verinnerlicht. Trotzdem möchte ich die dort gemachten Erfahrungen nicht missen. Die Menschen haben mich, wie viele andere Zivildienstlistende auch, tief beeindruckt. Lange Zeit noch hielt ich den Kontakt, besuchte die Männer und wir schrieben uns Briefe.

 

Nachgeschichte

Mit der Wende wurde alles anders. Sehr schnell wurde in der Modrow-DDR ein regulärer Zivildienst eingeführt. Über die Einrichtung der Zivildienststellen sollten Zivildienstkommissionen entscheiden, die in den jeweiligen Kreisen gegründet wurden. Diesen Kommissionen sollten neben Vertretern der Kreisverwaltung auch Vertreter von relevanten gesellschaftlichen Institutionen, vor allem solchen, die selbst auch Zivildienststellen zur Verfügung stellen konnten, angehören. Aufgrund meiner einschlägigen Erfahrungen wurde ich der Vertreter der Evangelischen Kirche in diesem Gremium. Auf einer Sitzung wurde u.a. beraten, ob mein Diakonischer Friedensdienst als Zivildienst im Sinne des neuen Gesetzes zu werten sei. Die Kommission entschied einstimmig dafür mit einer Enthaltung, der meinen. Leider ließ ich mir keinen Protokollauszug darüber ausstellen. Denn kaum war die Vereinigung vollzogen, trat das Kreiswehrersatzamt in Wittenberg an mich heran und forderte mich zu Ableistung meines Wehrdienstes auf. Der Verweis auf meinen Diakonischen Friedensdienst interessierte die Offiziere nicht. Der Beschluss der Zivildienstkommission war nicht mehr aufzufinden, da sämtliche Protokollbücher der Kommission auf wundesame Weise verschwunden waren. So wäre ich fast noch in den zweifelhaften Genuss gekommen, meiner Dienstpflicht nun in der vereinigten Bundesrepublik zum zweiten Mal nachkommen zu dürfen. Lediglich ein Anachronismus im Wehrgesetz der BRD bewahrte mich davor. Zu diesem Zeitpunkt studierte ich bereits am Theologischen Seminar Paulinum in Berlin. Theologiestudierende sind aber, wie Feuerwehrleute und Lokführer, vom Militärdienst befreit. Vermutlich müssen diese Berufsgruppen im Fall des Falles andere kriegswichtige Dienste übernehmen.

 

J. Henning Schluß, Dr. phil., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Allgemeine Pädagogik, Unter den Linden 6, 10099 Berlin (Sitz: Geschwister-Scholl-Str. 7, Zi. 2.28.1) e-mail: henning.schluss@rz.hu-berlin.de, Internet: http://www.henning.schluss.de.vu