J. Henning Schluß www.henning.schluss.de.vu

Wie viel Theorie braucht der Ethik-Unterricht?

Plädoyer für eine reflexive Werteerziehung[1]

In: Die Deutsche Schule, 95. Jg. 4/2003, S. 420-428.

 

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Was meinen wir eigentlich, wenn wir davon reden, Werte und Normen vermitteln zu wollen? Was kann der Ethik-Unterricht zu diesem Vorhaben beitragen?

Dieser Frage werde ich mich in drei Schritten annähern. In einem ersten Schritt werde ich zwei unterschiedliche Perspektiven auf die mögliche Leistungsfähigkeit des Ethikunterrichtes vorstellen. In einem zweiten Schritt ziehe ich Konsequenzen für Konzeptionen eines Ethikunterrichts. In einem letzten Schritt beziehe ich diese Konsequenzen exemplarisch auf die Rahmenpläne des brandenburgischen Unterrichtsfaches LER.

1. Was kann der Ethikunterricht leisten? Zwei Perspektiven

Die Frage, was der Ethik-Unterricht leisten könne, ist vielfach gestellt und unterschiedlich beantwortet worden. Ottfried Höffe z.B. ist zuversichtlich, dass der Ethikunterricht auf den verfassten Menschenrechten basierend, die Grundlagen einer pluralen Demokratie zu legen in der Lage sei (vgl. Höffe 1995). Sehr skeptisch äußert sich Wolfgang Fischer, der mit einem vom platonischen Sokrates entlehnten Argument behauptet, dass Ethik, um lehrbar zu sein, Wissen sein müsse, denn nur dieses sei lehrbar. In seiner Interpretation des Dialogs „Protagoras“, kann aber gerade dies nicht erwiesen werden (vgl. Fischer 1996).

Damit trifft Fischer allerdings nicht ganz die Intention des platonischen Sokrates. Das Ende des Dialogs scheint eine Verkehrung der Ausgangssituation zu sein, in der der Sophist Protagoras die Lehrbarkeit der Tugend behauptete und Sokrates diese bezweifelte. Am Ende jedoch hat der platonische Sokrates nachgewiesen, dass jede Tugend Wissen enthält, gleichwohl aber mehr ist als dieses Wissen. Dieser Wissensanteil der Tugend kann gelernt werden. Was Tugend mehr ist als Wissen, das wird in dem Dialog nicht geklärt. Tugend hat nach Platon somit eine enge Beziehung zum Wissen und kann (nur) insofern gelehrt und gelernt werden. Ein solches Lernen, wie auch das Lernen von verfassten Menschenrechten (Höffe), führt jedoch nicht zwangsläufig dazu, dass Menschen auch tugendhaft werden. Die Schulgesetze nahezu aller Bundesländer sind sich darin einig, dass dies was sich etwas altertümlich als „tugendhaft werden“ beschreiben lässt, Aufgabe schulischer Erziehung ist. Bei der Beantwortung der Frage, wie kann die Schule dazu beitragen, dass die Heranwachsenden tugendhaft werden, wie kann sie Werte vermitteln, so dass sie mehr als ein „Magazin von Ideen“ (Schleiermacher) sind, tragen die Überlegungen Höffes wie Fischers wenig bei. Das Feld dieser Untersuchung möchte ich mit zwei anderen Antipoden begrenzen, den Positionen Robert Spaemanns und Gertrud Nunner-Winklers.

1.1 Die Perspektive Robert Spaemanns

Robert Spaemann, der Münchner (nunmehr emeritierte) Moralphilosoph ist in der Erziehungswissenschaft spätestens durch sein Engagement für das Bonner Forum „Mut zur Erziehung“ bekannt. Er sieht den Sinn philosophischer Ethik überhaupt und damit auch des schulischen Ethik-Unterrichts darin, gegen gesellschaftliches „Vernünfteln“ zu immunisieren und stattdessen zu der gleichsam naturgegebenen moralischen Intuition des Menschen zurückzukehren. Freilich geht auch dieses ‚Freilegen der Natur’ nicht ohne Vernunft ab.

„Philosophische Ethik hat danach den Sinn, unsere ursprüngliche sittliche Intuition gegen dieses ‚Vernünfteln’ in ihrer Reinheit wiederherzustellen, indem sie den Grund dieser Intuition sichtbar macht und die Haltlosigkeit der gegen sie vorgebrachten Argumente argumentativ aufweist. Dies und nur dies kann auch der Sinn des Ethikunterrichts in der Schule sein. Es kann in ihm nicht darum gehen, ein kleines Repertoire an Kenntnissen über ethische Systeme zu vermitteln, das eine Konversation über ethische Fragen bereichern und die Orientierungslosigkeit auf ein höheres argumentatives Niveau heben kann. Es geht um die Vermittlung von Orientierungswissen“ (Spaemann 1993, S. 349).

Spaemann wendet sich so explizit gegen einen theoretischen Ethikunterricht, der ethische Modelle diskutiert, und plädiert für einen Ethikunterricht, der alte Klarheiten normativ neu vermittelt.

Spaemann meint, nur so könne der Ethikunterricht das leisten, was früher Aufgabe des Literaturunterrichts gewesen sei, als er noch „bildend“ war. Damals hätte er noch „die Freude an der Lektüre gesteigert“, heute jedoch sind „historische Verfremdung und wissenschaftliche Vergegenständlichung von Texten nicht Durchgangsstadium, sondern Zweck des Literaturunterrichts“ (a.a.O. S. 350). So bleibe der Text „beherrschter Gegenstand“ und verändere nicht den Leser. Spaemanns Prognose für den Ethikunterricht lautet deshalb; dieser sei „in Gefahr, denselben Weg zu gehen. In diesem Fall allerdings wäre er nicht nur überflüssig, sondern schädlich“ (a.a.O. S. 351).

1.2 Die Perspektive Gertrud Nunner-Winklers

Die Bielefelder Politologin Gertrud Nunner-Winkler, die auch für das Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung die Forschergruppe Moralforschung leitet, forscht seit Jahrzehnten zu diesem Thema. Für Nunner-Winkler (vgl. Nunner-Winkler 1993) ist moralisches Lernen kein homogener Vorgang, sondern es umfasst zwei zu differenzierende Momente:

a) kognitives Lernen: Kinder müssen wissen, welche Normen Gültigkeit haben und warum sie gelten.

b) motivationales Lernen: Kinder müssen lernen, die Normen nicht nur zu kennen, sondern auch befolgen zu wollen.

Der in jüngerer Zeit vielleicht einflussreichste Moraltheoretiker Lawrence Kohlberg gehe davon aus, dass beide Momente gleichzeitig erworben werden und Kinder Kenntnis und Wollen systematisch und gleichsinnig veränderten.[2] Auf der Stufe konventioneller Moral handelten die Kinder aus Angst vor Strafe moralisch, auf der höchsten Stufe erkennen die Menschen die universelle Begründungsfähigkeit von Normen.

Empirische Forschungen konnten zeigen, so Nunner-Winkler, dass die Annahmen Kohlbergs über die Gleichsinnigkeit der Entwicklung von Kenntnis und Motivation nicht zutreffen (vgl. Turiel 1983).

„Es zeigte sich, dass die Kinder sehr klar unterscheiden zwischen Normen, die zu allen Zeiten und in allen Kulturen eine unbedingte, von Sanktionen und Autoritäten unabhängige Gültigkeit besitzen; Man darf ein anderes Kind nicht schlagen, auch wenn der Vater/der Direktor/der König er erlauben – nicht einmal Gott dürfte das tun oder erlauben. Hingegen darf man Spaghetti mit den Fingern essen, wenn dies in einem Lande Brauch ist; man darf dies allerdings nicht tun, wenn es Sitte ist, Besteck zu verwenden. Wer Spielregeln missachtet, spielt einfach ein anderes Spiel, und wer Klugheitsregeln nicht befolgt, der schadet sich selbst. Während also Spiel- und Klugheitsregeln der individuellen Entscheidungsfreiheit und dem Selbstinteresse anheim gestellt sind, verstehen bereits kleine Kinder: Es ist verboten, einen anderen zu schlagen, weil dies weh tut, oder ihn zu bestehlen, weil der Verlust ihn betrübt“ (Nunner-Winkler 1993, S. 106).

Aber selbst dieses Wissen und das Wissen um die Regelbegründung, die sich mit Kohlbergs Stufentheorie nicht in Übereinstimmung bringen lässt, ist noch nicht Garant dafür, dass Personen sich auch tatsächlich moralisch verhalten! Nunner-Winkler nennt vier Modelle, die Erklärungen dafür anbieten, wie es zum Einhalten moralischer Normen komme:

(1.)  Das Konditionierungsmodell: Normen gelten, sofern sie durch Sanktionen gesichert sind. (frühe Kohlberg-Stufen, Tierversuch)

(2.)  Das Über-Ich-Modell: Das Individuum verinnerlicht ursprünglich extern gesetzte Normen. (Freud erklärte dies Phänomen der Gewissensbildung mit dem Ödipuskomplex, in dessen Prozess die Normen des Vaters übernommen werden.)

(3.)  Das Modell der Triebüberformung: „Das Kind antwortet mit affektiver Besetzung auf Menschen, die seine primären Bedürfnisse (Nahrung, Wärme) befriedigen; damit ist es hinfort nicht nur auf physische Versorgungsleistung verwiesen, sondern hat sich auch von der affektiven Zuwendung der Bezugspersonen abhängig gemacht. Um diese nicht zu verlieren, ist es bereit, ihre normativen Erwartungen so zu übernehmen, dass deren Erfüllung zum persönlichen Bedürfnis, zur ‚Bedürfnisdisposition’ wird“ (a.a.O. S. 108). Zentrales aber nicht notwendigerweise bewusstes Motiv dieser Übernahme ist der drohende Liebesentzug.

(4.)  Das Modell freiwilliger Selbstbindung aus Einsicht.

Nunner-Winkler fand in Überprüfungen aller vier Sozialisationsmodelle empirische Belege für deren Wirksamkeit (vgl. a.a.O. S. 114f.). Allerdings ist im Lichte der herkömmlichen Theorien moralischer Sozialisation von Freud bis Kohlberg überraschend und nicht erklärbar, dass der Typus moralischer Motivation qua Einsicht bereits in der Kindheit empirisch nachweisbar ist. Dieses Modell gewinne in Zukunft sogar noch erheblich an Bedeutung, so Nunner-Winklers Prognose. Das liege unter anderem daran, dass in der Moderne die Wirkungskraft der anderen Motivationsmodelle abnähme. Das kann am Freudschen Über-Ich-Modell leicht verdeutlicht werden.

Die Übernahme der moralischen Disposition des Kindes (Jungen) vom Vater funktioniert nur, wenn es diesen strengen autoritären Vater gibt, in dessen Rolle sich der kleine Junge hineinversetzt, um sich seiner zu erwehren und die Mutter zu besitzen. Dieses Familienmodell geht jedoch seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts zurück. Gleiches gilt auch für das Konditionierungsmodell, das an die Furcht vor harten Sanktionen gekoppelt ist und auch für das Es-Überformungsmodell, weil die immer offeneren Familienstrukturen die Furcht vor Liebesentzug, die in ökonomisch begründeten Familiengründungen hoch relevant war, in ihrer Bedeutung verringern.

Was bedeutet dies für einen Ethik-Unterricht? Der Ethikunterricht, das haben die Untersuchungen gezeigt, kann nicht die Werte und Gebote allererst vermitteln. Vielmehr lesen Kinder am „Leben ihrer Eltern und Erzieher ab, welche Werte in ihrer Kultur Verbindlichkeit besitzen“ (a.a.O., S. 122). „Der Unterricht kann dazu beitragen, dass solch implizites Lernen reflexiv eingeholt werden kann und dass Individuen bewusst und an moralischen Prinzipien orientiert zu den kulturellen Vorgaben Stellung zu nehmen lernen“ (ebd.).

Zusammenfassend seien beide Positionen pointiert:

·       Spaemann will im Ethikunterricht die Werte selbst vermitteln. Theoretisches und wissenschaftliches Herangehen sei dabei nicht nur hinderlich, sondern würde den gesamten Unterricht wertlos machen, da er die „Orientierungslosigkeit nur auf ein höheres Niveau hebt“. Zugespitzt geht es ihm um eine unwissenschaftliche, unhinterfragte Vermittlung von Grundwerten, die für die moralische Bildung demokratischer Gemeinschaften unerlässlich sei. Dazu gehört, noch vor der Toleranz gegen andere Überzeugungen, eine eigene Überzeugung zu haben. Denn nur wer eine eigene Überzeugung habe, wisse, was eine Überzeugung ist und sei überhaupt in der Lage, gegen andere Überzeugungen, die dann notwendigerweise für falsch gehalten werden müssen, tolerant zu sein. Diese Toleranz muss freilich die Toleranz gegen Praktiken wie Folter ausschließen. All dies sei im Ethik-Unterricht zu vermitteln.

·       Anders als Spaemann geht Nunner-Winkler nicht davon aus, dass in der Umwelt des Kindes nur Orientierungslosigkeit herrscht. Vielmehr werden in der Umwelt die Normen und Werte vermittelt. Eine solche Wertvermittlung geschieht durch unsere primäre und sekundäre Umwelt. Durch beide erhalten wir auch Anreize, uns entsprechend dieser Normen und Werte zu verhalten. Die Aufgabe eines Ethik-Unterrichts sieht Nunner-Winkler in einem Beitrag, dieses implizite Lernen reflexiv einzuholen, so dass Individuen sich bewusst an moralischen Prinzipien orientieren und sie zu den kulturellen Vorgaben Stellung nehmen.

2. Welchen Ethikunterricht brauchen wir?

Im Folgenden werde ich versuchen, Schlussfolgerungen aus den vorgestellten zwei Konzepten zu ziehen.

(1.)  Schon allein aufgrund der Tatsache, dass Ethikunterricht, wenn er denn überhaupt erteilt wird, einen nur geringen Stundenumfang hat, ist die Forderung von Spaemann nach einer Initiation in die geltenden Werte und Normen der Gesellschaft utopisch und sinnlos.

In seiner Ablehnung der wissenschaftlichen Methode für diese basale Wertevermittlung trifft Spaemann dabei jedoch einen wichtigen Punkt: Die Initiation in die Werte und Normen erfolgt nicht über wissenschaftliches Wissen oder theoriegeleitete Diskussion, sondern sie erfolgt implizit durch alltäglichen Umgang. Dabei wirken verschiedenste Faktoren (vgl. Oser/Althof 1993, die versuchen, die Möglichkeit von Erziehung angesichts der Individuum-Umwelt-Verschränkung aufzuhellen). Sie erfolgt in erster Linie vor- und außerschulisch in den primären Bezugsgruppen, z.B. im Elternhaus. Erst in zweiter Linie werden innerschulisch Werte vermittelt. Innerschulisch ist jedoch nicht gleichbedeutend mit unterrichtlich, denn auch in der Schule erfolgt die Initiation in die gängigen Werte und Normen implizit, d.h. durch die Geltung und Befolgung dieser Werte. Da SchülerInnen einen beträchtlichen Teil ihrer Tageszeit in der Schule verbringen, ist die Wirkung des Sozialisationsorts Schule kaum zu unterschätzen. Schule ist ein bedeutender Ort sekundärer Sozialisation. Da gilt Siegfried Bernfelds markantes Wort: „Die Schule als Institution erzieht“. Insofern kann also auch der Unterricht Werte vermitteln, jedoch nur und insofern er implizit wirkt. Diese implizite Funktion wird jedoch (zu recht) nicht als die Hauptaufgabe von Unterricht betrachtet. Die Konzentration auf die explizite Funktion des Unterrichts – die Wissensvermittlung – führt jedoch häufig dazu, dass die implizite Funktion der Wertevermittlung keine Beachtung erfährt.

(2.)  Mit der Beschreibung der Wirksamkeit des sekundären Sozialisationsorts Schule für die Wertevermittlung ist es deshalb nicht getan. Wenn, wie gezeigt, Schule ohnehin und unabhängig davon, ob ihr diese Aufgabe zugeschrieben wird, ein wichtiger Ort sekundärer Sozialisation ist, so muss sie dies nicht nur über sich ergehen lassen, sondern diesbezüglich gestaltend agieren.[3] Aus der Deskription resultiert so die Beschreibung einer Norm.[4] Schule muss sich dieser Aufgabe bewusst sein.[5] Manche Bildungspolitiker sind nach den PISA-Ergebnissen für diese Aufgabe vielleicht etwas sensibeler geworden. Der Titel dieser Veranstaltung, der sich auf das „Schulsystem der Aussonderung“ bezieht, macht die Problematik deutlich. Durch das Dreiklassenschulrecht wird den SchülerInnen auf Haupt- und auf Realschulen implizit die Botschaft vermittelt, keine Gymnasiasten zu sein. Diese Botschaft ist so stark, dass sie kaum anderweitig zu kompensieren ist.

(3.)  Ethikunterricht kann den SchülerInnen nicht gegen den ständigen Druck anderer Sozialisationsfaktoren und erlebter Wertsetzungen konträre Werte und Normen vermitteln. Das Problem, wie Erziehung innerhalb einer (desolaten) Gesellschaft überhaupt gelingen könne, bewegt die Pädagogik der Moderne von ihren Anfängen an. Rousseau konnte sich deshalb die Erziehung seines Zöglings nur außerhalb der Gesellschaft denken. Viele Reformpädagogen folgten ihm darin. Von diesen pädagogischen Theoretikern und Praktikern wurde die Macht des gesellschaftlichen Einflusses sehr sensibel wahrgenommen. Die Lösung des Problems durch Isolation – die Schaffung von pädagogischen Inseln – überzeugt als Generallösung dagegen kaum. Verschärft wird das Problem dann, wenn Schulen selbst im Kontakt zur Gesellschaft stehen und so auch keine autarken pädagogischen Inseln sind, sondern selbst (ungewollt) zu Orten der impliziten gesellschaftlichen Norm- und Wertvermittlung werden, wie das Beispiel des dreiteiligen Schulsystems zeigt. Dass es beinahe unmöglich ist, diese Einflüsse aus Schulen fern zu halten, zeigt das Beispiel der Schuluniformen. Diese werden häufig mit der angestrebten Egalität der SchülerInnen begründet. Faktisch zeigt sich jedoch, dass die SchülerInnen immer Wege finden, die Statusunterschiede trotz Uniformzwang zum Ausdruck zu bringen. Wege der pädagogischen Isolation scheinen demnach bestenfalls in pädagogischen Grenzsituationen angemessen zu sein.

Wenn also SchülerInnen alltäglich ihre Zweit- und Drittklassigkeit vor Augen gehalten wird, dann steht ein Ethik-Unterricht auf relativ tönernen Füßen, der die Gleichheit aller als Wert verkündigen möchte. Gleiches gilt im für den konfessionellen Religionsunterricht, an den identische Erwartungen geknüpft werden, die gleichermaßen illusorisch sind. Zugespitzt formuliert sollen diese zwei Schulstunden in der Woche, die „Umwertung aller Werte“ leisten, die die SchülerInnen alltäglich erfahren. Anders als Nietzsche dies aber dachte, sollen nicht die konventionellen Werte umgewertet werden, sondern die implizit geltenden, den offiziellen Konventionen gleichwohl widersprechenden, sollen ins konventionelle Maß zurückgebogen werden.

(4.)  Was kann aber ein Ethik-Unterricht in seiner expliziten Funktion dann leisten? Er kann genau das leisten, wovor Spaemann gewarnt hat. Spaemann fürchtete, ein Ethikunterricht der sich auf Wissensvermittlung konzentriert, würde die Orientierungslosigkeit nur auf ein argumentativ höheres Niveau heben. Seine Alternative einer normativen Wertevermittlung durch Unterricht verfehlt jedoch das Proprium jeglichen Unterrichts der Moderne, die Vermittlung von Wissen. Diese Wissensvermittlung zielt im Chemie-, im Mathematik- und im Ethikunterricht darauf, reflexiv verarbeitet zu werden. Insofern kann die Vermittlung ethischer Konzepte zur Reflexion anregen. Beispiel einer Wertereflexion könnte eine Einsicht in die eben geschilderten Mechanismen sein. Das implizit gelernte kann im Unterricht reflexiv eingeholt werden. Nur so können sich Individuen zu dem implizit gelernten überhaupt verhalten. Nur so wird es überhaupt als implizit gelerntes sichtbar und bewusst! Dazu ist jedoch nicht die Abstinenz von Wissenschaft anzuraten, sondern die Wissenschaftsorientierung die in den anderen Fächern längst Einzug gehalten hat, ist hier notwendiger denn je. „Ethik“ als theoriefreie Wärme- und Kuschelstube stabilisiert ein „Schulsystem der Aussonderung“ eher, als das es dieses desavouiert.

Der Ethikunterricht und seine angeblichen ‚funktionalen Äquivalente’ LER und konfessioneller RU können aus den dargestellten Gründen die gesellschaftlichen Defizite nicht kompensieren. Mit dieser Erwartung wird der Unterricht überfordert. Diese Überforderung spiegelt sich auch immer wieder in Nachfragen der Öffentlichkeit z. B. nach den Ereignissen von Erfurt, ob die Schule hier versagt hätte. Ein einzelnes Fach kann nicht die primäre und sekundäre implizite Wertesozialisation negieren und durch eine andere, ‚schönere’, ersetzen. Vorstellungen die dies zum Ziel haben folgen noch dem Lernkonzept des „Nürnberger Trichters“, wie fortschrittlich auch immer sie sich geben. Da diese Forderungen aber weit verbreitet sind, leiden nicht zuletzt viele LehrerInnen daran, dass sie ihrem Erziehungsauftrag nicht genügen würden und können doch gar nicht leisten, was von Ihnen gefordert wird.

Was sie allerdings leisten können ist das, was auch in anderen Fächern von LehrerInnen erwartet wird, die Vermittlung von reflexivem Wissen. Im Fach Ethik handelt es sich dabei um reflexives Wissen über Ethik, also über die Vielfalt von Normen und Werten und Möglichkeiten ihrer Begründung und Hierarchisierung im Konfliktfall. Anders als Spaemann vermutet, wird so nicht die „Orientierungslosigkeit auf ein höheres argumentatives Niveau gehoben“, sondern die immer schon implizit vermittelten Orientierungen werden als solche allererst entschlüsselbar und somit wird die Möglichkeit eröffnet, sich zu ihnen bewusst zu verhalten.

3. Vier Folgerungen für LER

Die Folgerungen die im Folgenden für das brandenburgische Schulfach LER exemplarisch gezogen werden, können sinngemäß auch für den Ethik- oder Normen und Werte Unterricht anderer Länder gelten. Die Aussagen stützen sich weniger auf die Praxis des Unterrichts als auf die kriteriengeleitete Analyse der Lehrplanentwicklung des Faches LER und sind insofern in ihrer Reichweite begrenzt (vgl. Schluß 2003).[6]

(1.)  In den ersten konzeptionellen Papieren zum Modellversuch wurde 1993 noch festgehalten, LER sei der Vorreiter einer generellen Schulreform in Brandenburg (vgl. PLIB 1993). Von diesem ursprünglichen Konzept ist heute nicht mehr viel übrig. Viel mehr ist umgekehrt LER zum normalen Schulfach geworden. LER ist Regelfach wie der konfessionelle Religionsunterricht in anderen Ländern, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Gerade diese generelle Schulreform wäre aber notwendig gewesen, wenn LER nicht die Alibi- und Lückenbüßerfunktion, einer „sozialen Stunde“ im ansonst asozialen Schulalltag hätte übernehmen sollen.

(2.)  In den ersten LER-Rahmenplänen, den „Hinweisen zum Unterricht“ von 1994, wurde die soziale Situation der Jugendlichen der Wendezeit als desaströs beschrieben. Solch eine negative Diagnose legt eine Kompensationsfunktion von LER gefährlich nahe. Kompensation gesellschaftlicher Schäden ist jedoch etwas, das der Unterricht, wie gezeigt, nur sehr begrenzt leisten kann.

(3.)  In den LER-Rahmenplänen und im Begleitmaterial drückt sich ein problematisches Verhältnis zur Wissenschaft aus. Wissenschaften erscheinen in den LER-Plänen der ersten, zweiten und dritten Generation nicht als selbst zu problematisierender Weltzugang, sondern sie verbürgen gleichsam die objektive Erkenntnis der Welt. Eine solche Darstellung der Wissenschaft verkennt die Perspektivität des wissenschaftlichen Blicks. Auch Wissenschaften können die Welt nicht erkennen, wie sie für sich ist, sondern nur so, wie sie für uns erscheint. Die LER-Pläne legen so gerade aufgrund ihrer Distanz zur Wissenschaft ein Wissenschaftsbild nahe, in dem Wissenschaftlichkeit für Wahrheit steht. Den anderen Dimensionen von LER – dem ethischen, religiösen und lebenskundlichem Gebiet – wird diese Perspektivität ausdrücklich zugesprochen. So entsteht eine merkwürdige Schieflage zugunsten der gleichsam überperspektivischen und objektiven Wissenschaft.

(4.)  Der gültige LER-Rahmenplan sieht keine obligatorische Behandlung des Christentums vor. Das ist insofern widersprüchlich, als LER laut Selbstaussage, in die Traditionen der abendländischen Kultur einführen will. Somit ist es jedoch theoretisch (und wie empirische Untersuchungen nachweisen leider auch praktisch – vgl. Leschinsky/Gruehn 2001, dies.: 2002) möglich, die wirkmächtigsten Begründungsmuster unserer Werte und Normen nicht zu thematisieren. Insofern jedoch nicht in diese Begründungsmuster eingeführt wird, ist auch ein reflexiver Umgang mit ihnen nicht möglich. D.h. die eigentliche Chance von LER (Ethik), die Begründungsmodelle von Normen und Werten offen zu legen, damit sich SchülerInnen selbst zu deren Beachtung verpflichten können, kann gar nicht erfüllt werden. Nunner-Winkler wies darauf hin, dass dies in der Moderne deshalb umso wichtiger wird, weil die anderen Mechanismen der Wertbindung durch Konditionierung und Über-Ich und Es-Formung an Bedeutung verlieren. Die reflexive Selbstbindung an Werte und Normen fordert nämlich nicht nur die Kenntnis dieser Werte und Normen (diese wird implizit vermittelt), sondern auch die Kenntnis ihrer Hintergründe. Die Vermittlung der Hintergrundkenntnis geschieht zunehmend jedoch nicht mehr familiär, ist aber etwas, das schulisch leistbar wäre, weil die Kenntnisvermittlung sogar ins traditionelle schulische Profil passt. Über die Kenntnisvermittlung hinaus ist es Aufgabe der Schule und von LER, diese Kenntnisse reflexiv zu wenden. Für diesen zweiten Schritt finden sich in den Rahmenplänen von LER sehr beachtliche Ansätze. Dieser zweite Schritt bleibt ohne den ersten jedoch in einer eigentümlichen Schieflage.

Literatur

Colby, Ann / Kohlberg, Lawrence 1986: Das moralische Urteil: Der kognitionszentrierte entwicklungspsychologische Ansatz. In: Bertram, Hans (Hg.): Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie. Suhrkamp, Frankfurt, S. 130-162

Fischer, Wolfgang 1996: Ist Ethik lehrbar? In: Zeitschrift für Pädagogik 42. Jg. 1/1996, S. 17-30

Gabino, James / Bronfenbrenner, Urie 1986: Die Sozialisation von moralischem Urteil und Verhalten aus interkultureller Sicht. In: Bertram, Hans (Hg.): Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie. Suhrkamp, Frankfurt, S. 258-288

Höffe, Ottfried 1995: Ethikunterricht in der pluralistischen Demokratie. In: Treml, Alfred (Hg): Ethik macht Schule. Diesterweg, Frankfurt a.M., S. 30-34

Leschinsky, Achim / Gruehn, Sabine 2001: LER – eine Reforminitiative auf dem Weg zu einer realitätsgerechten Aufgabenstellung. In: Neue Sammlung 41. Jg., S. 372-392

Leschinsky, Achim / Gruehn, Sabine 2002: Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde - Ein notwendiger Reformversuch unterwegs. In: Auer, Karl Heinz (Hg.): Ethikunterricht - Standortbestimmung und Perspektiven. Tyrolia-Verlag, Innsbruck-Wien, S. 145-165

Nunner-Winkler, Gertrud 1993: Zur moralischen Sozialisation. In: Herbert Huber (Hg.): Sittliche Bildung – Ethik in Erziehung und Unterricht. MUT-Verlag, Asendorf, S. 105-127

Oser, Fritz/Althof, Wolfgang 1986: Der moralische Kontext als Sumpfbeet möglicher Entwicklung: Erziehung angesichts der Individuum-Umwelt-Verschränkung. In: Bertram, Hans (Hg.): Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie. Suhrkamp, Frankfurt, S. 322-357

PLIB 1993: Werkstattheft LER. Ludwigsfelde

Schluß, J. Henning 2003: Lehrplanentwicklung in den neuen Ländern – Nachholende Modernisierung oder reflexive Transformation? Wochenschauverlag Schwalbach/Ts.

Spaemann, Robert 1993: Zum Sinn des Ethikunterrichts. In: Herbert Huber (Hg.): Sittliche Bildung – Ethik in Erziehung und Unterricht. MUT-Verlag, Asendorf, S. 349-362

Turiel, Elliot 1983: The development of social Knowledge. Morality and convention. Cambridge University Press, Cambridge

 

J. Henning Schluß, geb. 1968, Wissenschaftlicher Assistent an der Abt. für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin

Institut für Allgemeine Pädagogik, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin,

Sitz: Geschwister-Scholl-Str. 7.

Email: henning.schluss@rz.hu-berlin.de

 

 


Inhalt

J. Henning Schluß         
Wie viel Theorie braucht der Ethik-Unterricht?         
Plädoyer für eine reflexive Werterziehung           

In Auseinandersetzung mit Beiträgen von G. Nunner-Winkler und R. Spaemann wird eine Position erarbeitet, die sowohl daran festhält, dass der Ethikunterricht mit der Aufgabe eines Reparaturbetriebs moralischer Missstände der Gesellschaft überfordert ist, als auch sieht, dass Schule wertevermittelnd wirkt. Unterrichtlich kann dies nur durch eine reflexive (theoriegestützte) Aufklärung ethischer Problemzusammenhänge gelingen.

 

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[1] Dieser Text ist das überarbeitete Manuskript eines Vortrages, der im November 2002 auf dem Kreuzberger Bildungsforum: „Ethik und Erziehung, Gerechtigkeit in einem Schulsystem der Aussonderung“ gehalten wurde.

[2] In seinen neueren Veröffentlichungen ist sich Kohlberg dieser Problematik freilich bewusst. Er begründet seine enge Verknüpfung von Kenntnis und Handlungsabsicht mit Ergebnissen von empirischen Untersuchungen, die eine Korrelation beider nachweisen könnten (vgl. Colby/Kohlberg 1986).

      Im gleichen Band wie der Kohlberg Aufsatz selbst findet sich eine konstruktive Kritik am Kohlbergschen Ansatz, der sich auf die behauptete Universalität der einlinigen Entwicklungsrichtung der sechs Stufen moralischer Entwicklung bezieht. Gabino/Bronfenbrenner schlagen stattdessen vor, auf dem mittleren Niveau der moralischen Entwicklung die Stufen zwei bis vier zu versammeln. Sie heißen hier „Autoritätsorientierung, Orientierung an Gleichaltrigen, Orientierung an Gemeinschaft“. Anders als die Stufen Kohlbergs, sind die Bronfenbrennerschen Typen in der Reihenfolge nicht statisch, sondern flexibel gedacht. Je nach sozialer Umwelt kann nach Typ eins, der reinen „Selbstorientierung“, der Typ zwei bis vier folgen. Die Kohlbergschen Stufen fünf und sechs sind bei Bronfenbrenner zu einem Niveau zusammengefasst, zur „Orientierung an Objektivität“. Dessen erreichen stellt wiederum, wie auch der Wechsel von Niveau eins zu zwei, einen unumkehrbaren Entwicklungsschritt dar. Im Vergleich mit dem starren und gegen kulturelle Differenzen unsensiblen Kohlbergschen Stufenmodell stellt das Bronfenbrennersche Typenmodell eine Erklärungsgrundlage dar, die auch Phänomene von differenten Abfolgen der Typen zwei bis vier erklären kann (vgl. Gabino/Bronfenbrenner 1986).

[3] Wenn überhaupt, dann haben hier die in den Präambeln der Landesschulgesetze so zahlreich versammelten Erziehungsziele ihren Ort.

[4] Gleichwohl ist dies kein so genannter „naturalistischer Fehlschluss“ denn dieser besagt, dass die Deskription die Inhalte der Präskription vorgibt. Dies ist hier nicht gemeint. Vielmehr macht die Beschreibung der wertinitialisierenden Wirkung der Institution darauf aufmerksam, dass positiv (d.i. aktiv) über Normsetzungen nachgedacht werden muss, die initialisiert werden.

[5] Mit „Schule“ ist die Institution gemeint. Eine Institution kann freilich kein Bewusstsein haben. Dies haben nur die in Institutionen handelnden Subjekte. Wie ist der Widerspruch aufzulösen? Gemeint ist, dass Schule als Institution mehr ist, als ihre LehrerInnen. Es geht also nicht nur um eine wohlfeile Ermahnung an LehrerInnen, sondern mit angesprochen sind Fragen der Schulorganisation, selbst des Zustandes der Toiletten oder des Umgangs der SchülerInnen untereinander.

[6] An dieser Stelle konzentriere ich mich auf einige Kritiken am Fach und an den Rahmenplänen. Die Stärken habe ich am angegebenen Ort ebenso thematisiert.