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Von Zauberlehrlingen und Hexenmeistern

Ein Kommentar zur deutschen Schulwirklichkeit im Allgemeinen und zum Streit um LER im Besonderen.

 

In: Ethik und Unterricht (E & U) 4/2002, S. 46-48.

 

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Der Vergleichsvorschlag des Bundesverfassungsgerichtes zu Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde, dem brandenburgischen Pflichtfach auf ethischem Gebiet, hat die bundesdeutsche Bildungslandschaft erheblich durcheinander gebracht. Kaum einer der etablierten Experten hatte erwartet, dass das Land sich mit seinem Konzept fast auf ganzer Linie würde durchsetzen können. Die selbstgewissen Kirchen wollten den bundesdeutschen Status Quo, eine Privilegierung des Religionsunterrichtes nach Artikel 7,3 GG, auch in Brandenburg etablieren. Dazu suchten sie Eltern, die in ihrem Auftrag gegen LER klagten. Siegesgewiss zogen sie dann zur Anhörung vor das Bundesverfassungsgericht.

Nun ist die Lage eine andere. Brandenburgs Parlament verabschiedete jüngst die nötigen Änderungen, um dem Vergleichsvorschlag des Gerichts zu entsprechen.[1] Die Evangelische Kirchenleitung sah ihre Felle davonschwimmen und änderte flugs die Taktik. Mit ihrem Beharren auf der Forderung nach Religionsunterricht und dem Drohen mit der juristischen Keule verspielte sie bei der brandenburgischen Bevölkerung, die zu mehr als 80 Prozent konfessionslos ist, viel von dem Kredit, den sie sich in der Wendezeit erworben hatte. Kirche wurde jetzt selbst von vielen ihr nahe stehenden Brandenburgern als eine machtbewusste Institution wahrgenommen, die ihnen fremd war. Die Nähe von Staat und Kirche im bundesrepublikanischen System ist vielen gelernten DDR-Bürgern, auch und gerade den Kirchenmitgliedern, suspekt geblieben. Nicht von ungefähr gilt der Militärseelsorgevertrag nur eingeschränkt für die ostdeutschen Landeskirchen.

Konnte sich die westdeutsch dominierte Evangelische Landeskirche von Berlin und Brandenburg bislang zwar nicht der Unterstützung der Bevölkerung, auch nicht der Kirchenmitglieder in Brandenburg sicher sein, so vertraute sie doch mit der überwältigenden Mehrheit der Experten auf die alte Nähe von Staat und Kirche und auf ein entsprechendes Urteil des Verfassungsgerichts. Der Vergleichsvorschlag riss die Evangelische Landeskirche aus alten staatskirchlichen Träumen und versetzte sie jäh in die säkulare Realität Berlin-Brandenburgs. Auch die Landesregierung hatte nicht ernsthaft mit einer solchen Bestätigung durch das höchste deutsche Gericht gerechnet. Lediglich einige Änderungen, die zum größten Teil schon im Schulgesetz enthalten waren, wurden ihnen auferlegt. Die wichtigste Änderung bestand in der Vereinfachung der Abmelderegelung von LER. Nach dem Brandenburgischen Regierungsvorschlag können nunmehr die Eltern oder die über 14-jährigen Schülerinnen und Schüler selbst sich abmelden, indem sie einen einfachen Zettel ausfüllen. Dieses Prozedere ist dem bei der Abmeldung vom Religionsunterricht in den alten Bundesländern vergleichbar, nur dass es unter umgekehrtem Vorzeichen steht.

Die Kirche hatte die Wahl, sich endgültig zum dummen August zu machen, indem sie die Auseinandersetzung verbissen fortführte, oder den Vergleichsvorschlag zu akzeptieren. Sie hat sich für Letzteres entschieden. Nun ergibt sich für sie jedoch ein neues Problem. Die Eltern, die von ihr zur Klage gegen LER rekrutiert worden waren, erweisen sich nicht als die willfährigen Marionetten, auf die man gesetzt hatte. Einige von ihnen wollen nicht von der Klage lassen, und selbst begleitende Maßnahmen wie das Abholen von der Arbeit, das  Hinzitieren vor den Bischof und der dezente Verweis auf das Beschäftigungsverhältnis bei kirchlichen Einrichtungen haben bei manchen der Kläger nicht die erwartete Wirkung gezeigt. Die kannten solche Praxen noch aus anderen Zeiten, hatten sie allerdings nicht von der Kirchenleitung erwartet. Einige der klagenden Eltern halten weiter an der Klage fest und wollen sich nicht auf den Vergleichsvorschlag einlassen. Die Kirche findet sich in der Situation des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nun nicht mehr loswird.

Allerdings ist, anders als in Goethes Ballade, kein Hexenmeister in Sicht, der die Geister wieder bannen könnte. Der Mann für die Kraftworte, der Bundeskanzler nämlich, hat sich zwar zur Debatte geäußert, damit allerdings eher Öl ins Feuer gegossen, als dass er die Wogen geglättet hätte. Seine Bemerkung gegenüber den kirchlichen Sonntagszeitungen noch kurz vor der Wahl, dass ein LER-Unterricht den kirchlichen Religionsunterricht nicht ersetzen könne, beruhigte möglicherweise ein konservatives Wählerklientel im nach wie vor volkskirchlichen Westen Deutschlands. Allerdings schienen auch einige LER-LehrerInnen die Kirchenzeitung zu lesen, und die waren über solche Äußerungen des Kanzlers empört.

Jenseits aller dieser Aufgeregtheiten verweist die Kanzleräußerung aber auf ein tiefer liegendes strukturelles Problem des bundesdeutschen Bildungssystems, das sich in den nächsten Jahren immer weiter verschärfen wird. Dieses Problem wird mit der berühmten Formulierung aus einem Aufsatz des Verfassungsrichters Ernst-W. Böckenförde aus den siebziger Jahren charakterisiert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“[2] Für die Bildungspolitik wurde dieser Satz immer so interpretiert, dass der Staat selbst keinen werterziehenden Unterricht anbieten dürfe, der kirchliche Religionsunterricht aber in diese Lücke springen konnte. Für die Wenigen, die am konfessionellen Religionsunterricht nicht teilnahmen, gab es einen Ersatz. Der Säkularisierungstrend höhlte dieses Dogma westdeutscher Religionspädagogik zwar zunehmend aus, jedoch rührte niemand ernstlich daran. Die wenigen Ausnahmen der Regelung zum Religionsunterricht betrafen die Stadtstaaten (Bremer Klausel); West-Berlin mit seiner noch unverbindlicheren Regelung gehörte ohnehin nicht recht zur Bundesrepublik. Dies änderte sich schlagartig mit der Wiedervereinigung. Plötzlich gab es Bundesländer, in denen nur noch etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung einer Konfession angehörten, die überwiegende Mehrheit jedoch konfessionslos war. Die Kirchenpolitik der letzten beiden Diktaturen hatte hier einen Säkularisierungstrend beschleunigt, der dazu führte, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung nicht nur „religiös unmusikalisch“ war wie Jürgen Habermas, Max Weber zitierend, jüngst formulierte, sondern Menschen, die den Klang religiöser Musik überhaupt noch nie vernommen hatten.[3] Die meisten neuen Bundesländer, die nach den ersten Wahlen zu den Länderparlamenten CDU-regiert waren, übernahmen dennoch das westdeutsche Modell mit konfessionellem Religionsunterricht als Regelfach mit einem Ersatzfach.[4] Dass das Ersatzfach erheblich mehr Zulauf als das Regelfach hatte, führte nicht zu einer Korrektur dieses Prinzips.

Es geht demnach gar nicht darum, wie der Bundeskanzler meint, den Religionsunterricht durch Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde zu ersetzen, sondern um die Frage: Was machen wir mit der überwiegenden Mehrheit der Schülerinnen und Schüler in den neuen Bundesländern, die nie einen Religionsunterricht besuchen würden? Überlassen wir sie ihrem Schicksal in Gottesferne, wo Heulen und Zähneklappern ist?

Lediglich Brandenburg, das von einer Ampelkoalition regiert wurde, beging einen Weg, der einen Bezug zur Wirklichkeit im Lande hatte. Dafür einigte sich die Landesregierung mit der evangelischen Kirche auf einen wegweisenden Modellversuch. Ein Lernbereich LER sollte eingerichtet werden. In Differenzierungsphasen sollte die Klasse zum gleichen Thema Religionsunterricht und säkularen LER Unterricht erhalten, um sodann in Integrationsphasen zusammenzukommen und gemeinsam das Erarbeitete zu diskutieren. Und das sollte nur der Anfang einer umfassenden Schulreform sein. Ein solches Vorgehen ist insofern konsequent, als völlig ungeklärt ist, ob der konfessionelle Religionsunterricht überhaupt eine werterziehende Funktion erfüllt. Wertevermittlung ist nur in sehr geringem Umfang überhaupt an kognitive, unterrichtliche Prozesse gebunden, viel eher geht es dort um Formen der sozialen Interaktion, bei denen sich Individuen für die Übernahme von bestimmten Werten entscheiden. Dass der ein- bis zweistündige Religionsunterricht Werte erzeugen könne, die dann den Rechtsstaat stabilisieren, ist wohl ohnehin vor allem eine fromme Zwecklüge der Religionsunterrichtsbefürworter. Wertevermittelnd wirken sich dagegen der Schulalltag und das Schulleben aus. Die Resignation und die Gewalt an den Hauptschulen, der Leistungsdruck an Gymnasien, die erlebte Gemeinschaft bei der Klassenfahrt – diese nicht primär kognitiven Erfahrungen, vermitteln erheblich mehr „Werte“ als es jeder Unterricht je könnte, selbst wenn das Stundendeputat verdoppelt oder verdreifacht würde.

Bekanntlich stieg die Kirche aus dem Modellversuch aus und torpedierte ihn fortan mit allen Mitteln. Im Gegenzug machte die Brandenburgische Bildungspolitik aus LER Zug um Zug ein ganz normales Schulfach. Inzwischen wird hier zensiert, die Zusammenarbeit von kirchlichen und staatlichen Lehrkräften gehört einer fernen Vergangenheit an. Der auch vom Verfassungsgericht berücksichtigte Unterschied zu sonstigen Regelungen, dass beide Fächer auch gleichzeitig besucht werden können müssen, ist aus zwei Gründen vernachlässigbar. Zum einen werden sich kaum SchülerInnen dieser vermeidbaren Doppelbelastung unterziehen. Noch enttäuschender ist jedoch, dass der seit April 2000 veröffentlichte Lehrplanentwurf Kooperationen mit allen möglichen Fächern vorsieht, jedoch nicht mit dem Religionsunterricht.[5] Was als innovatives Experiment auch einer neuen Zusammenarbeit von Kirche und Staat in der Schule begann, endete konventionell. Der Triumph für LER vor dem Verfassungsgericht ist darum nicht mehr der Triumph für die anfänglich angestrebte Form eines neuen Unterrichts, sondern er etabliert LER als Regelfach gegenüber einem Ersatzfach Religion.

Henning Schluß

 

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[1] Drittes Gesetz zur Änderung des Brandenburgischen Schulgesetzes vom 10.Juli 2002.

[2] Böckenförde, E.-W.: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Ders.: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt 1976, S. 42-64, S. 60.

[3] Helmut Zeddies schreibt, dass der von dem berliner Theologen Wolf Krötke eingeführte und weit verbreitete Terminus der „Gottesvergessenheit“ zur Beschreibung ostdeutscher religiöser Befindlichkeit deshalb nicht zutreffend ist, weil man nur etwas vergessen könne, das man immerhin einmal gekannt hat. Die Mehrzahl der ostdeutschen Konfessionslosen ist aber nicht deshalb konfessionslos, weil sie aus der Kirche ausgetreten seien, sondern sie waren niemals Mitglied einer Kirche und sind schon als Konfessionslose geboren worden. (Zeddies, Helmut: Der Weg zum Fremden. Totale Gottesvergessenheit: In Ostdeutschland ist christliche Mission nur als Dialog möglich. In: Zeitzeichen 2/2002, S. 42-44.)

[4] Mit der Ausnahme Sachsen-Anhalt, das beide Fächer gleichberechtigt einführte.

[5] http://www.plib.brandenburg.de/rpentws1/index.htm